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Montag, 30. Januar 2023

Jack Karouac: Blues and Haikus

 

             


Jack Karouac: Blues and Haikus

Haiku ist eine traditionelle japanische Gedichtform, die mittlerweile weltweit verbreitet ist. Japanische Haiku bestehen aus drei Wortgruppen von 5 – 7 – 5 Silben. Unverzichtbarer Bestandteil von Haiku sind Konkretheit und der Bezug auf die Gegenwart. Vor allem traditionelle Haiku geben eine Jahreszeit an. Als Wesensmerkmal gelten auch die nicht abgeschlossenen, offenen Texte, die sich erst im Erleben des Lesers vervollständigen. Im Text wird nicht alles gesagt, Gefühle werden nur selten benannt. Sie sollen sich erst durch die aufgeführten konkreten Dinge und den Zusammenhang erschließen. Soweit und in aller Kürze (es ließe sich so viel mehr darüber schreiben) über den oder das Haiku.

Der amerikanische Schriftsteller Jack Karouac (1922 - 1969), bekannt vor allem durch seinen Roman On the road, und einer der wichtigsten Vertreter der Beat Generation, hat neben anderem auch Haikus geschrieben. Erhalten geblieben ist ein Tondokument auf Schallplatte, Blues and Haikus, von 1959, auf dem Jack Karouac 34 seiner Haiku vorträgt, jeweils gefolgt von einem kurzen Saxophonsolo von Zoot Sims oder Al Cohn. Ein faszinierendes Zeitdokument, das die Intentionen der Beat-Dichterinnen und -Dichter wieder auferstehen lässt.

Ich habe es mir nun erlaubt, diese 34 Haiku nachzudichten. Nicht zu übersetzen, nein, denn ich glaube, dass Lyrik dieser Art, die aus dem Augenblick entstanden ist, nicht zu übersetzen ist. Daher nenne ich meine Eindeutschungen Nachdichtungen.

Anders als Kerouac, der seine Haiku als Kurzgedichte schrieb, als Schnappschüsse aus Worten, habe ich bei meinen Nachdichtungen die Wortgruppenzählung von 5-7-5 Silben benutzt. Eine reizvolle Aufgabe. Hier also sind sie, 34 Haiku, amerikanisches Englisch und Deutsch:

Haiku 1

In my medicine cabinet
The winter fly
Has died of old age

Dort, mein Arzneischrank,
darin die Winterfliege,
schon alt, sie verstarb.

Haiku 2

Well here I am 2 PM
What day is it

Nun, hier bin ich.
Es ist vierzehn Uhr. Jedoch:
welcher Tag ist es?

Haiku 3

The tree looks like a dog
Barking at heaven

Einem Hunde gleich
dort der Baum, so sehr gleich, hör
Bellen am Himmel

Haiku 4

Prayer beads on the holy book
My knees are cold

Gebetsperlen auf
dem heiligen Buch, spür es:
Meine Knie sind kalt

Haiku 5

In the morning frost,
The cats step slowly

Im Frost des Morgens,
Die Katzen, so behutsam,
sie treten leis auf

Haiku 6

No telegram today,
Only more leaves fell

Kein Telegramm heut,
keinerlei Nachricht, fielen
nur mehr Blätter heut

Haiku 7

Castles of the Gandharvas
Is full of aging young couples

Die Wohnstätten der
Gandharvas: Paare nun dort,
so jung geblieben

Haiku 8

Early morning, yellow flowers
Thinking about the drunkards of Mexico

Am frühen Morgen,
gelbe Blüten gedenken
der Trinker Mexikos

Haiku 9

The national scene
Late afternoon sun in those trees

Szene, national:
Späte Nachmittagssonne
in diesen Bäumen

Haiku 10

Nightfall
Boy smashing dandelions with a stick

Dämmerung, ein Bub
zerschlägt die Pusteblumen
mit einer Gerte

Haiku 11

Holding up my purring cat to the moon,
I sighеd

Meine Katze schnurrt
zum Monde hochgehalten,
Ich seufzte leise

Haiku 12

August moon
Oh! I got a boil on my thigh

Du Mond im August,
Oh! Es wuchs eine Beule
auf meinem Schenkel

Haiku 13

Drunk as a hoot-owl
Writing letters by thunderstorm

Trunken wie eine
Eule schreibe ich Briefe
im Gewittersturm

Haiku 14

All-day long
Wеaring a hat
That wasn't on my head

All die Tage lang
trug ich diesen Hut, der nicht
auf meinem Kopf war

Haiku 15

Beautiful young girls
Running up the library steps
With shorts on

Jung und schön sind
die Frauen, in Shorts hinauf
zur Bibliothek

Haiku 16

Crossing the football field
Coming home from work
The lonely businessman

Einsamer Kaufmann,
nach der Arbeit nach Haus
quert er den Bolzplatz

Haiku 17

Useless, useless
Heavy rain
Driving into the sea

Sinnlos, so sinnlos,
Sturzbach des Regens, eilends
auf Fahrt in das Meer

Haiku 18

After the shower
Among the drenched roses
The bird
Thrashing in the bath

Nach dem Sturzbach die
durchnässten Rosen laden
den Vogel zum Bad

Haiku 19

The little worm
Lowers itself from the roof
By a self-shat thread

Am eignen Faden
spinnt sich die kleine Made
hinab vom Dache

Haiku 20

Snap your finger!
Stop the world!
Rain falls harder

Ein Fingerschnippen!
Zeit, die Welt anzuhalten!
Regen fällt härter

Haiku 21

Nightfall
Too dark to read the page,
Too cold

Dämmerung, es ist
zu dunkel, diese Seite
zu lesen, zu kalt

Haiku 22

In my medicine cabinet
The winter fly
Has died of old age

Im Medizinschrank
die Winterfliege, heute
starb sie altersschwach

Haiku 23

Following each other,
My cats stop
When it thunders

Nach und nach inne-
haltend meine Katzen, sind
vom Donner berührt

Heiku 24

Spring evening
The two eighteen-year-old sisters

Abend im Frühling,
achtzehn Jahre alt, beide
Schwestern, noch so jung

Haiku 25

The postman is late
The toilet window is shining

Spät heut der Postmann,
das Fenster im Bad glänzt schon
im Lichte des Tags

Haiku 26

Wash, hung out by moonlight
Friday night in May

Zum Trocknen gehängt
die Wäsche in das Mondlicht,
Freitag Nacht im Mai

Haiku 27

Empty baseball field
A robin
Hops along the bench

Entlang der Bänke
am leeren Baseballfelde
spielt das Rotkelchen

Haiku 28

Blackbird
No!
Bluebird
Branch, still jumping

Schwarzdrossel, nein, nein!
Blauvogel, Hüttensänger
springt durch das Gezweig

Haiku 29

My rumpled couch
The ladies voice next door

Das Bett ungemacht,
ich lausche der Stimme der
Frau von nebenan

Haiku 30

The bottoms of my shoes
Are clean
From walking in the rain

Meiner Schuhe Sohlen,
sie sind gesäubert durch das
Gehen im Regen

Haiku 31

Bee
Why you staring at me
I'm not a flower?

Was schaust du mich an,
kleine Biene? Ich bin doch
keine Blüte, nein!

Haiku 32

The barn
Swimming in a sea of
Windblown leaves

Die Scheune verschwimmt
in einem Meer von Blättern,
windverweht treibend

Heiku 33

Glowworm
Sleeping on this flower
Your light's on!

Glühwürmchen, sie
schlafen auf dieser Blume.
Leuchtend ihr Licht!!

Heiku 34

Spring night
A leaf
Falling from my chimney

Diese Frühlingsnacht
segelte fallend ein Blatt
von meinem Schornstein

Paul Geneson: Kerouac redet viel über die Idee der Spontaneität: über „spontanes Zurechtkommen“, über die „spontane Begegnung mir dem Unbewussten“. Empfindest du auch so, wenn du dichtest?

Gary Snyder: Das ist nur ein Teil davon. Spontaneität ist schön, und Jacks Haikus gehören in Mexico City Blues gehören zu den schönsten Gedichten in englischer Sprache.

Aus einem Interview mit Gary Snyder von Paul Geneson, Sommer 1976, für die Ohio Review, aus: Gary Snyder, Landschaften des Bewusstseins, Gespräche und Reden, aus dem Amerikanischen von Christine Kapfer, Trickster Verlag, München 1984

Samstag, 28. Januar 2023

Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche: Zuckererbsen für jedermann



Diesen Artikel schrieb ich für meinen Dingefinder-Blog im Januar 2016. Ich finde, er hat nichts an Aktualität verloren. Leider.

Zuckererbsen für jedermann

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!

Das schrieb Heinrich Heine 1844 in seinem Gedicht „Das alte und das neue Lied“, veröffentlicht in „Deutschland, ein Wintermärchen“.

Nun ist es Winter, vierter Januar, im Deutschen Wintermärchen 2016 erfüllt sich endlich der Wunsch nach Zuckerschoten, nicht nur für alle, sondern auch jederzeit. Das neue Paradies auf Erden heißt Supermarkt, und sobald man dort eintritt, sind Landesgrenzen und Jahreszeiten auf einem Schlag vergessen. Die bunten Früchte liegen dort: Mango, Ananas, Papaya, Sharon, Kaktusfeigen usw. aus aller Herren Länder, Litschi aus Madagaskar, Erdbeeren aus Ägypten oder eben Zuckerschoten („Kaiserschoten“) aus - Äthiopien. Ja, guter Heinrich, endlich ward dein Traum war, zwar ist das Zeug frisch recht teuer, es kommt ja von weit her, doch was nicht subito verkauft wird, wird dann nach unten an die Tafeln weitergereicht, also doch: Alles für jedermann.

Äthiopien gilt als eines der ärmsten Länder der Welt: Von jeweils 100 Menschen müssen 31 - also ungefähr jeder 3. Äthiopier - mit weniger als 1 Euro am Tag auskommen. Zahlen: Vereinte Nationen 2007-2011. Der SPIEGEL schrieb 2005 über dieses Land: Die ständige Verfügbarkeit von Almosen macht im ärmsten Land der Welt alle Initiativen platt. Ein gut geölter Samariterapparat trainiert den Äthiopiern die Fähigkeit ab, sich selbst zu ernähren. Ein Land am Tropf der Welthungerhilfe.

