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Freitag, 15. Dezember 2023

Herbst - so nett!

 



Herbst - so nett!

Himmel grau, die Kirchenglocken klingen,
dabei ist es ganz kurz vor vierzehn Uhr,
Nichtstun, Gewohnheiten geraten aus der Spur,
es fehlt ein Diener, mir zu bringen,

was ich gerade brauche für die unverhoffte Kur.
Der Tag verfing sich in den Schlingen
des Wohlseins, und in allen Dingen
zeigt sich meine recht phlegmatische Natur.

Angenehm: Aus dem Fenster kann ich schauen,
und verlass dabei nicht einmal das Bett.
Ich brauch nicht einmal etwas zum Kauen,

man sieht´s: ein guter Hahn wird selten fett.
Ich pflege gerad mein Urvertrauen,
ansonsten tu ich nix, Herbst - so nett!

Das Bild ist von Fritz Baumann (1886 - 1942)

Donnerstag, 14. Dezember 2023

Geh nicht auf den Gedankenstrich

 



Geh nicht auf den Gedankenstrich

Dezember. Und wirklich wahr:
Leise rieselt der Schnee.
Es ist, als ob nichts geschah.
Still und starr ruht der See.

Die Welt ward klein, die Sorge groß.
Die Menschheit hat sich aufgegeben
in ein gewisses Aussichtslos.
Wie gehabt: so weiterleben.

Wundere mich. Und manchmal werde ich still.
Wo nehmen sie nur diese Gewissheit her?
Was da alles an die Oberfläche will. . .
Das zu ertragen fällt mir schwer.

Die in der Kälte sieht man nicht,
und leise rieselt der Schnee,
über so vieles: Kein Bericht.
Still und starr ruht der See. . .


Das Bild ist von Arthur Segal (1875 – 1944)

Mittwoch, 29. November 2023

Hans Henny Jahnn - Aus: Fluss ohne Ufer

 



Am 29. 11. 1959 starb der am 17. Dezember 1894 in Stellingen geborene Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn in Hamburg. Hier einige Zitate aus seinem epochalen Werk „Fluss ohne Ufer“:

"Ich fuhr ein wenig später über die unvergleichlichen Hügel (. . . ) In der Ferne, tief unten, lag das Meer, bleich, grau, ausdruckslos, nur ein unbestimmtes nebliges Schimmern, weniger, ein Dunst. Es hatte nur seinen Geruch, der sich unbegreiflich mit dem von Moor und nassem sterbenden Laub mischte. Kein Tier am Boden zeigte sich mir; nur am Himmel schwamm die schöne gebrochene Linie verspäteter ziehender Wildgänse, die beinahe flüsternde, verhaltene Schreie ausstießen."

"Das Schiff fuhr mit dunklen bauchigen Segeln über den Abgründen, die mit Wasser ausgefüllt sind. Die Luft war ungewöhnlich lange nur voll leichter Wirbel gewesen. Der neue Tag, wie um den Triumph des weißen Lichtes zu überhöhen, war klar und kalt, ganz ausgeleuchtet mit dem Schimmer der silbrigen Helligkeit. Die Gegenstände an Deck erschienen allesamt hart, unförmig, gar nicht der geringen Bewegung von Wasser und Wind angemessen. Noch vor Abend strichen warme Schwaden um das Schiff. Unbegreiflich schnell mischte sich die fahle Kälte mit dem lauen Dunst. Nebelmauern rückten heran. Wolken, kaum wahrgenommen, fielen schon aus der Höhe herab und umdampften das Schiff. Masten und Segel wuchsen riesenhaft. Vor kurzem noch war der Horizont das Maß aller Dinge gewesen. Jetzt war das Sichtbare verengt. Das Gebilde aus Menschenhand schwebte im Nebelmeer, war von der Erde abgestürzt."

"Und die Zeit, ein stetiger unaufgeregter Strom, trieb langsam vorüber, dem grauen verkümmerten Stern zu, der das Gewesene speichert, um es allmählich zum Wirkungslosen zu verstauben."

