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Mittwoch, 22. Februar 2023

Der siebente Zwerg - Ein Märchen von Franz Hessel

 

Ein Fredelsloher Wichtel als der Siebente Zwerg

Der siebente Zwerg

Ich bin der siebente Zwerg.

Dass Schneewittchen bei uns war und wie es ihr erging, das wisst ihr alle. Aber mich kennt ihr nicht.

In meinem Bettchen hat sie geschlafen, nachdem sie die sechs andern versucht und zu klein gefunden hatte. Meines war auch zu klein. Aber sie blieb drin. Und ich lag bei dem sechsten Bruder und konnte nicht schlafen, so viel musst ich hinüberschauen nach dem schönen Menschenkind.

Moosweibchen kannt ich wohl. Sie sind süß-träg, aber allzu anhänglich. Gnomenweibchen auch, die sind geschäftig und munter, aber sie halten nicht still. Den tanzenden Elfen auf feuchter Mondwiese hab ich bisweilen zugesehn. Ihre Schleier sind nicht zu fassen, so dünn, so unbestimmt. Aber dies Menschenkind. . . Wie sie uns Kusshände nachwarf am andern Morgen, als wir zur Arbeit gingen! Ich war der letzte in der Tür. Mein Herz pochte heftig wie ein kleiner Silberhammer.

Unsern Haushalt hat sie reizend geführt. Immer gab es Blumen auf dem Tisch. Aber in den Ecken war nicht gut ausgefegt. Das mussten der sechste und ich nachholen. Ich tat´s gern.

Ihr wisst, wie wir dann Unglück hatten mit dem Schneewittchen. Den Giftkamm der bösen Königin, ich zog ihn selbst aus Schneewittchens Haar, das mich dabei ganz bedeckte.

Den Schnürleib, darin die Hexe sie ersticken wollte, ich löst ihn ihr ab, ich zuerst von allen sieben entdeckte die zwängenden Schnüre.

Dann aber kam das mit dem vergifteten Apfel. Da war nicht zu helfen. Da war sie so gut wie tot. Und wir bauten den gläsernen Sarg. Als wir sie darin über Land trugen, da kam dieser Ausbund von Schönheit, der Königssohn: hellblaue Federn am Hut, glattes Wams, Puffärmel, pralle Trikots, überall prall.

Die Brüder schenkten dem Verliebten gern den Sarg, mit Schneewittchen, weil er so sehr darum bat. Mir war´s recht.

Ich lief hinter den Sargträgern her. Sie schritten schnell mit ihren langen Menschenbeinen. Ich musste hüpfen.

Ich wollt aber um alles noch einmal Schneewittchens Gesicht sehn. Geschwind, geschwind sprang ich durch die hohen Gräser und über die dicken Baumwurzeln mit meiner kleinen Laterne.

Als ich die Langbeinigen endlich überholt hatte und vor ihren Füßen vorbeisprang, um von vorn hineinzuleuchten in das gläserne Grab, da erschrak der nächste der Träger und stolperte. Die anderen bekamen den Ruck ab. Der Sarg schaukelte auf ihren Schultern. Sie setzten ihn ab. Sie sehn hinein. Ich seh durch ihre Beine hindurch auch hinein. Der Deckel geht auf. Schneewittchen lebt, hat das Stück Apfelgrütz in der Hand, das ihr aus dem Munde gefahren ist. Sie sagt ihr „Wo bin ich?“. Der schöne Königssohn sagt sein „Bei mir!“. Sie sinkt in seine Arme. Er hebt sie auf sein Roß.

Ich aber blieb stehn und hatte das Nachsehn. Und dass sie auch diesmal mir das Leben verdankte und ihren schönen Prinzen dazu, das weiß Schneewittchen bis auf den heutigen Tag nicht. Auch nicht, wie sehr ich sie geliebt habe.

Die sieben Zwerge, an die denkt sie wohl manchmal, wenn die Kinder singen: Hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen. - Aber mich, den einen, den siebenten, den hat sie gewiss längst vergessen.

Franz Hessel, aus: Teigwaren leicht gefärbt. E. Rowohlt Verlag, Berlin 1926

Franz Hessel, geboren am 21. November 1880 in Stettin; gestorben am 6. Januar 1941 in Sanary-sur-Mer) war Schriftsteller, Übersetzer und Lektor. Über Karl Wolfskehl erhielt er Anschluss an den Kreis um Stefan George und lernte Fanny Gräfin zu Reventlow kennen. Mit der „Königin von Schwabing“ und ihrem Gefährten, Baron Bohdan von Suchocki, lebte er von 1903 bis 1906 in einer Wohngemeinschaft.

Bekannt wurde er vor allem als Lyriker, Romancier und Prosaiker. Hessel blieb trotz Berufsverbots bis 1938 im nationalsozialistischen Deutschland weiterhin als Lektor im Rowohlt Verlag tätig. Das Schreiben musste er einstellen, jedoch übersetzte er Jules Romains. Schließlich folgte er dem Rat seiner Frau und seiner Freunde und emigrierte widerstrebend kurz vor dem Novemberpogrom 1938 nach Paris. Den Vormarsch der deutschen Besatzer fürchtend, übersiedelten Hessel und seine Familie in das südfranzösische Exilzentrum Sanary-sur-Mer. Schon bald darauf wurde er auf Veranlassung des französischen Innenministers Georges Mandel gemeinsam mit seinem älteren Sohn Ulrich und vielen anderen Emigranten wie beispielsweise Lion Feuchtwanger in dem Lager Les Milles bei Aix-en-Provence interniert. Der 60-jährige Hessel erlitt während des zweimonatigen Aufenthalts im Lager einen Schlaganfall und starb 1941 kurz nach seiner Entlassung an den Folgen der Lagerhaft in Sanary-sur-Mer.

Franziska zu Reventlow 1905
Zu dem Märchen Der siebente Zwerg schreibt Adelheid Schmidt-Thomé im Literatur Portal Bayern: „Ab November (1903) leben Franz Hessel, Franziska zu Reventlow und Rolf (ihrem sechs Jahre alten Sohn) sowie Bohdan von Suchocki zusammen in der Kaulbachstraße 63a (In München). Hessel soll für die finanzielle Seite zuständig sein. Warum er, der neun Jahre Jüngere, sich darauf eingelassen hat, wird nicht klar. Ist er verliebt? Hessels Erzählung Der siebente Zwerg von 1926 lässt sich in diesem Sinn deuten: Da sorgt der kleinste der Zwerge für den Haushalt, betet Schneewittchen an und rettet sie vor dem Grab. „[...] wie sehr ich sie geliebt habe“, das weiß sie nicht.“ Eine Deutung, die ich nicht unerwähnt lassen möchte. Hier kommt das Tragische zum tragen. . .


Auf meinem Blog Dingefinders Lesebuch gibt es einige Gedichte von Franz Hessel. Hier ist der link dazu: Gedichte Franz Hessel

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