Das wiederum weiß das Internetportal „Germany Trade & Invest“ (Gefördert durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) am 12. 3. 2015 über Äthiopien zu berichten: „Die Landwirtschaft ist die wichtigste Einkommensquelle für die etwa 85% der Bevölkerung, die auf dem Land leben. Ihre Zahl wächst jährlich um etwa 2,4% bzw. 1,5 Mio. Menschen und damit deutlich schneller als die Migration in die städtischen Ballungsräume (Quelle: Weltbank). Die äthiopische Landwirtschaftserzeugung ist bislang nahezu ausschließlich auf günstige Niederschläge angewiesen und wird von Subsistenz- und Kleinfarmern dominiert. Letztere sind trotz ihrer geringen Größe die Hauptquelle der gehandelten und exportierten Agrarerzeugnisse.“

Und: „Anspruch und Wirklichkeit liegen noch weit auseinander - Nach den Vorstellungen der Regierung wird sich das allerdings sehr schnell ändern: Ausländische Investoren sollen in großem Stil und auf riesigen Ländereinen - von der Regierung zu einem Spottpreis geleast - Nahrungsmittel für den Export anbauen. Nach den Planvorgaben sollen 3,3 Mio. Hektar Land urbar gemacht und schon 2015 rund 6,6 Mrd. US$ mit dem Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen verdient werden. Solche Vorgaben entbehren zwar jeglicher Realität, das Potenzial ist aber grundsätzlich da und das Konzept zielt durchaus in die richtige Richtung.“

Am 23. 4. 2015 berichtete die ZEIT: 90 Prozent der Flüchtlinge kämen aus Nigeria, Äthiopien und Somalia – "Orten, wo sie um ihr Leben fürchten. Wir können sie nicht abhalten", ihre Heimat zu verlassen, sagte die Ministerin. (Roberta Pinotti, Italiens Verteidigungsministerin).

Es werden für unser Paradies Früchte eingeflogen, die aus einem Land stammen, in dem die Welthungerhilfe aktiv ist, und aus dem Menschen aufgrund der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation flüchten, sofern sie die Mittel dazu haben. Angesichts dieser Tatsachen versagt mir die Sprache. Nur manchmal blitzt etwas wie verzweifelter Zynismus in mir auf, und ich denke, „Nun gut, wenn die äthiopischen Zuckerschoten endlich kurz vor dem Verfallsdatum nach unten von den Tafeln durchgereicht worden sind, dann können sich die äthiopischen Flüchtlinge an Früchten ihrer Heimat erfreuen.“

Ob das Heinrich Heine mit „Zuckerschoten für jedermann“ gemeint hat? Vielleicht sollten wir alle zusammen an einem neuen, einem besseren Lied dichten:

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben,

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

Freitag, 27. Januar 2023

Ein Lebwohlsang von weißen Wolken - Nachdichtungen chinesischer Lyrik

 


Am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts gab es unter den deutschen Literaten eine Chinabegeisterung, die sich bis in die dreißiger Jahre fortsetzen sollte. Nicht nur Theosophen oder die Aussteiger rund um den Monte Verita in Ascona fanden im Tao Te King Weisheit, auch viele Schriftsteller orientierten sich an chinesischen Dichtern wie Li Tai Pe. Hermann Hesse war ein Verehrer dieses Dichters, und Klabund, Franz Blei, Hans Schiebelhuth, Albert Ehrenstein und viele andere widmeten sich Nachdichtungen chinesischer Lyrik.


Gedichte nach den unsterblichen des Li-Tai-Po


Ein Lebwohlsang von weißen Wolken

Die weißen Wolken ziehen über Berge der Ferne,
So wie über die Berge der Nähe hin.
Überallhin werden die weißen Wolken dir folgen.

Sie werden dir folgen überallhin –
Mit dir gehn, wenn du in Berge der Ferne gehst,
Übersetzen mit dir über Wasser des großen Stroms.

Drüben über Wassern des großen Stroms,
Da ist dir ein Mantel von Efeu zu tragen,
Und du darfst liegen in einem Bett aus weißem Gewölk.

Gehe schnell heim, o mein Freund!


Abschied von einem Freund

Blauberge steigen auf jenseits der Nordmauer.
Den Ostteil der Stadt entlang fließt das weiße Wasser.
Hier scheiden wir, Freund, ein für alle mal.
Du reisest nun zehntausend Meilen, du treibst davon
Wie ein entwurzelt Wassergras.

O die ziehenden Wolken und die Gedanken des Wandrers!
O der Sonnenuntergang und die Sehnsucht des alten Freunds!
Wir reiten hinweg voneinander, winken uns mit der Hand,
Derweil unsre Pferde wiehern, leis, leis ...


Himmelslandtraum, ein Lebewohlsang

Die Seefahrer erzählen von der östlichen Seligkeitsinsel.
Verloren sei sie in einer Wildnis nebelhaften Gewogs.

Aber das Süd-Himmelsland, wie die Leute gen Mittag sagen,
Soll sichtbar sein durch schimmernder Wolken Bereich.

Dies Himmelsland, quer sich erstreckend durch die Meilen der Ewigkeit,
Es hebt sich über das Fünfgebirg und türmt sich über dem Scharlachschloß,
Während der Tafelberg, so als staunte er davor auf,
Mit seinen 40 und 8 Tausend-Fuß Höhe sich gegen Südosten dehnt.

Ich also, Verlangens zu träumen von den Südländern am Meer,
Flog über den Spiegelsee eines Nachts unterm Mond.

Der Mond im See befolgte mir meinen Flug,
Folgte mir nach bis an die berühmte Stadt,
Wo noch das Haus steht des Dichterprinzen.
Ich sah die grünen Wasser sich kräuseln und hörte der Affen schrilles Geschrei!
Ich klomm, des Prinzen Holzschuhe angetan,
Himmelwärts auf einer Leiter Wolken –
Und halbwegs oben vom Wall des Weltgewölbs sah ich die Morgensonne
Und hörte den Himmelshahn krähen in der heiteren Luft.
Dann wand zwischen tausend Abgründen mein Weg sich [immer rundherum].
Blumen erstickten den Pfad. Ohnmächtig sank ich hin.

Brüllende Bären und heulende Drachen jagten mich auf. O die lärmenden Wasser der Strudel!
Mit Zittern stand ich im tiefen Forst. Ich schauderte vor den überhängenden Klippen, eine auf die andre getürmt.
Wolken auf Wolken sammelten sich zu Häupten, Regen drohend.
Das Wasser ergoß sich zu Füßen, im Nebel zerstäubend.

Ein Donnerschlag dröhnte.
Die Berge zerbröckelten,
Das Steintor ins Himmelsinnere tat weit sich auf, offenbarte
Ein ungeheures Reich von unergründlichem Azur,
Sonne und Mond alle beide scheinen auf goldne und silberne Schlösser.

In Regenbogen berieselt und reitend auf dem Wind
Steigen die Luftfeen herab wie Blumenflocken.
Die männlichen Geister der Luft kamen zuletzt, dick waren sie wie Hanfstengel.

Phönixvögel zogen ihre [Kreise], und Panther schlugen Harfen.
Entsetzen erfüllte mich und Schrecken ergriff mein Herz.
Bestürzt hob ich mich auf, und ach! ...
Ich erwachte und fand mein Bett und Kissen.
Vorbei war die glänzende Traumwehwelt.

So ist's im Leben mit allem, was uns erfreut.
Alle Dinge gehn vorüber mit den ostwärts fließenden Wassern.
Ich verlaß dich und geh – wann werde ich wiederkommen?
Laß du das weiße Reh weiden unter den Waldsteinen.
Laß mich reisen, daß ich das liebliche Gebirge besuche.
Wie könnt ich unterwürfig mich beugen und den Machthabern dienen.
Es erwürgt mir die Seele.


Besuchsgang zu einem taoistischen Bergklausner, der nicht zu Hause war

Ein Hund bellt auf von fern, wo leis die Wasser rauschen.
Die Pfirsichblüte steht festlich, vom Regen genetzt.
Das Gehölz ist so dicht, daß man zuweilen einem Hirsch begegnen kann.
Aber die Mittagsglocke kann man nicht hören in dieser einsamen Schlucht.
Die wilden Bambus wehn im blauen Dunst.
Am begrünten Felshang funkeln fliegende Wasserfälle.
Wes Weges ist er gegangen? Nichts ist, das es mir sagen könnte.
An eine Kiefer lehn ich mich traurig hier und da.

Bei der Zelle eines abwesenden Priesters
in den Bergen

Durch einen Steinwall geh ich ins Rottal hinein.
Das Fichtentor ist umdrängt von grünem Moos.
Zwar sind Zeichen von Vögeln auf den verlaßnen Steigen,
Doch keines bedeutet mich, in die Priesterklause einzudringen.
Ich guck durchs Fenster und seh an der Wand
Den weißen Besen hängen, ganz verstaubt.
Ich seufze der Enttäuschung gar vergeblich Seufzen.
Ich werde gehen, doch versonnen trondle ich herum.
Süßduftige Wolken wehn den Bergzug lang,
Ein Blumenregen fällt vom Himmel nieder.
Hier kann ich die Glücksal der Einsamkeit fühlen
Und das Klagen der Blauaffen hören.
O, welch eine Stille herrscht über diesem Grunde,
Welche Abgeschiedenheit von allen Dingen der Welt!


Die Nachdichtungen der Gedichte von Li-Tai-Po sind von dem Dichter Hans Schiebelhuth. (geboren am 11. Oktober 1895 in Darmstadt; gestorben am 14. Januar 1944 in East Hampton, New York, USA). Sie entstammen genauso wie die Eingangsgrafik dem Buch Gedichte nach den unsterblichen des Li-Tai-Po


Dienstag, 24. Januar 2023

Elisabeth Dauthendey: Die Harfe des Spielmanns

 


Die Harfe des Spielmanns

Die Sonne brannte heiß auf das kleine Dorf. Die Leute standen gebückt im Felde und arbeiteten hart. Sie dachten nur an ihre Arbeit und ob das Futter für die Kuh reichlich genug sein würde und die Kartoffeln nicht wieder schlecht und wässerig geraten würden wie im vorigen Jahr, denn sie waren so arm, daß sie nichts andres denken konnten.