„Es kam der Augenblick, wo die Wände des Logis sich verwandelten und zu Spiegeln wurden. Weite Glaslandschaft, in der das Bild jedes einzelnen gefangen wurde. Aber es waren nicht nur ebene glitzernde Spiegelscheiben, in denen man das eigene Antlitz, den ganzen Körper, anfangs bekleidet, dann nackt und schließlich durchscheinend sah. Der Raum hinter den Dingen zeigte sich“

"Ich hatte keine rechte Hilfe bei meinem Unterfangen. Die Erde unter meinen Füßen sang nicht mit. Das Meer vor mir, dessen Wellen im Sand auslaufen, gab mir nur einen verworrenen Schwall. Mir lagen die Melodien der tausend Volkslieder nicht im Ohr. Ich war auf mich allein gestellt, als wäre ich ein Mensch am Anfang der Zeiten gewesen. Schwerfällig ausgerüstet mit einer Flöte, die nur fünf Töne gibt."

„Gedanken, die Rosse, die schnell an allen Orten sind und ihre Hufe nicht in die Zeit setzen, sondern in das Moos der Träume.“

„ein eisiger Wind aus dem östlichen Raum streicht“: „Er hat den ersten Schnee hungrig aufgeleckt. Der Boden liegt wieder nackt da. Die gläserne Kälte verwandelt die Kruste der Erde. Ätzender Staub klirrt über die Äcker. Die kahlen Laubbäume schaukeln steif und leise klappernd.“

„Schöner als die Fische waren die gelben beweglichen Sonnenreflexe auf dem steinigen Flussbett. Das Schönste aber war der Ton des Wassers, das Lispeln der Blätter und das traurige Schweigen der herabschauenden Berge.“

„… Man wurde an das knorrige finstere Dachgeschoß eines alten Speichers erinnert, an Mühlen die an den Sünden ihrer Besitzer geisterhaft verödeten. …“

„Man wird nicht schlecht, wenn man aufhört an Gott zu glauben; man wird nicht einmal natürlicher – allenfalls wird man behutsamer im Urteilen – und duldsamer gegen lästige Wahrheiten.“




Jahnn war vor allem wegen seiner drastisch grenzüberschreitenden literarischen Darstellungen von Sexualität und Gewalt stark umstritten. Mit seinem literarischen Werk zählt er laut der Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1981) zu den „großen produktiven Außenseitern des 20. Jahrhunderts“. Er verstand sich als Antimilitarist, wandte sich gegen jede Doktrin einschließlich Rassenhass und Todesstrafe und lehnte Gewalt, auch gegen Tiere, ab.

Er emigrierte 1915 zusammen mit dem späteren Musikverleger Gottlieb Harms (1893 - 1931) nach Norwegen, um dem Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg zu entgehen. Beide lebten in Aurland am Aurlandsfjord. Jahnn sagte zu dieser Zeit: „In dieser Zeit habe ich leben gelernt, habe ich die Welt durchschaut und alles gesehen, woraus Leben besteht. Es war eine harte Schule.“ Ende 1918 kehrten beide zunächst nach Hamburg zurück.

Jahnn zog wenig später für kurze Zeit aufs Land bei Eckel. Hier lebte er mit Gottlieb Harms und Franz Buse (1900–1971, damals Bildhauer) zusammen. In dieser Zeit entwarf er mit seinen Freunden das groß angelegte Projekt einer Künstler- und Lebensgemeinschaft, das sie Ugrino nannten. Diese Gemeinschaft entstand – wie viele ähnliche Gruppen in der Weimarer Republik – aus dem Bedürfnis nach neuer Sinnstiftung und als Alternative zu der von vielen als enttäuschend empfundenen Situation nach dem Ersten Weltkrieg. Die Gemeinschaft Ugrino wollte Kunstwerke aller Art erhalten und neue schaffen.

Im Jahr 1919 veröffentlichte Jahnn das Drama Pastor Ephraim Magnus, für das er 1920 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wurde (Uraufführung 1923). 1925 entstand seine Tragödie Medea, die 1926 erstmals inszeniert wurde.

Jahnns expressionistischer Roman Perrudja (Bd. 1) erschien 1929. Fragmente des zweiten Bandes wurden aus dem Nachlass veröffentlicht. Seit 1934 wohnte er auf Bornholm in Dänemark, wo seine Schwägerin auf Jahnns Rat einen Bauernhof erworben hatte, den er zunächst selbst bewirtschaftete, später wurde der Hof Bondegård verpachtet, dann verkauft. Jahnn bezog eine kleine Kate („Granly“) in unmittelbarer Nachbarschaft, schrieb und lebte dort mit seiner Geliebten Judit Kárász, einer jüdisch-ungarischen Emigrantin und Bauhaus-Fotografin zusammen.

Auf Bornholm verfasste er den größten Teil seines Hauptwerkes Fluss ohne Ufer, einer Romantrilogie von über 2000 Seiten: Band 1 Das Holzschiff (Erstveröffentlichung 1949), Band 2 Die Niederschrift des Gustav Anias Horn nachdem er 49 Jahre alt geworden war (erschienen 1949/1950) und der nicht abgeschlossene Epilog, der 1961 aus dem Nachlass erschien. 

Nach einer Lesung aus der noch nicht publizierten „Niederschrift des Gustav Anias Horn“ im Jahr 1946 beispielsweise bemerkte Jahnn mit Blick auf dieses Werk, „die geschriebenen Worte“ seien „rhythmisch eingeordnet“ und vermittelten „nicht nur eine Bedeutung“, „die durch Übereinkunft festgelegt wurde“, sie seien „vielmehr, wie seit Urzeiten an den Rhythmus, an die Musik der Sprache gebunden“; und er fügte hinzu: „Ich meine, daß es für einen einsichtigen Leser unmöglich ist, zu verkennen, daß Motive, Themen und Strophen die Grundlagen meiner Darstellung geworden sind.“

Schon als Jugendlicher befasste sich Jahnn mit dem Orgelbau. Während seines Aufenthaltes in Norwegen (1915–1919) erwarb er die Kenntnisse dazu durch ein umfangreiches Studium klassischer Lehr- und Handbücher des Orgelbaus, allerdings ohne eine handwerkliche Ausbildung zu absolvieren. Nach der Rückkehr nach Hamburg setzte er sich für die Restaurierung norddeutscher Barockorgeln ein (z. B. Der Arp-Schnitger-Orgeln der Hauptkirche Sankt Jacobi (Hamburg) und der Ludgerikirche (Norden)). Außerdem betätigte er sich auch als Komponist. 


          

Samstag, 11. November 2023

Legende

 



Legende

Es sollte kurz vor dem großen Feuerwerk sein,
als er sein Verschwinden begann.
Fuhr noch einmal in die Stadt, begleitet
von seiner seligen Fahne, und
stieg aus bei dem Imbiss, den Geschmack
der Currywurst/PommesMajo schon auf der Zunge,
all diese Jugenderinnerungen schmeckte er, und es war damals,
mit den Freunden zu Jimmy hinter Schiffdorf, der
bekanntermaßen die beste Currywurst weit und breit brutzelte,
da lohnte sich der Weg,
oder auch, wie er mit Heinzi von Imbiss zu Imbiss zog,
das irgendwo ergaunerte Geld, welches
das karge Taschengeld aufstockte, klimperte in den Taschen,
D-Mark noch,
und großmäulig bestellten sie sich Koteletts und Pommes und Bier,
und beim nächsten Imbiss wieder, und Frikadellen mit viel Senf,
und aßen bis die Bäuche fast platzten, und
die letzte Frikadelle blieb liegen

Der Imbiss, zu welchem er wollte, als
er sein Verschwinden begann, der hatte geschlossen, heute
an diesem besonderen Tag, auch
die Büchersammelstelle, wo die Bände zum Tauschen standen,
dunkel war der Raum, wo er doch Sehnsucht nach
seinem Orakel hatte, als sein Verschwinden begann,
und so trug er kein Buch, und so gab es keine jugendzeiterinnernde
Currywurst mit PommesMajo, und er ging tiefer stadteinwärts, während um ihn
die Cliquen des Festvolkes wallten, und langsam
zog er aus der linken Tasche seiner Jacke das Päcklein
mit den letzten drei Zigaretten, Aktive, und er durchsuchte
Tasche um Tasche, Hosentasche vorne links, Hosentasche vorne
rechts, Hosentasche hinten rechts, Hosentasche hinten links, schüttelte
den Kopf und warf das geknüllte Papiertaschentuch aus Hosentasche
hinten links mit kurzer Geste auf das Pflaster des Viertels, und er
durchsuchte Tasche um Tasche, Jackentasche außen links,
Jackentasche außen rechts, Jackentasche innen links, wo
er es fand, sein mitternachtsblaues Feuerzeug, und
er entnahm der Packung eine der letzten drei Zigaretten, Aktive,
und er ließ das Feuerzeug Funken schlagen,
bis es entbrannte, und er hielt die Flamme an die eine
der letzten drei Zigaretten, Aktive,
und tief zog er den Rauch ein