Der Himmel war wundervoll blau, und zarte, weiße Wolken schwebten langsam hoch über ihm dahin, und wenn man lange hinaufblickte, sahen sie aus wie lauter süße lachende Engelsköpfchen. Ein leiser Wind spielte mit den reifen Ährenfeldern, daß es aussah wie ein goldenes Meer, auf dem kleine Wellen leise hin und her schaukelten. Die Schwalben schossen wie silberne Strahlen durch die Luft. Am Rande des Feldes standen die Bäume schwer mit Früchten beladen. In dem Graben zwischen dem Feld und der Straße war es bunt von blühenden Blumen, und die Schmetterlinge schwirrten durch den süßen Duft, der von den Blumen herkam. Von der Mühle hörte man das fröhliche Rauschen des Baches, und wenn der Wind etwas schneller daherkam, brachte er den köstlichen Geruch von Reseden und Levkojen aus den kleinen Hausgärtchen des Dorfes mit, und dieser Duft war wie ein süßer glücklicher Traum für den, der eine Seele hatte, ihn zu fühlen.

Aber die Leute auf dem Felde hatten vor lauter Sorgen um das tägliche Brot vergessen, daß sie eine Seele hatten, und so war sie fast ganz eingeschlafen.

Am Wege aber zwischen Dorf und Feld lag ein Knabe im Grase. Der hatte eine weitwache Seele, die atmete den Duft der Blumen, fühlte die sanfte Bläue des Himmels, und im Spiele des Windes hörte sie eine feine süße Musik. Der Knabe sah auf die arbeitenden Leute und wunderte sich, daß sie sich immer zur Erde bückten, und wenn sie einmal einen Augenblick innehielten, wischten sie sich nur schnell mit der Hand den Schweiß von der Stirne und sahen nicht einmal zu dem tiefen blauen Himmel auf, an dem die Schwalben mit ihrem blitzenden Gefieder wie silberne Pfeile vorüberschossen.

Er lag auf dem Rücken und schaute mit großen Augen mitten in den blauen Himmel hinein. Ach, diese sanfte, weiche, unergründliche tiefe Bläue war allein schon etwas ganz Wundervolles. Wie wechselnde Träume zogen die Wolken darüber hin, jede anders und neu. Wie stolze Schwäne kamen einige dahergezogen, langsam und feierlich, andre flogen wie zerrissene Stücke eines feinen Schleiers vorüber, und wieder andre kamen wie geheimnisvoll verpackte Julklapp dahergeschwommen, aus denen dann allmählich wunderliche Gestalten herauswuchsen, Riesen mit langen Bärten und silbernen Hörnern, zarte Elfenköniginnen mit flatternden Locken, komische Tiere und Landschaften mit hohen Bergen und ganze Herden von rosigweißen Lämmern. Alles zog und schwebte vorüber und veränderte sich fortwährend und zerfloß wieder in das große sanfte Blau. Und des Knaben Gedanken zogen mit und schwebten hoch über der Erde und veränderten sich mit jeder Gestalt und zerflossen zuletzt in ein unaussprechliches Glücksgefühl. Immer und immer hätte er so liegen mögen und hinaufschauen in diese Herrlichkeit. Einer jener hohen Waldbäume drüben hätte er sein mögen, die so jahraus, jahrein fest im Boden standen und sich nicht zu rühren brauchten und immer höher hineinwuchsen in das blaue Wunderland da oben.

Aber plötzlich freute er sich doch, daß er nicht angewachsen war wie ein Baum, sondern aufspringen und dem Sonderbaren entgegengehen konnte, das da auf der Landstraße langsam daherkam.

Von weitem sah es aus wie eine hohe graue Säule. Als es näher kam, hatte es einen langen weißen Bart und war ein schöner alter Mann in einem langen grauen Mantel, der etwas Geheimnisvolles an einem Bande auf der Schulter trug, das in ein graues Tuch eingehüllt war.

Der Knabe ging im Graben an der Landstraße entlang, auf welcher diese ehrwürdige Gestalt mit feierlichen Schritten daherkam. Der Abendwind spielte mit dem weiten Mantel des Mannes und mit seinem langen Barte. Das hohe kahle Haupt hatte einen rosigen Schein von den goldenen Abendwolken. Dem Knaben dünkte, er sähe einen Strahlenkranz darum, wie die Heiligen ihn auf den Bildern in der Kirche hatten. Und je näher der Mann kam, desto weiter und ehrfürchtiger wurde des Knaben Herz. In die Eintönigkeit seiner Welt trat da etwas ganz Neues und Fremdes, das aus unermeßlicher Ferne zu kommen schien. Er fand keinen Namen für diese seltsame Erscheinung, und seine kleine unwissende Seele suchte einen Platz, wo er sie hinstellen könne. Und plötzlich fiel ihm die seltsame Melodie jener fremden Namen ein, die er in der Schule von den ältern Knaben so oft gehört hatte.
Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Daniel, Jonas, Micha, Amos, Obadja, Habakuk, Zephanja. – Habakuk, das war der Sonderbarste von allen, so etwas Großes, Ernstes, Uraltes, von ganz weit Herkommendes, so etwas fühlte er, wenn er Habakuk sagte. Und da der Alte nun oben am Rande des Weges gerade über ihm war, rief er mit zitternder Stimme: »Bist du Habakuk?«

Der Alte hielt seinen Schritt an und sah sich nach der Stimme um. Als er den kleinen Knaben im Graben gewahr wurde, ging ein so sanftes gütiges Lächeln über sein altes Gesicht, daß es wie Sonnenschein war. Er reichte dem Knaben seine gute, weiche Hand hin und zog ihn hinauf an seine Seite.

»Bist du Habakuk?« fragte der Knabe wieder, und da er nicht gleich eine Antwort erhielt, fügte er hinzu: »Oder Zephanja – aber Habakuk ist schöner.«
Die Seele des Alten erriet sofort, was in der Seele des Kindes vorging. Er legte seine Hand sanft und milde auf seine schwarzen Locken und sagte: »Ganz so weit aus der Ewigkeit, wo die großen Propheten leuchten, bin ich nicht, aber denke einmal an den König David mit der Harfe, den fühlst du doch viel näher an deinem Herzen, und ich bin einer seiner Brüder. – Und wer bist du, mein liebes Kind?«
»Ich bin Gottlieb, der Sohn der armen Witwe, und meine Mutter ist krank.«
»Gottlieb ist ein schöner Name, und du mußt die Freude deiner Mutter sein. – Willst du mich nun ins Dorf führen? Habt ihr irgendwo einen schönen Lindenbaum, in dessen Schatten es wie Honig duftet und wo es sich gut träumen und singen läßt – dort will ich euch zum Feierabend meine Harfe tönen lassen.«

»Ist das deine Harfe?« fragte der Knabe und rührte mit leisem scheuem Finger an das Geheimnisvolle, das der alte Mann auf seiner Schulter trug.

»Ja, das ist meine Harfe, sie bringt Freude in das Herz der Menschen. Komm, führe mich.«
Ernst und schweigsam ging der Knabe neben dem Fremden her. Und ihm selbst wurde plötzlich seltsam fremd zumute, als käme auch er ganz weit her und führe an seiner Hand ein wundervolles Glück zu einem ganz fremden Ort.

Der Spielmann setzte sich unter die duftende Linde und wischte sich den Wanderstaub von der Stirn. Dann nahm er einen goldenen Becher aus der Tasche seines Mantels und bat den Knaben, ihm einen Trunk frischen Wassers zu holen. Mit zitternden Händen brachte er ihm das klare Wasser, das im Abendsonnenschein wie feuriger Wein im goldenen Pokale funkelte.

Mit zärtlichen Händen, wie eine Mutter ihr Kindlein aus seinen Hüllen nimmt, nahm der Spielmann seine Harfe aus dem Tuche hervor. Er glitt mit der Hand über die goldenen und silbernen Saiten, und seine Töne wie rieselnde Bachwellen schwebten in die Luft. Dann spielte er eine sanfte süße Weise, daß es einem war, als sähe man bunte Blumen in der blauen Luft und tanzende Schmetterlinge.

Feierabend hatte es noch nicht geläutet. Aber als diese Töne zum Felde hindrangen, legten die Leute dort ihr Arbeitsgerät aus den Händen, lauschten verwundert nach der Linde hin, und einer nach dem andern wischte sich den Arbeitsschweiß von der Stirn und trat langsam wie im Traum immer näher zur lockenden Stimme der Harfe.

Der Knabe sah mit Erstaunen, wie sich die ernsten, harten Gesichter der Leute veränderten, je länger sie dem Spielmann lauschten. Es war, als wache leise etwas Schönes in ihnen auf. Die Augen wurden groß, und ein warmes Licht leuchtete darin auf, die festgeschlossenen Lippen öffneten sich, und plötzlich sahen alle wie frohe Kinder aus. Und als der Spielmann eine Pause machte, traten sie zueinander und sahen sich in die Augen. Die Alten hatten einen merkwürdigen Glanz darin, als ob eine Träne herausgekommen wäre aus ihrer Seele. Die Jungen lächelten. Und dann sahen sie alle plötzlich, wie schön die Welt war.
»Sieh nur wie die Sonne leuchtet heute abend,« sagte eine; »wie lauter Gold ist der Himmel,« sagte eine andre.
»Riechst du den Duft von der Wiese?«

»Die Wolken glühen wie Feuer,« so sprachen sie mit leisen glücklichen Stimmen zueinander.
Der Knabe blickte verwundert auf diese Menschen, die er immer nur stumm und ernst bei ihrer schweren Arbeit sah. Dann fing der Spielmann zu singen an:

Städte liegen im Abendschein,
Nebel hüllen die Berge ein.
Alle Arbeit ist nun getan,
Flügel wachsen der Seele an,
heimwärts trägt Sehnsucht sie himmelan.
Träume, Seele, von Schönheit und Glück,
Kehrst dann verjüngt zur Erde zurück.

Die Leute hockten sich ins Gras und schauten andächtig wie in der Kirche zum Himmel auf, und zwischen dem jungen Volke flatterten seltsame Blicke hin und her, wie junge scheue Vögel, die zum erstenmal aus dem Neste fliegen.

Als der Spielmann geendet hatte, sahen alle Augen zu ihm hin, und ohne daß die Leute ein Wort sagten, baten ihre Augen so laut um noch mehr, daß der Alte ein neues Lied begann:

Der König und die Königin
Sitzen mit mildem, frohem Sinn
Am Fenster im Schloß
Sie hält auf ihrem Schoß
Das junge, lachende Prinzelein,
Er setzt ihm auf die Locken fein
Ein kleines, güldenes Krönelein.
So schauen sie selig zum Fenster hinaus –
Und das Volk schaut fromm zu dem glücklichen Haus.