Und es schmeckte, vermischt mit der Würze des Wodkas, nach
den Zigaretten der Jugend, wie war es so wunderbar, mit
der leuchtend orangefarbenen Packung Ernte 23 in der oberen
Jackentasche der hellen Cordjacke, so drapiert, dass
das Orange gut zu sehen war: Seht, ein Mann. Der raucht schon.
Und eine D-Mark kosteten sie, elf Stück, und einmal
kam ein Polizist vorbei auf der Straße,
schaute ihn an, fragte nach seinem Alter und
nahm ihm, dem Mann, der raucht schon, die orangefarbene
Packung ab. Fast voll war die noch. Und
er schmeckte die Zigarette der Jugend, vermischt mit der
Würze des Wodkas, und das feierwillige Volk wogte ihm
in Scharen entgegen, und ab und zu zerbarst
am Himmel das Sterngold, das Feengrün, das Wolkensilber,
und es roch nach dem Pulverdampf der Jugend, und
es klang nach den zerberstenden Briefkästen, und
es roch nach der Zigarre in der Hand, den unförmigen Fidibus
zum Entzünden der Lunten,
und begleitet von den Erinnerungen wogte er gegen
den Strom,
und an einem Kiosk kehrte er ein. Und er entsann sich der
alten Namen, Flachmann, Trinkhalle, und er holte Flachmann
von Trinkhalle um Flachmann von Trinkhalle für den Vater und
durfte Süßes sich kaufen beim Holen des Flachmanns,
Veilchenpastillen, Lakritzeschnecken, und diese
duftigschwarzen Lakritzepfeifchen mit dem Zuckerguss auf
der Haube und das Ahoibrausepulver, das so schön auf der Zunge
zerbarst, und
das alles war vergiftete Gabe, eine Ablenkung nur
für den Augenblick, denn am Abend weinte wieder
die Mutter, und manchmal
gab es Schläge

Und er wusste sein Wollen, und er kaufte
einen Flachmann, nichts Süßes, und
in der Schaufensterscheibe des Kiosk erblickte er
das Antlitz des Vaters, und er winkte kurz, und
wandte sich wieder seines Weges zu, als
er sein Verschwinden begann, und noch einmal trank er
den tiefen Schluck, und ab und zu zerbarst
am Himmel das Sterngold, das Feengrün, das Wolkensilber,
und die Zigarette an welcher er zog, Aktive, schmeckte
nicht mehr nach Jugend, der Rauch wurde
schal in den Lungen und im gekonnten Bogen warf
er sie auf die Fahrbahn, wo sie funkenschlagend überschlagend
sprang und zum Erliegen kam als einsames Glimmen während
am Himmel das Sterngold, das Feengrün, das Wolkensilber
zerbarst

Es sollte kurz vor dem großen Feuerwerk sein,
als sein Verschwinden begann. In den Hauseingängen standen
die Dealer, zischten die Worte dem Vorbeigehenden zu, dem
Verschwindenden, und am Hot-Dog-Stand vorbei, und da
machte er noch einmal kehrt, denn einen Euro hatte er
noch, das war das Angebot. Und er ging
zu dem Hot-Dog-Stand, bestellte, bekam, bezahlte,
und im Weitergehen schmeckte er saure Gurkenscheiben und
geröstete Zwiebeln und dreierlei Sauce und Wurst und
Brötchen und es war kein Geschmack seiner Jugend und
so wagte er eine erneute Halse, während die Dealer aus den
Hauseingängen ihre Worte zischten, denn einen
Euro hatte er noch, das war das Angebot. Und
er ging zu dem Hot-Dog-Stand, bestellte, bekam, bezahlte,
und im Weitergehen schmeckte er saure Gurke und am Himmel
zerbarst das Sterngold, das Feengrün, das Wolkensilber, und
der Hot-Dog schmeckte nicht nach der Jugend,
was ihm gefiel

Und im Gehen gegessen, so schnell und im Munde den Geschmack
der sauren Gurkenscheiben und der gerösteten Zwiebeln, der
dreierlei Saucen und er wartete auf die Linie 3, dass sie ihn
wieder aus der Stadt hinaustrug, denn seines Bleibens war hier
nicht mehr. Diesmal, im Warten, wusste er wo
sie war, die Packung mit den letzten beiden
Zigaretten, Aktive, linke Hosentasche vorn, und das mitternachtsblaue
Feuerzeug dabei, und die Zigarette schmeckte nicht mehr
nach Jugend, und als die Linie drei kam,
warf er sie fort