Oh, dachte der Knabe, so durch die Welt ziehen mit der Harfe und überall die Menschen so froh und schön machen, das muß köstlich sein, wenn doch nur Mira da wäre, ihre blauen Augen müßten herrlich aussehen, wenn sie dieses hörte; aber sie wohnte weit weg im Dorfe mit ihrem Vater und mußte die kleinen Geschwister hüten, denn ihre Mutter war tot.
Und ein Lied nach dem andern sang und spielte der Alte auf seiner tönenden Harfe, bis es Abend wurde und einer nach dem andern aufstand, um heimzugehen. Aber zuvor trat ein jeder zu dem Alten hin und reichte ihm stumm die Hand, und es war, als wollten sich die dankbaren Hände gar nicht loslösen von der guten Hand des Alten, die ihnen eine so schöne, schöne Stunde gegeben hatte. Ein junges Mädchen brachte ihm schüchtern einen Strauß, den sie eben gepflückt hatte, und der Wirt der Schenke reichte ihm ein Glas seines besten Weines und ein Stück frischen goldbraunen Brotes.

Der Alte dankte und labte sich.
Da fiel dem Knaben plötzlich ein, daß er zu seiner kranken Mutter heim müsse, ihr das kärgliche Mahl zu bereiten; er erschrak, daß er sie vergessen hatte. Du mußt deiner Mutter Freude sein, hatte der Alte gesagt, und da er sich seiner Vergeßlichkeit schämte, hatte er nicht den Mut, wie die andern zu ihm zu gehen, und er schlich sich leise zur Seite, aber seine Augen konnten sich kaum trennen von dem Gesichte des Alten, von dem ein stiller Glanz und Frieden leuchtete.

Dann lief er eilig heim zu seinem Mütterchen. Und mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen erzählte er ihm von der Herrlichkeit, die er erlebt.

Die gute kranke Mutter sagte nicht, daß sie ihn schon eine ganze Stünde lang erwartet hatte, sie freute sich an seiner Freude und strich mit liebevoller Hand über seine heißen Wangen.
Die ganze Nacht konnte Gottlieb kein Auge zutun. Immerfort fühlte er die Töne der Harfe in seinem Herzen, und das Bild des greisen Spielmanns stand vor seinen Augen. Ach, so spielen zu können! So alle Menschen froh und glücklich zu machen, zu sehen, wie ihre Augen leuchteten, und plötzlich alles Schöne sehen, das in den Menschen war, und wenn sie nicht schön und gut waren, tat es ihm weh.

Aber er war noch zu jung, um zu wissen, daß seine kleine Seele die Flügel der Schönheit hatte, und so fühlte er nur eine große, große Sehnsucht, zum Himmel zu fliegen und über weite Meere und hohe Berge zu schauen. Und die Harfenklänge des Spielmanns hatten diese Sehnsucht plötzlich so stark in ihm geweckt, daß er keine Ruhe auf seinem Lager fand und immer wieder auf sein pochendes Herz lauschen mußte, das die neuen Lieder, die er gehört, nachsang und mit den süßen Tönen der Harfe wie mit bunten Perlen spielte.

Als der erste weiße Schimmer des Tages in das kleine Fenster seiner Kammer hereinschien, stand er auf, kleidete sich hurtig an und lief hinaus. Irgendwo mußte der Spielmann doch im Orte Rast gemacht haben, in der Nacht würde er doch nicht weiter gewandert sein. Irgendwo würde er wohl noch einmal die Harfe spielen hören. Und so ging er durch das stille Dorf.
Alles schlief noch. Nur liebliche Vogelstimmen klangen in der Luft. So waren gestern die Klänge der Harfe in die Luft geflogen, denn die Harfe konnte singen wie die Vögel. Und sein Herz wurde immer größer vor Sehnsucht, noch einmal diese Töne zu hören.

Dreimal wanderte er durch das ganze, schlafende Dorf. Da endlich hörte er aus einem kleinen verfallenen Häuschen am Rande des Waldes leise süße Musik. Er lief hin, kletterte auf einen Baum, der seine Zweige über dem Häuschen ausbreitete, und sah durchs Fenster.
Da saß der alte Spielmann mit geschlossenen Augen vor seiner Harfe, und seine Hände glitten leise und vorsichtig über ihre Saiten hin, als suchten sie etwas. Gottliebs Herz klopfte so laut, daß er meinte, der Alte drinnen müsse es hören. Aber der blieb ganz ruhig und öffnete seine Augen nicht.

Da lehnte sich Gottlieb behaglich in den starken Ästen des duftenden Baumes zurück, schloß auch seine Augen, und seine sehnsüchtige Seele lauschte mit glücklicher Wonne auf jeden Ton.

Die zaghaften Klänge wurden allmählich lauter, und plötzlich war es ein ganz wundervolles Lied, das aus der Kammer des Spielmanns zu ihm herausströmte, und das Lied trug einen ganzen Schatz leuchtender Bilder auf seinen Flügeln. Er sah den Sommerwind mit den Ähren spielen, die Blumen am Rande des Baches blühen, fühlte die gute Hand seines Mütterleins auf seiner heißen Stirne, und plötzlich waren Miras goldene Locken und blaue, lachende Augen so nahe neben ihm, daß er die seinen rasch öffnete und sehr erstaunt war, sie nicht zu finden. Da hörte das Lied auf.

Gottlieb erschrak, denn er hatte ganz vergessen, wo er war; in seinem Schrecken machte er eine ungeschickte Bewegung, daß er fast vom Baume gefallen wäre; er hielt sich nur noch schnell an einem Aste fest und sprang zur Erde.
»Hast du dir weh getan?« fragte die Stimme des Alten am Fenster.
»Nein,« sagte Gottlieb.
»Was wolltest du hier, mein Kind?«
»Ach, ich wollte Eure Harfe hören, ich habe die ganze Nacht an sie gedacht, und da lief ich durchs Dorf, bis ich sie hörte, und damit ich ganz nahe war, kletterte ich auf den Baum.«
»Komm herein zu mir, mein Kind, dann will ich ganz allein für dich etwas spielen.«
Mit zitternden Händen öffnete Gottlieb die Tür und trat ein. Und der Alte spielte ihm etwas so Wunderschönes, daß ihm war, als stünde er am Throne Gottes und die Engel musizierten um ihn her. Er faltete die Hände, und aus seinen Augen strömten Tränen, ohne daß er's wußte, und er erfuhr zum erstenmal, daß man aus Freude und Glück weinen könne.
Als der Alte geendet hatte, legte er seine gute Hand auf des Knaben Haupt und sagte: »Du liebst die Schönheit, mein Kind, du wirst einst auch ein Spielmann werden und die Menschen glücklich machen mit deinen Liedern.«

Da fiel der Knabe vor Freude und Schrecken auf die Knie. »Aber ich habe keine Harfe,« sagte er dann traurig.

»Auch wenn du eine hättest, könntest du sie noch nicht spielen, dazu mußt du erst des Lebens Schwere und Bitternis gefühlt haben, und dein Herz muß geweint haben.«
Der Knabe sah den Alten ernst an und verstand ihn nicht.

»Sieh', ich bin alt, mein Kind, und nicht mehr viele Jahre, dann werde ich mein Wandern und Spielen aufgeben müssen, dann werde ich dir meine Harfe schenken; eines Tages, da du es am wenigsten denkst, wird sie zu dir kommen.«

Der Knabe konnte kein Wort sagen, so schwer war ihm das Herz vor Freude. Er neigte sich über die Hand des Greises und küßte sie mit seinen jungen dankbaren Lippen.

»Leb' wohl, ich ziehe meines Weges, wir sehen uns nicht wieder. Und vergiß nicht, an dem Tage, da dein Herz geweint hat, wirst du die Harfe spielen können; der Geist meiner Lieder wird dann mit dir sein, und sage niemandem ein Wort darüber, bis du spielen kannst.«
Wie im Traume wandelte der Knabe heim. Und sein glückliches Geheimnis trug er fortan wie einen königlichen Schatz in seinem Herzen.

Aber eines Tages wurde es ihm zu schwer, das Geheimnis allein zu tragen, da erzählte er sein Erlebnis mit dem Alten dem kleinen Mädchen, mit dem er am liebsten spielte, und die mit ihrem alten Vater neben seinem Häuschen wohnte.

Mira schüttelte die goldenen Haare, und ihre blauen Augen lachten. »Oh, das ist ein schönes Märchen, das du mir erzählst,« sagte sie, »oder hast du es geträumt?«
Er aber wurde böse, daß sie es ihm nicht glauben wollte. »Ich schwöre dir, es ist so, wie ich dir gesagt habe.«
Mira lachte noch lauter und lief davon.
Da ging der Knabe zu seiner Mutter, die saß am Rocken und spann und sang ein kleines Lied vor sich hin.

Sie wird mir glauben, denn sie liebt die Lieder, dachte Gottlieb, und er ging ganz nahe zu ihr hin und erzählte ihr von seinem Geheimnis. Da sah ihn die gute Mutter mit warmen Augen an und lächelte sanft und sagte: »Wunderschön kannst du träumen, mein Kind.« – Und er fühlte, daß auch sie seine Worte nicht glaubte, und da war ihm plötzlich, als habe er dies alles wirklich nur geträumt, und sein Herz wurde ihm schwer, und er weinte bitterlich.
Und dann geschah es, wie der Alte zu ihm gesagt hatte, eines Tages, da er gar nicht daran dachte, kam die Harfe zu ihm. Das alte Krautweib aus dem Walde kam keuchend damit angehinkt und sagte, ein Bote des sterbenden Spielmanns habe sie ihr gebracht und schicke sie dem Knaben.

Da sah die Mutter verwundert ihr Kind an und küßte es mit Tränen in den Augen. Der Alten aber gab sie das einzige Kleinod, das sie besaß, zum Lohne.

Mit zitternden Händen trug der Knabe die Harfe in seine Kammer. Und jede freie Stunde versuchte er, mit seinen kleinen schwachen Händen die silbernen und goldenen Saiten in jene schwingende Bewegung zu bringen, mit welcher der Spielmann scheinbar so leicht seine herrlichen Klänge über die lauschenden Herzen hatte hinströmen lassen. – Aber die Harfe blieb stumm unter seinen Händen.