(An der Endhaltestelle stieg er aus, ging
zu der nahen Dönerbude, denn dreiEurofuffzig hatte er noch
und immer noch hungrig, zwei Hot-Dogs, das ist nicht so
viel, und hinein ging er und gab sein letztes Geld „Huhn oder Lamm?“ und
es sollte Lamm sein, mit allem dabei, und beim Weg in die Dunkelheit
aß er, und er aß im Gehen, und dann
suchte und fand er schnell, nachdem er gegessen, im Gehen, die
Packung mit der letzten Zigarette, Aktive, und fand auch das mitternachtsblaue
Feuerzeug schnell, und nichts schmeckte mehr nach Jugend, er
rauchte, am Himmel zerbarst das Sterngold, das Feengrün,
das Wolkensilber, und als die Kippe glimmend über den Asphalt kullerte
wurde es dunkler, und dunkler wurde es, und es verließen ihn
die Häuser der Stadt, es kamen die wartenden Bäume, entlaubt,
und sein Verschwinden begann)

Die Illustration ist von William T. Horton (1864  -  1919)

Dienstag, 31. Oktober 2023

Egon Schiele: Eine Jugendliebe

 



Margarete Partonek war die erste große Liebe des 16-jährigen Egon Schiele. Seine Briefe an sie geben nicht nur seine Zuneigung für sie preis, sondern fördern auch die ersten lyrischen Gehversuche des Künstlers zutage. In diesem Jahr (1906) wurde der 16-Jährige in die Wiener Akademie der bildenden Künste  aufgenommen. Wie lange genau diese Jugendliebe gewährte, ist nicht bekannt. 




An mein Ideal

I.

Der Kunst, der reich ich meine Rechte
Der Malerei streck ich sie hin,
Wenn’s nur was zweites geben möchte,
In Klosterneuburg oder Wien.

II.

Das nächste oder drauf das Jahr
Werd’ ich müssen weg von hier,
Mit der Hand und lockigen Haar,
Das ist der Künstler beste Zier.

III.

Und das zweite, – – ist mein Gretchen,
Dir reiche ich meine beiden Händ’,
Du bist das allerliebste Mädchen,
Mein Lieb, dass ich nur jemals fänd.

IV.

Du ros’ge reizende Natur,
Du herzzerreißende Figur,
Dir lacht der Frühling lieb entgegen
Mit wonn’gen Tagen, still verlegen.

V.

Nur luna [!] soll es einstens seh’n,
Der kann dann ruhig vorrübergeh’n;
Doch höre jetzt und schreib an mich
In kurzer Zeil’ – ich liebe dich.

E. [Egon] Schiele

30.III.06.



Woher haben Sie denn das erfahren?
Das ist mir jetzt noch nicht im Klaren;
Wohl kenn ich manches Mägdlein hier
Doch dafür [durchgestrichen] darum, kann ich nicht’s dafür.

Das machte einst der Jugend Freude
Und dieses tat mir viel zu Leide,
Dies Fräulein ist von blondem Haar,
Es hat ein braunes Augenpaar.

Doch längst vergessen ist die Zeit
Mit vielen Neid und Streitigkeit;
Jetzt dank’ ich Gott, den edlen Hort
Für dies Erlös, mein Ehrenwort.

Viel länger könnt’ ich dahin schreiben; –
Nur bitt’ ich dieses nicht zu zeigen,
Sie werden wohl das Fräulein kennen,
Die auf der Karte schrieb

„L. B.“ [?]

SCHIELE.

31.III.1906.



Mein Lieb

Und sollt’ ich Dich jetzt noch nicht lieben,
So sieh Dir meine Augen an,
In dessen Innern steht’s geschrieben,
Daß das nicht ist, ein kurzer Wahn.

Und solltest Du mir’s noch nicht glauben,
Daß ich zu lieben Dich begann,
So sieh Dir meine Lippen an – –;
Die werden manchen Kuß Dir rauben.

Und wolltest ihn vielleicht nicht haben,
Gestohlen sollt er doch nicht sein;
Nur Liebende, die gern’ sich haben,
Die küssen sich so ganz allein.

Und kann ich dich jetzt nicht erlangen,
So schick’ ich Dir viel herzlich Grüß;
Und schick Dir auch, auf Lipp und Wangen,
Viel tausend zuckersüße Küß.

Wenn diese Schrift, mit roter Tint'
Erhalten hast, am heut’gen Tag
So denk’, daß zweie es nur sind,
Denen ich einmal was G’schriebnes gab.

S. [Schiele] Egon.




Der erste Kuß der Liebe!

Traumgebilde, Fantasien
Schweben vor des Jünglings Blicken,
Und der Lieb’ Magnete ziehn
Hin zu ihr, ihn zu entzücken.

Und er sieht sie vor sich stehen,
Und es faßt ihn mit Gewalt
Und reißt ihn gleich, Sturmeswehen
Blitzesschnell hin zu ihr bald.

Und die braunen Haare hängen
Sanft, geschmeidig, dicht herab
Über ihren roten Wangen,
Denen Lieb’ das Glühen gab.

Und nur Freundlichkeit nicht Tücke
Spielen um den schönen Mond
Und ihr geben, seine Blicke
Was die Zarte fühlet kund.

Es erfaßt ihn mit Entzücken
Und im seel’gen Hochgenuß
Drückt er auf die ros’gen Lippen,
Seiner Liebe – ersten Kuß.

Margarete Partonek an Egon Schiele




Liebstes Fräulein. . . 

Mein neues „Drüben“ verdirbt mir meine ganze Aussicht. Früher konnte ich Sie
wenigstens hinter einem grünen Versteck sehen, doch jetzt ist dieses Dach am Fenster zu kurz.

Warum schreiben Sie nichts mehr so wie vor einigen Wochen? Wenn solcherlei Sachen bis jetzt noch niemand außer den Nächsten in unserer Umgebung weiß, glaube ich wird es niemand, am wenigsten bei Ihnen in der Schule erfahren; vorausgesetzt daß Sie selbst nichts weiter Ihren Freundinnen & Kolleginnen sagen oder vorlesen. Sie haben mir erst drei Schreiben durch Ihren Bruder geschickt, die bei mir gut aufgehoben sind, während ich Ihnen deren schon mehrere
zukommen lassen haben [!].

Würden Sie vielleicht wirklich nicht schreiben können, aus Gründen die Sie mir
nicht sagen wollen, so gibt es noch ein Zweites, bei dem ich an Ihrer Stelle keine Ausrede finden würde. Sie gehen abends oft auf der Gasse mit Fräulein Hermine, könnten Sie nicht zumindest den Weg in eine andere Gasse einschlagen? Es kommt nur an Ihren Willen an den Sie leicht bezwingen können; dann möchten Sie Ihre Worte erfüllen, die Sie mir so deutlich schrieben. Wie oft gehen Sie in die Obere Stadt, wie z.B. am Montag, da könnten Sie doch diesen vorhergenannten Weg beim hin oder Retourgehen benützen.

Wenn ich auch jetzt vielleicht Unangenehmes schrieb, so bitte ich um Verzeihung, denn aus vielen werden Sie sehen, daß ich so schreibe wie ich denke. Würden Sie mir Verzeihung nicht gewähren, so bitte ich dieses zurückzusenden.
Hoffentlich aber werden Sie von meinen Ratschlüssen auswählen, so daß nicht der schönste Monat ohne Ausnützung verfließt.

Sie sind jeden Sonntag fort am 22. waren Sie in Hadersfeld, wo waren Sie am letzten Sonntag? Umsonst werden Sie nicht Ausflügemachen. Es grüßt Sie herzlichst 

Ihr ES [Egon Schiele]

Egon Schiele, geboren am 12. Juni 1890 in Tulln an der Donau, Österreich-Ungarn; gestorben am 31. Oktober 1918 in Wien, Maler des Expressionismus. Neben Gustav Klimt und Oskar Kokoschka zählt er zu den bedeutendsten bildenden Künstlern der Wiener Moderne.



                                      Gemälde Egon Schieles von 1906



Ein Mädchenbildnis Egon Schieles aus dem Jahr 1906, wohl nicht Margarete Partonek


Donnerstag, 26. Oktober 2023

Zum Andenken an Gusto Gräser: Über Kindererziehung

 



„Wir brauchen einander. Dies einzusehen ist die Grundlage für eine friedliche Weltordnung unter uns Menschen und mit unseren Mitlebewesen im Mineralien-, Pflanzen- und Tierreich. Frieden kann es nur dann geben, wenn wir in Frieden mit der Natur leben. Der Mensch der Zukunft wird im Einklang mit der Schöpfung leben müssen, wenn er überleben will“ Gusto Gräser, geboren am 16. 2. 1879 in Kronstadt, gestorben am 27. 10. 1958 in München.