Da fiel ihm ein, daß der Alte etwas zu ihm gesagt hatte, was ihm zum Spielen der Harfe nötig sei. Er besann sich lange. Etwas vom bittern Leben und von Tränen war es gewesen, aber genau wußte er es nicht mehr. Doch das Leben dünkte ihm gar nicht bitter. Draußen schien die Sonne, und in der engen Kammer waltete die Liebe seiner Mutter, es war warm um ihn her, und das Leben würde wohl so wie eine stille Melodie weitergehen, glaubte er.
Aber wenn Tränen nötig waren, um die Harfe spielen zu können, so wollte er es doch versuchen, traurig zu sein und zu weinen. Und er ging umher und suchte einen Grund für eine Traurigkeit, die er nicht fühlte.

Daß sein Lehrer oftmals mit ihm unzufrieden war, empfand er im Augenblick der Strafe hart, aber er fühlte keine Schuld dabei, daß seine Gedanken lieber wie freie Vögel umherflogen statt bei den Worten des Lehrers zu bleiben, und er lernte eifrig seine Aufgaben, aber immer wieder vergaß er sie ganz schnell. Nur wenn eine Geschichte erzählt wurde oder Bilder gezeigt und Gedichte gelernt wurden, da tat er aus voller Seele mit. Und wenn des Lehrers Geige nicht so rauh geklungen hätte, wäre er glücklich gewesen, sie zu hören; so aber tat sie ihm weh in den Ohren und im Kopf, am ganzen Körper, daß er nicht ruhig sitzen konnte und Hände und Füße angstvoll hin und her bewegte.

Einmal konnte er es gar nicht aushalten und hielt sich die Ohren zu. Aber da war der Lehrer so böse geworden und hatte ihn geschlagen. Und seit er nun gar die Harfe des Spielmanns gehört hatte, konnte er zu den Tönen dieser Geige nicht mehr singen.

So fürchtete er sich immer vor der ersten halben Stunde in der Schule, und sein Herz war schwer, und da nahm er sich nun vor, zu Hause diese Qual und Schwere lange und herzlich auszuweinen, um die geliebte Harfe dann wieder zu berühren; vielleicht daß es dann kam, daß er spielen konnte.

Aber wenn die Schule aus war und er in die frische Luft hinauskam und zu Hause Mütterchens gute Augen sah, hatte er allen Kummer vergessen und dachte nicht mehr daran, daß er weinen wollte.

Doch einmal hatte er seine Vogelpfeife verloren, die er sich selbst geschnitzt hatte, da weinte er wirklich. Und mitten dabei fiel ihm ein, daß er nun die Harfe probieren müsse; er lief mit den Tränen auf seinen Wangen hin und legte seine Hände auf die Saiten, wie er es bei dem Spielmann gesehen hatte, aber es kam kein Ton. Noch einigemal versuchte er es, bei seinen kleinen Schmerzen die Macht seiner Tränen an der Harfe zu erproben, aber immer blieb sie stumm. Da wurde er böse und trug sie in einen dunkeln Winkel oben unter dem Dache, und bald legten sich Staub und Spinnenweben auf ihre stummen Saiten. –

Und dann kam die Zeit, wo er sich für eine Arbeit entscheiden mußte, um sich sein tägliches Brot zu verdienen. Lange wußte er nicht, was er am liebsten werden möchte. Endlich beschloß er, Anstreicher zu werden. Das war so lustig, mit Farben zu tun zu haben und hübsche Muster an Wände und Decken zu malen. Und plötzlich regte sich die Lust in ihm, hinauszuziehen in die weite unbekannte Welt, die da draußen lockte mit so viel Neuem und Schönem.

Als er dann aber Abschied nahm von seinem Mütterchen, der zwei schwere Tränen aus den guten Augen fielen, da tat ihm zum erstenmal sein Herz weh. Und dann hatte er auch Miras Hände zum letztenmal in den seinen und küßte noch einmal ihre jungen Lippen vor seiner Wanderung in die weite Welt; er versprach, immer an sie zu denken und oft zu schreiben, und auch aus ihren immer lachenden Augen sprangen heiße Tränen, und da fühlte er einen bittern Schmerz in seiner Seele.

Und seine Füße gingen zum erstenmal langsam und schwer ihres Weges, denn das Abschiednehmen ist wie die erste Ahnung vom Tode, die über das junge Herz kommt.
Doch als er erst mitten im Gedränge und Lärm des neuen Lebens in der großen Stadt war, vergaß er seinen Schmerz und stürzte sich in die lockende Flut all der neuen Herrlichkeit und konnte des Staunens und Freuens kein Ende finden.

Alles lernte er kennen, was es in der großen Stadt Schönes und Lustiges gab. Aber auch das Arge und Traurige darin blieb ihm nicht fern, wenn er Arbeit hatte und Geld, war er froh mit den Fröhlichen und zechte auch mit solchen, die nicht gut und fromm waren. Hatte er keine Arbeit und kein Geld, so mußte er Hunger leiden, und die Menschen verließen ihn, weil es keine wahren Freunde waren, sondern ihn nur liebten, wenn er mit ihnen lustig war und ihre Zeche bezahlen konnte. Da hatte er manche Stunde, wo er die Schwere und Bitterkeit des Lebens erkannte. Und immer weiter wanderte er in die Welt hinein und vergaß darüber sein kleines Dorf und sein Mütterchen daheim und auch die Tränen, die Mira beim Abschied um ihn geweint hatte. Denn sein junges, unkluges Herz fand überall so viel Schönes und vergaß schnell jeden Kummer wieder, sobald die Sonne über ihm lachte und er klingende Pfennige in seinem Beutel hatte und andre junge Augen ihn so freundlich anlachten, wie früher Mira es getan.

In der ersten Zeit hatte er noch viel an sie gedacht und manchen erübrigten Groschen an sein Mütterchen heimgeschickt. Aber später hatte er selbst so viel Geld nötig und auch alle Gedanken, um das große Leben zu verstehen und zu genießen, und dabei wurde sein gutes Herz hart und vergaß jene, die immer so gut zu ihm gewesen waren.

Da eines Tages kam plötzlich ein Brief von Mira zu ihm, und sie schrieb ihm, daß sein Mütterchen schwer krank sei vor großem Kummer, nachdem sie so lange, lange auf sein Kommen gehofft und sich nach ihm gesehnt habe; wenn er sie noch sehen wollte, solle er gleich heimkehren. Und weiter sagte sie, sie habe nun den roten Peter gefreit, der sie schon immer gewollt; da sie nie mehr Antwort auf ihre Briefe bekommen habe, wußte sie, daß er sie vergessen hätte, aber sie sei nicht froh in ihrem Heim, denn ihr Herz habe immer ihm gehört, mit dem sie die schöne Zeit ihrer Jugend verlebt.

Gottliebs Herz wurde ihm schwer wie ein Stein in der Brust. Sein liebes Mütterchen krank und konnte jeden Augenblick sterben – nein, das durfte nicht sein.

Er machte sich eilig auf den Weg, ob er nicht noch dem Tode zuvorkäme mit seinen jungen flinken Beinen. Daß Mira, seine liebe lustige Mira nun auch einem andern gehörte, konnte er gar nicht ausdenken, denn tief im Herzen war ihr Bild noch nicht verschwunden.

Und als er endlich in sein kleines Heimatdorf zurückkam, war sein Mütterchen gestorben.
Er sah nur noch ihr weißes, kühles Angesicht, das nie mehr wieder für ihn lächeln sollte. Da fiel er an ihrem Lager auf die Knie und weinte bitterlich.

Und als man sie in die Erde gebettet hatte, da weinte er die ganze Nacht hindurch in seiner einsamen kleinen Kammer. Und dann sah er Mira mit dem roten Peter nebenan ein und aus gehen. Ihre blauen Augen lachten nicht mehr, und als er sie grüßte, sah sie ihn so traurig an, daß es ihm wie ein Messer durch das Herz ging.

Er konnte es nicht lange aushalten, hier, wo er einst so glücklich war, alles so verändert zu finden und dabei zu wissen, daß es seine eigne Schuld war. Und so verschenkte er die wenige Habe, die im Häuschen war, und rüstete sich zu einer neuen Wanderung in die Welt.
Traurig ging er durch die engen Räume der Hütte und nahm mit seinen Augen Abschied von allem darin.

Da fielen seine Blicke auf die Harfe, die voll Staub und Schmutz in ihrem Winkel stand. Mit einem Schrei der Freude griff Gottlieb nach ihr, und plötzlich fielen ihm hell und klar die Worte des alten Spielmanns ein: »Wenn du mit deinem Herzen geweint hast, wirst du die Harfe spielen können«.

Und er fühlte, daß er durch Schmerz und Schuld reif geworden war, diese Worte zu verstehen.

Mit zitternden Händen berührte er die Harfe, und siehe, unter dieser Berührung fing sie an zu tönen, so wundervoll schmerzlich und heilig schön, daß ein neues Gefühl in seine leidvolle Seele einzog. Und er spielte und spielte und konnte nicht müde werden all der süßen Melodien, die unter seinen Händen hervorkamen und seine kleine Kammer mit strahlender Schönheit füllten. –

Als er endlich seine Augen aufhob, merkte er, daß viel Volk draußen vor seinem Fenster stand und seinem Spiele lauschte.

Und als er zu ihnen hinaustrat, sah er, daß ihre Augen vor Freude und Glück strahlten, und sie reichten ihm die Hände mit stummem Danke, wie es damals dem alten Spielmann geschah.

Da wurde es ihm wundervoll friedlich und feierlich in seinem Herzen, als habe Gott seine Schuld von ihm genommen und ihm eine große Gnade gegeben, mit welcher er fortan die Menschen glücklich machen konnte durch die göttliche Macht der Musik.

Und so zog er durch die Welt mit seiner Harfe, überall mit Freuden empfangen und mit Dank überschüttet, bis auch er alt wurde und seine Harfe einer andern jungen Seele gab, die er einmal unter vielen hundert Menschen gefunden hatte.