Die Eremiten rund um den Monte Verità waren allesamt keine Leib- und Liebesverächter, im Gegenteil  . . .  So notiert Adolf Grohmann 1903 auch von Gusto Gräser: "Er hat vor, sein Felsenheim zwar klassisch einfach, aber doch malerisch und gemüthlich auszugestalten aus allerhand Siebensachen, die er sich zusammensucht, und dann eine Lebensgefährtin zu suchen, ein braves und schönes Felsenweib, das er gewiss noch finden wird, denn er ist ein schöner Mann und von der grössten Liebenswürdigkeit, offen, wahr und treu"

Adolf Grohmann: Die Vegetarier-Ansiedelung in Ascona und die sogenannten Naturmenschen im Tessin. Halle a. S. 1904.


Gusto Gräser will das Wort "Erziehung" ganz abgeschafft wissen, will es durch "Räumung" ersetzen. Es geht ihm darum, Raum zu schaffen für den jungen Menschen, für die Entfaltung aller seiner Möglichkeiten.

Zur
Kindheiterkeit
samt Dummlichkeit -
zu Räumung statt Erziehung.

*

Dort - allweil zügeln, zäumen:
"Du sollst, sollst nicht, du darfst".
Hier - Rahmen schaffen - Räumen, und:
"Treib, was Du bedarfst.“

*

Besser wild und ungezogen,
aber artig, herzensecht -
statt verbogen und verlogen, um die Blühekraft betrogen
und so "artig" wie ein Knecht!
Ob auch alle Zimprer quitschen und die ganze Tantschaft schreit,
Äppel, Birn' und Nüss' stibitschen und mit heiler Haut entwitschen -
das gehört zur Seligkeit!

*

Dort grausam weichliche Misshandlung -
hier mildfest führende Hand

*.

Dort lieblos laues Vielgered -
hier herzhaft biedere Weisung.

*

Dort viel und hohl -
hier wenig und wohl


Wir können diesen kurzen Ausflug in die gräsersche Kindheiterkeit beschließen mit dem Urteil des Augenzeugen Erich Mühsam. "Die Erziehung des kleinen Habakuk zu beobachten, wirkt dieser innerlich verlogenen Verbildung des Kindergemütes gegenüber, wie sie die besten Eltern im besten Glauben betreiben, einfach erlösend." Aus: Ascona. Eine Broschüre. Carlson, Locarno 1905 34f.

Zitiert aus: Der Zauberlehrling Otto Groß und Gusto Gräser, Hermann Müller 1998

Das Foto zeigt Gusto und Elisabeth Gräser mit Kindern auf einer Wanderung mit Pferdewagen

Sonntag, 22. Oktober 2023

Kein Wort verloren

 



Kein Wort verloren

So also:

Wundere mich über mich selbst,
dass mir noch immer Verse kommen,
unbestellt, wenn auch
insgeheim erhofft,
Tau des Alters
Reif des Herbstes

mir,
Kind des Friedens,
waghalsiges Wunder
Kontinentalverschiebung
und Annäherung zugleich

wundere mich auch
über andere Wunder,
über das Wunderbare selbst
und manchmal trage ich
eine Flöte bei mir

Nichts ist vorhersagbar

„Scheuche sie weg,
die weißen Engel!“
sagte meine Mutter zu mir,
wenig später: „Jörg,
ich sterbe wohl“,
„Ja“ antwortete ich

In diesen Minuten
unseres intimen Beisammenseins
wurde unsanft die Tür
geöffnet,
eine Schwester kam laut herein

Meine Mutter kam noch
einmal zurück,
um drei Tage später
zu sterben

Nichts ist vorhersagbar

Auch mein Sohn ließ sich Zeit:
Als er vierzehn Tage
nach dem anvisierten Termin
nicht ankam, verweigerte
unsere Hebamme die Hausgeburt

Auch im Krankenhaus dann
dauerte es noch,
und nach mehreren Stunden
Presswehen
entschieden sich die Ärzte für
Kaiserschnitt

Wenige Zeit später
hielt
ich den kleinen Kaiser im Arm
Er schaute mich an,
tiefernst und forschend

Nichts ist vorhersagbar
Es gibt vieles,
was ich nicht zu sagen vermag

In meinen Gedichten
ist es dennoch zu finden
Was nicht aus Liebe getan
ist wie ungetan
Worte fallen wie in tiefe Brunnen,
es gibt welche,
die nicht gut tun -
demnächst gehe ich wieder
in die Wälder,
wenn die Zeit dafür ist

Freitag, 20. Oktober 2023

Singe, Seele.