Aus: Elisabeth Dauthendey - Die Märchenwiese, Märchen, Geschichten und Gedichte, Mit vier farbigen Vollbildern und zahlreichen Textabbildungen von Luise v. Geldern-Egmond, Georg Westermann / Braunschweig und Hamburg 1918

Elisabeth Dauthendey, geboren am 19. Januar 1854 in Sankt Petersburg; gestorben am 18. April 1943 in Würzburg. Erfolgreich war sie vor allem mit ihren Märchen und Novellen, die eine mythische bis mystische Phantasiewelt entwarfen. Ihr Halbbruder war der Dichter Max Dauthendey.

Als „Halbjüdin“ drohten Elisabeth Dauthendey ab 1933 Berufsverbot und Verfolgung durch die Nazis. Sie versuchte dieser Gefahr mit konsequenter schriftstellerischer Enthaltsamkeit zu begegnen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die letzten Lebensjahre waren deshalb von erheblicher finanzieller Not gekennzeichnet. Sie starb in ihrem neunzigsten Lebensjahr. 

Montag, 23. Januar 2023

Winternachtglanz

 




Anmerkung: „und die weiße Landschaft lag unberührt vor mir /
wie der Weg ins Paradies.“

Als der Dichter Jakob Haringer, geboren am 16. März 1898, am 3. April 1948 in Zürich an einem Herzinfarkt verstorben aufgefunden wurde, steckte in einer Schreibmaschine ein Stück Papier, auf dem diese beiden Zeilen standen.

Das Bild ist von Nicholas Roerich (1874 - 1947)



Samstag, 14. Januar 2023

Nachtangeln

 


Nachtangeln


Als mein Freund und ich vierzehn Jahre alt waren, durften wir zum ersten Male in unserem Leben ohne Erwachsene eine ganze Nacht an der Geeste, einem Fluss, der durch Bremerhaven fließt, verbringen. Wir durften Nachtangeln.

Die Nacht war sternklar und kühl. Wir saßen am Ufer des Flusses, die Angeln waren Beiwerk und vorgeschobener Grund für ein Nachtabenteuer.

Vierzehnjährige haben ihre eigene Art, die Welt zu betrachten und eine Nacht am Fluss ist durchaus der geeignete Rahmen, um ins Philosophieren zu geraten. So eine raffiniert naive Logik der Weltbetrachtung haben wir vielleicht nur in diesem Alter. Und nur in diesem Alter den Mut und die Zeit, sich Gedanken zu machen über so etwas Grandioses wie die Unendlichkeit der Welt.

Für Erwachsene wird solch ein Gedankenwerk als überflüssige Aktivität erachtet. Nicht nur für Erwachsene, mir erging es schon als junger Heranwachsender so, dass Ambitionen, die über das „Normale“ hinausgingen, kritisch betrachtet wurden. Als einem, der erwachsen werden will, nicht würdig.

Wir waren also vierzehn Jahre alt, die Nacht wurde kühler, kein Fisch biss. So gerieten wir ins Erzählen und ins Philosophieren. Durch die Weite des Sternenhimmels animiert, durch die ungewohnte nächtliche Aktivität aufgekratzt und trotz Müdigkeit überwach, stellten wir uns die Frage (stellten wir uns der Frage), wo das denn alles endet. Und wo und wie es dahinter weiter gehen würde, wenn es denn endet.

Wir dachten im Kreis. Wenn es enden würde, dann gäbe es eine Grenze. Wenn es eine Grenze gäbe, dann ginge es dahinter weiter. Wenn es keine Grenze gäbe, dann wäre das Ganze unendlich. Dass es unendlich sei: Unvorstellbar. Unendlichkeit ließ sich nicht „erfühlen“. Dass es nicht unendlich sei, genauso unvorstellbar. Uns war ganz schwindelig.

Wir begannen uns damit anzufreunden, dass es „irgendwie unendlich“ sei. Etwas anderes war nicht möglich. Hoimar von Ditfurth beschreibt das Weltall als endlich und in sich gekrümmt. Aber das wussten wir damals noch nicht. Und ein in sich gekrümmtes endlich riesengroßes Weltall hätten wir auch nicht akzeptiert. Die Krümmung wäre auch nichts anderes als eine Grenze. Und dahinter...?

Anstatt uns weiter diesem Gefühl auszusetzen, einem nichtfassbaren unendlichen Universum anzugehören, unendlich und unfassbar in seiner räumlichen Ausdehnung, und genauso unendlich und unfassbar in seinen zeitlichen Abläufen, statt also sich diesem gefühlsmäßig nicht zu Erfassendem auszusetzen, begannen wir damit, uns Gedanken darüber zu machen, welche Konsequenzen eine Unendlichkeit in Zeit und Raum hätte.

Unendlichkeit im Raum: das ist schon sehr speziell. Also nach oben geht es weiter, immer weiter. Und nach unten geht es weiter, immer weiter. Und nach rechts geht es weiter, immer weiter. Nach links, nach vorne, nach hinten: immer weiter, immer weiter. Gekrümmt oder nicht, Kugel, Elipsoid oder sonst was, hinter den Grenzen: weiter, weiter - immer wieder wurden unsere Gedanken und Gespräche von merkwürdigen Schauern unterbrochen.

In der Luft war ein hohes, kaum hörbares Pfeifen, in einer Frequenz, die gerade an der Wahrnehmungsschwelle tönte, als wenn man die tiefsten Töne der Fledermäuse wahrnimmt, die man gerade eben noch hört. Nicht wirklich da, doch fühlbar seiend. Die weiter entfernten Straßenlaternen leuchteten und trugen alle einen kobaltblauen Halo. Unsre Wahrnehmung war klar und uns war etwas unheimlich. Und wir hatten den Mut, es uns zuzugestehen.

Uns war seltsam unheimlich und seltsam euphorisch, beides. Zum Glück biss kein Fisch an und holte uns in die Zweckmäßigkeiten dieser Welt zurück.

Unendlichkeit im Raum: Die für uns verblüffendste Konsequenz war die Erfahrung, dass das Weltall, wenn es denn unendlich wäre (und was anderes wäre nicht denkbar), eine urdemokratische und gerechte Veranstaltung ist. Wenn es sich nach allen Seiten in die Länge und in die Quere und in Höhe, Breite, Tiefe, unendlich weit ausdehnte, dann, ja dann gibt es keinen Rand. Dann gibt es nur „Mitten“. Eine unendlich große Anzahl von „Mitten“. Du bist der Mittelpunkt der Welt. Ich bin der Mittelpunkt der Welt. Dort ist der Mittelpunkt der Welt. Hier ist der Mittelpunkt der Welt. Ich Mitte. Du Mitte. Er, sie, es Mitte.

Also entweder unendlich oder nicht. Wenn unendlich (und was anderes ist nicht denkbar), dann sind wir alle der Mittelpunkt der Welt.

Wir beide schauten uns an und lachten und beglückwünschten uns gegenseitig: Grüß Dich, Du Mittelpunkt aller Dinge! Sei gegrüßt, Mitte der Welt. Du Mitte, ich Mitte. Ab durch die Mitte. Beseelt waren wir von dieser Erkenntnis.

Aber wenn das alles unendlich ist, nach vorne und nach hinten, wenn „hinter uns“ unendlich lange Zeiträume liegen, dann ...

Ja dann gibt es uns alle unendlich oft. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit unendlich klein ist, dass es uns beide hier sitzend beim Nachtangeln ein zweites Mal gibt, dann gibt es uns ein zweites Mal. Denn selbst eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit ist unendlich oft passiert. Und alle Alternativen auch.

Also: Ob wir heut in der Nacht einen Fisch fangen, oder viele Fische fangen, oder gar keinen, oder ob du ins Wasser fällst oder ich und so weiter. . .  Alles schon unendlich oft mal passiert. Genauso wie jede der unendlich vielen Variationen. Entweder unendlich oder nicht. Wenn unendlich (und was anderes ist nicht denkbar), dann haben wir alles schon unendlich oft Mal erlebt. Daher also kommen die Déjà-vu-Erlebnisse!

Und wer gerne in Atlantis gewohnt haben möchte als Prinzessin oder Hohepriester, der oder die haben unendlich oft Mal in Atlantis gelebt, wer reinkarniert werden möchte, wird reinkarniert, und das alles so oft ein jeder möchte und noch viel mehr. Eben unendlich oft Mal. Und wer lieber vom Affen abstammt, stammt unendlich oft Mal vom Affen ab. Und jede, und jeder ist der Mittelpunkt der Welt. Wie schön, dass die Welt unendlich ist!

Wir redeten und redeten, über das, was wir entdeckt hatten, beseelt und glücklich. Heute ging es uns so, morgen so. Aber woanders gab es uns, und es ging uns ganz anders. Und woanders gab es Welten, da hatten nicht die Weißen Amerika entdeckt, sondern die Rothäute jenen Wurmfortsatz von Asien, der sich Europa nennt. Und sie brachten Friedenspfeifen und lustige Geschichten mit.

Als wir am nächsten Morgen nach Hause kamen, waren wir sehr fröhlich. Die spöttischen Bemerkungen unserer Väter ob der Größe unseres Fanges perlten an uns ab. Denn unendlich oft hatten wir unendlich viel gefangen. Nur heute nicht.



Samstag, 7. Januar 2023

Tolles Singen in den Bergen - Nachdichtungen Chinesischer Lyrik

 


Am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts gab es unter den deutschen Literaten eine Chinabegeisterung, die sich bis in die dreißiger Jahre fortsetzen sollte. Nicht nur Theosophen oder die Aussteiger rund um den Monte Verita in Ascona fanden im Tao Te King Weisheit, auch viele Schriftsteller orientierten sich an chinesischen Dichtern wie Li Tai Pe. Hermann Hesse war ein Verehrer dieses Dichters, und Klabund, Franz Blei, Hans Schiebelhuth, Albert Ehrenstein und viele andere widmeten sich Nachdichtungen chinesischer Lyrik.

Im Zentrum der Chinabegeisterung stand der Sinologe und Übersetzer Richard Wilhelm (1837 - 1930), dessen einfühlsame Übersetzung des Tao Te King nebst umfangreichen Anmerkungen 1910 herauskam. Es folgten Übersetzungen des Kungfutse, des I Ging und von Chinesischen Märchen (letztere wurden sogar bei den ersten Dada-Soireen in Zürich herangezogen, Hugo Ball las daraus 1916 vor).

Auch mich zogen die Chinesische Philosophie und die Chinesische Lyrik, soweit sie als Nachdichtung vorlag früh in ihren Bann. Schon im Alter von sechzehn Jahren begeisterte mich der Tao Te King in der Übersetzung des Richard Wilhelm, und das in den Anmerkungen aufgeführte Chinesische Märchen von der Quelle im Rosenblütenwald wurde zu einem Leitstern in meinem Leben. Diese Quelle ließ mich nicht wieder los.

In der ansonsten für mich recht langweiligen Bibliothek von Tante und Onkel in Stade, wo ich die jeweiligen Sommerferien verbrachte, fand ich zu meiner Erleichterung das schmale Bändchen Chinesicher Gedichte in der Nachdichtung von Klabund, dessen Inhalt mich nachhaltig begeisterte (Noch immer kann ich einige Zeilen auswendig „Als ich ein Kind war / schien der Mond mir rundes Gold“).

Es war auch die Zeit, in der in meinem Freundeskreis neben Hermann Hesse Jack Kerouac gelesen wurde. Von letzterem begeisterte mich ein Buch uneingeschränkt, es wurde unter den unsäglich dumm übersetzten Titel „Gammler, Zen und hohe Berge“ als Taschenbuch angeboten. (der amerikanische Titel lautet The Dharma Bums). Dort trat mir China in der Gestalt des Japhy entgegen, der unter anderem die Gedichte vom Kalten Berg des Han Shan übersetzte, von denen sich auch eine Eindeutschung in diesem Buch befand. Hinter der Figur des Japhy verbirgt sich der Dichter Gary Snyder, dessen Bücher mich seit den frühen achtziger Jahren begleiten.

Ich habe hier einmal eine kleine Auswahl von Nachdichtungen Chinesischer Lyrik getroffen. Das ist beileibe nicht vollständig, und ich werde dieser Serie im Laufe des Jahres noch weitere hinzufügen. Heute vor allem Gedichte von Lo-t`ien. 

Als Bild habe ich das Gemälde „Kleine Hütten im Wald“ gewählt, von der im Februar 2016 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch. Für mich ist darin die Stimmung der kleinen Hütten der Chinesischen Einsiedler wiederzufinden.



Die Lieder der Nonnen Gotamo Buddhas enthält der Khuddakani kayo, die dritte Sammlung des Pàli-Kanon, deren erste Textausgabe 1883 Oldenberg und Pischel, deren erste deutsche Übersetzung 1899 Karl Eugen Neumann besorgte. Wörtlich aus Neumanns Übertragung entnommen ist nur das „Verführungslied des Schelmen“, dem Neumann eine deutscher Rhythmisierung gleiche Form gegeben hat, während er sonst wohl der philologischen Genauigkeit wegen die Diktion des Originals nachahmt, was nicht immer deutsch klingt und des Rhythmus entbehrt.

Franz Blei, aus: Der Amethyst, Blätter für seltsame Literatur und Kunst, herausgegeben von Franz Blei, Heft 1, Dezember 1905


Aus: Po Chü – I (Des Gelehrten Po sechs Werke, von Lo-t´ien)Nachdichtungen von Albert Ehrenstein


Lo-t´ien liebte von jung an das Studium. Als Erwachsener wandte er sich der Dichtung zu. . . . Er begann seine Laufbahn als Bücherzensor und gab sie auf als Regierungsgehilfe des Kaisers. Zwischendurch bekleidete er mehr als zwanzig Beamtenposten, lebte über vierzig Jahre davon. Sein Äußeres hielt er der Lehre des Kungfutse gemäß, seine Seele neigte sich rein der Lehre Buddhos. In seiner freien Zeit durchwanderte er die Gebirge, spielte Laute und trank Wein, seinen Geist anzuregen. . . . Was er im Leben begehrte, fühlte, bekam, verlor, bedrückt durchmachte, verstand - all dies stand als Geschichte, Aufsatz, Gedicht genau in seinem Werk

Geboren wurde er 771 n. Chr., er starb 846. 


Deutsch von Albert Ehrenstein, aus: Der Querschnitt, Band 6/1, 1926


Bo Djù´J (Bai Juyi, 772 - 846), deutsch von Vincenz Hundhausen, aus:  Der Querschnitt, 1928



Sonntag, 1. Januar 2023

Rosa Mayreder - Das Feenschloss

 


Das Feenschloss

Von alters her haben die Feen eine unüberwindliche Neigung sich mit den Menschen in Verbindung zu setzen. Der alte König gerät immer ein wenig in Hitze, wenn es geschieht, dass eine seiner schönen, zarten Untergebenen mit der schüchternen Bitte kommt eine irdische Angelegenheit durch ihre Einmischung beilegen zu dürfen.

Da es aber ein milder und höflicher König ist, begnügt er sich zu sagen: „Aber meine Teuerste, sind sie denn noch immer keines besseren belehrt? Trotz aller schlechten Erfahrungen nicht? Was verlockt Sie denn so sehr an diesem schmutzigen, stinkenden  -  mille excuses !  -  Gesindel? Wissen Sie nicht, wie unverbesserlich und undankbar die Leute sind ? Fragen Sie doch einmal . . .“ Und dann zählt der alte König eine ganze Reihe von Feen auf, die sich's nicht hatten nehmen lassen die Wohltäterinnen der Menschen zu spielen und dabei kläglich schlecht weggekommen waren.

Allerdings konnte er in der Regel die schönen Bittstellerinnen damit nicht von ihrem Vorhaben abwendig machen. Sie meinten, sie würden es eben klüger anstellen als ihre Vorgängerinnen.

Das widerfuhr ihm auch mit der Fee Myriadora. Er hielt große Stücke auf sie. Sie war die anmutigste und unschuldigste von allen, heiter wie ein Sonnenstrahl und lieblich wie ein Tautropfen, wenn der Sonnenstrahl auf ihn fällt. Deshalb ging es ihm besonders nahe, als sie ihm eines Tags eröffnete, sie habe sich einen wunderschönen Plan ausgedacht, um diesen armen geplagten Erdengeschöpfen eine erlesene Freude zu bereiten. Er begann unverweilt von den schlechten Erfahrungen zu sprechen. Aber sie fragte mit ihrem melodischen Lachen, in dem es läutete wie von tausend silbernen Glöckchen, was denn das sei, Erfahrungen; von etwas derartigem könne sie sich nicht die geringste Vorstellung machen.

Der alte König wusste nicht gleich, wie er das Wesen der Erfahrungen erklären sollte. Erfahrungen: je nun, dass wären alle Einsichten, die man aus den Zusammehstößen mit der Welt der Wirklichkeit gewänne, wie sie auf Erden ieider bestehe.

Wie herrlich! So sei die Welt der Wirklichkeit ganz anders als das Feenreich?

Ja, gewaltig anders, aber herrlich durchaus nicht.

Das wollte Myriadora nicht glauben: Dass die Erdenwelt anders war, darin lag ja das geheimnisvoll Anziehende, das von ihr ausging. Und mit den Erfahrungen würde es nicht so schlimm sein; die Erfahrungen seien wohl nur eine Art. Dornenhecke, über die man leicht hinwegkäme, wenn man schweben könne.

Ei ja wohl! Nur dass es mit dem Schweben ein Ende habe, sobald man den• Boden der Erde betrete.

Nun, wenn auch! Sie wisse, dass man bei einem solchen Unternehmen auf einige Bequemlichkeiten verzichten müsse. Sonst wäre es auch nichts Großes und Schönes da hinunterzusteigen, um Freude zu bereiten.

Und als der alte König, durch diese Unbeirrbarkeit ein wenig erbost, fragte, ob sie denn glaube, dass die Menschen, diese Tölpel, nur so mit offenen Händen dastünden und warteten, bis eine gütige Fee ihnen ihre Gaben bringe, bejahte sie mit Zuversicht. Ja, die Menschen sehnen sich unablässig nach Freuden, suchen sie unablässig; wie sollten sie da nicht dankbar zugreifen, wenn ein höheres Wesen gesonnen sei mit vollen Händen Freuden unter sie auszuteilen?

Der alte König dachte bei sich, dass ein konstitutioneller Monarch wie er, der nur die Ordnung aufrecht erhalten, aber die persönliche Freiheit nicht beschränken soll; doch ein verdammt schwieriges Amt innehabe. Und da seine Warnungen nichts fruchteten, erkundigte er sich vorerst einmal, auf welche Weise die Fee Myriadora als allgemeine Freudenspenderin unter den Menschen aufzutreten gedächte.

O, ihr Plan war schon gemacht, und ebenso wundervoll als einfach war ohne Schwierigkeit auszuführen. Sie wollte an einer Landstraße, wo Menschenkinder der verschiedensten Art vorüberkommen, ein Haus erbauen, ein herrliches Lustschloss mit Gärten voll Götterstatuen und Springbrunnen, wo in den immergrünen Gebüschen die Nachtigallen schlugen und die purpurnen Blumen des. Feenreichs mit ihren goldenen Staubgefäßen süße Melodien spielten. Und jeder, der eintrete, würde in die selige Stimmung des Feenreichs versetzt; er brauchte nur aus der Schale am Brunnen, wo die krystallene Quelle des Feenreichs sprudelte, einen Schluck zu nehmen, und gleich würde ein gesegnetes Vergessen alles Weh der Erdenschwere in ihm auslöschen, er würde die Sprache der Vögel verstehen, den Gesang der Bäume im Wind, die Harmonie der ziehenden Wolken, er würde den Wohllaut vernehmen, von dem alle Dinge in der Welt tönen. Und wenn der Glückliche nun in die rechte Stimmung versetzt sei, dann wolle sie selbst ihm erscheinen und sein Herz vollends beseligen mit Lachen und Scherzen und all den lieblichen Spielen, mit denen die Feen ihr Leben verbringen.

Da wurde der alte König ernstlich böse. Parbleu! Für diese lieblichen Spiele sei der Mensch durchaus ungeeignet; es fehle ihm einfach das Organ dafür. Überdies habe er die gräuliche Eigenschaft, dass er alles, was ihm wohlgefällt, besitzen und für sich allein wolle. Und so werde durch solche Zeichen der Huld eine Art Habgier und Hunger in ihm geweckt, die ihn zu ganz anderen Dingen treibe, als sie mit der seligen Stimmung des Feenreichs vereinbar wären. Für diesen Hunger hätten die Menschen, die immer das Wesen der Dinge durch Worte verdunkeln, den Namen Liebe erfunden.

Wie herrlich! Die selige Stimmung des Feenreichs könne doch durch nichts besser bewirkt werden als eben durch Liebe, das wisse Seine Majestät sehr genau.

Schon gut! Was im Feenreich Liebe heiße. und was die Menschen so nennen, das sei eben Tausend und Eins. Ihm stünden die Haare zu Berg bei dem bloßen Gedanken, dass sie, die zarte, liebliche, ätherische Myriadora sich dieser kannibalischen Menschenliebe aussetzen wolle . . .

Allein der alte König konnte reden, solange er wollte, die Fee Myriadora fand alles herrlich. Der Widerstand machte sie erpicht, die Warnung begierig. Nicht einmal die Drohung selbst auf unabsehbare Zeit der seligen Stimmung des Feenreichs verlustig 7.11 gehen, vermochte die Fee Myriadora ihrem Vorhaben abwendig zu machen. Sie erbat sich Bedenkzeit; nicht um sich zu bedenken, sondern um den Ärger des Königs ein wenig verrauchen zu lassen. Denn das wussten sie ja alle, diese schönen und klugen Wesen, die sich nur auf Erden so schlecht auskannten: Wenn der alte König seine Einwendungen heruntergepoltert hatte, konnte man ihn schließlich doch zu allem haben. Er wollte nur recht behalten, das war eine Schwäche von ihm. Sobald eine der Feen von einem missglückten Unternehmen zurückkehrte, machte er ihr seinen Besuch, um zu hören, wie es ihr ergangen war. Und dann verfehlte er nie mit breitem Behagen, dem er nicht einmal ein Mäntelchen höflichen Bedauerns umhängte, zu sagen: »Eh bien! Hab' ich's nicht gleich gesagt?“ Aber nach diesem Triumph seiner überlegenen Welteinsicht, den er seiner Stellung schuldig zu sein glaubte, schlug sein väterliches Herz durch, und er pflegte dann mit höchsteigener Hand die schönsten silbernen Gespinnste auszubreiten, die er mitgebracht hatte, um die vom Erdenstaub befleckten Gewänder der Zurückgekehrten durch eine neue schimmernde Feentoilette zu ersetzen.

Als er nun Myriadora, wie alle die früheren, ganz geknickt und in sich gebückt beim Seitenpförtchen hereinschlüpfen sah, nicht gar lange, nachdem sie strahlend und schätzebeladen durchs Hauptportal ausgezogen war, machte er sich ungesäumt zu der üblichen Visite auf. Er freute sich diesmal weniger auf den Triumph des Rechtbehaltens - denn über ein so naives Gemüt wie das der Fee Myriadora zu triumphieren, schien nicht einmal dem rechthaberischen alten König genussreich - er freute sich auf die zärtlichen Glöckchen ihres Lachens, wenn sie unter seinen Händen im Glanz ihrer neuen Kleider wieder aufblühen würde zur wolkenlosen Bläue des Feenhimmels, der sich in ihren Augen spiegelte.

Väterlich milde sprach er sein Eh bien, hab' ich's nicht gleich gesagt? aus. Aber sie schüttelte unbekehrt ihr eigenwilliges Lockenköpfchen.

Wie? Das wäre! Sie hätte keine Schlechtigkeit bei den Menschen erfahren ? Keinen Undank ? Keine Bosheit? Und da sie nur immer stumm den Kopf schüttelte, fragte er endlich baß erschrocken: „Unglückselige Myriadora, Sie werden sich doch nicht etwa in einen dieser klebrigen Idioten verliebt haben?“

Dazu hatte ich gar keine Gelegenheit“, versetzte Myriadora, dem Weinen nahe. Und erst nach langem Drängen und Trösten brachte der alte König mehr aus ihr heraus. Alles war aufs Beste hergestellt worden ; schön wie nie ein irdisches Anwesen zuvor lagen Haus und Garten bereit zum Empfang der Gäste. Aber merkwürdig: Niemand trat ein. Alle zogen sie auf der staubigen, öden Landstraße dahin, eilfertig oder saumselig, leichtfüßig oder beladen, und keinem fiel es ein auch nur einen Blick auf die gastliche Pforte des Feenschlosses zu werfen. Warum verschmähten sie es? Warum wollten sie das Geschenk nicht annehmen, das ihnen zugedacht war? Warum gingen sie gleichgültig daran vorbei, als erwarteten sie auf ihrem Weg viel köstlichere Dinge zu finden?

Da konnte der alte König das Lachen nicht länger zurückhalten.

Pauvre chérie«, rief er. »Der Grund ist einfach: Diese Maulwürfe haben Ihr Schloss gar nicht gesehen! Es ist ihnen unsichtbar geblieben.“

Wieder schüttelte Myriadora betrübt den Kopf. Auf diese Vermutung sei sie endlich selbst gekommen; es hätten sich aber wohl Mittel und Wege finden lassen diesen Konstruktionsfehler, der nicht den Menschen sondern ihr selbst zur Last fiel, zu beheben. Allein als sie eben daran gehen wollte die Sichtbarkeit ins Werk zu setzen, trat ein Ereignis ein, das sie eines Bessern belehrte. Jetzt kam dieses Schreckliche, Unbekannte: die Erfahrung. Nein, nicht unsichtbar war ihr Schloss geblieben; nur als etwas ganz anderes erschien es, als etwas, nun, sie konnte nicht zweifeln: als etwas Längstbekanntes, Gewöhnliches, Alltägliches, das durchaus keine besondere Anziehungskraft ausübte. Das habe sie in dem Augenblick erkannt, als der erste Mensch die Schwelle ihres Schlosses überschritt. Gleichgültig schlenderte er durch die duftenden Laubengänge des Gartens, wusch sich am Brunnen die Hände, ohne einen Schluck aus der Quelle zu nehmen, die so wunderbare Gaben zu wirken bestimmt war. Dann setzte er sich ohne Umstände den gedeckten Tisch in dem mit Rosenholz getäfelten Saal, ergriff Gabel und Messer und rief: „He Wirtschaft! Wie lange muß man denn hier warten, bis man bedient wird?“ Dieses Auftreten war nicht gerade einschmeichelnd. Aber entzückt über die Anwesenheit eines menschlichen Wesens und noch ganz erfüllt von. ihren eigenen Vorstellungen über die Wonnen, die diesem Wesen beschert werden sollten, entschloss sich Myriadora im vollen Glanz ihrer Feengestalt zu erscheinen, um dem Ankömmling zu offenbaren, wo er sich befände. Mit klopfendem Herzen stellte sie sich vor ihn. Sie sah, wie die blanken silbernen Teller von den Reflexen ihrer Erscheinung golden aufleuchteten und die geschliffenen Krystallprismen des Kronleuchters in allen Regenbogenfarben von dem Licht funkelten, das von ihr ausstrahlte. Ach, zum erstenmal einem sterblichen Auge sichtbar werden, das ist auch für eine Fee ein Erlebnis ohne gleichen.

Der Ankömmling blickte auf. Er stieß seine beiden Hände mit Messer und Gabel auf den Tisch und rief mit der selben groben Stimme wie vorhin: »Was stehst du und gaffst? Hurtig, hurtig! Ich will essen, ich will trinken. . .“

Und da sie, ohne zu verstehen, unbeweglich blieb, fuhr er fort: „Glaubst du etwa dass ich deinetwegen in diese Bude gekommen bin? Da weiß ich mir andere als eine solche dürre Rockenspindel wie du. Also vorwärts, sonst mach ich dir Beine!“

War's möglich? Er hielt das Feenschloss für ein Wirtshaus und sie selbst für eine Küchenmagd! Ungläubig versetzte sie: „Aber sieh mich doch an, Unglücklicher! Ich bin die Fee Myriadora. Kannst du mich denn nicht erkennen?“

Eine Küchenfee bist du, und übergeschnappt obendrein, du Närrin“, schrie er zornig, indem er aufsprang.

Da zog sie es vor schleunig wieder zu verschwinden. Ohne noch einen Blick auf ihr Werk zu werfen, kehrte sie in das angestammte Reich zurück, froh mit heiler Haut entronnen zu sein.

Befriedigt ging der alte König von dannen. Nun war die Fee Myriadora gründlich von dem Wunsch geheilt den Menschen sichtbar zu werden, er brauchte sich um sie nicht mehr zu sorgen.

Wie groß aber war sein Erstaunen, als sie nach wenigen Tagen vor ihm erschien, um neuerdings Urlaub zu erbitten. Sie sei zu voreilig gewesen; denn was bedeute es schließlich, wenn einer nicht den Erwartungen entspräche, die man hegt? Es gebe ja noch unzählige andere. Ja, unzählige Möglichkeiten gebe es: Warum sollte sie sich also durch eine einzige Erfahrung abschrecken lassen?

So kam es, dass die Fee Myriadora abermals auf die Erde hinabstieg ihr Glück zu versuchen.

Und wieder kehrte sie ganz geknickt zurück. Aber nach einigen Tagen fand sie, dass auch zwei schlechte Erfahrungen gegenüber der Fülle der Möglichkeiten nichts zu bedeuten hätten; und das gleiche behauptete sie nach dem dritten, vierten, fünften Mal. Der alte König musste sich allmählich darein ergeben, dass die Fee Myriadora durch Erfahrungen überhaupt nicht klüger zu machen war. Wie oft sie auch enttäuscht wurde: immer wieder siegte ihr Glaube an die Fülle der Möglichkeiten. Die trug sie in ihrem eigenen Herzen.

Rosa Mayreder, geboren am 30. November 1858 in Wien; gestorben am 19. Januar 1938 ebenda, Schriftstellerin, Malerin, Frauenrechtlerin und Kulturphilosophin.

Vor und während des Krieges engagierte sie sich gemeinsam mit Bertha von Suttner in der Friedensbewegung und wurde 1919 Vorsitzende der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF). Sie kritisierte alle Formen des Militarismus, den sie als typisch männliches Machwerk analysierte.

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg konstatierte Mayreder scharfsichtig einen kulturellen Rückschritt ins 19. Jahrhundert.

Ambivalent blieb ihr Verhältnis zu Rudolf Steiner: zeigt der gemeinsame Briefwechsel ein echtes Angezogensein, so sind die Tagebucheintragungen von Missfallen an der Ferne des – wenn auch als Schriftsteller für bedeutend gehaltenen – Jugendgefährten vom Praktischen geprägt.

Das Feenschloss, aus: Sozialistische Monatshefte, 1912

Das Bild „Gartenstilleben mit Kätzchen“ ist von der Künstlerin.