 



Singe, Seele.

Der erste Herbststurm lässt die hohen Pappeln sich beugen. Alle Antworten sind benannt. Keine Frage ungefragt. Die Sonne. Das Licht. Der Wolken wanderndes Grau. Die Hölle, die Teufel, der Tod. Die Engel der Höhen. Der Schmerz. Keine Weigerung mehr, das anzunehmen.

Der Humor spricht zum Schmerz:
Ich lasse dich schwinden, indem ich erheitere.

Das Lachen spricht zum Schmerz:
Ich lasse dich schwinden, indem ich fröhlich stimme.

Die Liebe spricht zum Schmerz:
Ich lasse dich schwinden, indem ich
den Mantel des Schweigens über dir ausbreite.

Das Erwachen spricht zum Schmerz:
Ich lasse dich schwinden, indem ich die Welt hell werden lasse.

Die Barmherzigkeit spricht zum Schmerz:
Ich lasse dich schwinden, indem ich dir Balsam reiche.

Der Trost spricht zum Schmerz:
Ich lasse dich schwinden, indem ich
wohlige Wärme um dich hülle.

Es kommen so viele, die sprechen.

Der Schmerz blickt stumm. Er weiß um seine Stunde.
Da spricht das Annehmen zum Schmerz:
Schön, dass du da bist!

Und der Schmerz lächelt.

(und der erste Herbststurm lässt die Blätter auf dem Pfad tanzen)


(Das Bild hat mein Sohn im Alter von 7 Jahren gemalt)

Mittwoch, 18. Oktober 2023

Am Ende eines weiten Weges

 



Am Ende eines weiten Weges

Wer vermag sich noch zu erinnern
an die Anfangssequenz
von 2001 - Odyssee im Weltraum?

The Dawn of Man
wessen Phantasie entsprungen?
Kain und Abel
Der Wagenlenker-Gott
Einflüsterer der Ewigkeit
So lassen sich Kriege führen,
zum Kriege verführen

Das Wort zum Sonntag von Meister Laya,
der Avocado Diaboli unter den Apfelsinen:
„Die Reinkarnation des Mettbrötchens
ist der Falsche Hase!“
Buddha ist eine Aristokratenangelegenheit

Anekdoten:

Als. . .

Gary Snyder, aka Japhy,
der amerikanische Dichter und
Übersetzer des Han Shan,
den Beatniks entflohen
sich einem Zen-Kloster näherte,
um Adept zu werden
wurde Beat das große Ding

Als. . .

Peter Kropotkin Lenin traf,
entspann sich ein Gespräch

Trotzdem bekam er eine Art
Staatsbegräbnis

Als. . .

ein anderer Peter den
Bergbach übersprang,
träumen so viele wie Peter Munk,
in Bitcoin, Schwanengesänge
alle Ängste und Sorgen abgelegt
wer bezahlen kann ist im Recht

Als. . .

Diogenes, kosmopolítēs, „mehr Licht“ bedarfte:
"Geh mir ein wenig aus der Sonne!"

Als. . .

Gusto Gräser an die Wand gestellt wurde,
ließ er sich erschießen,
kehrte nach einem Ausflug in die Psychiatrie
zurück in seine Höhle,
Demian zu bekehren

Als. . .

David das Großmaul
einfach niederschoss
(so eine Steinschleuder
trifft auf dreißig Meter tödlich)
um dem Faustkampf zu entgehen
(und König zu werden)
wurde er Jahrhunderte später
wiedergeboren,
so heißt es,
um den Colt zu erfinden.
Der ist nämlich noch effektiver

Als. . .

der Übermensch ein Pferd umarmte
und Zeit ins Land ging,
etwa siebzig Jahre,
bekam ich endlich die Antwort
(Von einem Weinbauern während eines
Seminars über biologischen Anbau):
„Jede Ente quakt anders und immer verschieden“


Als. . .

noch ein Peter,
seines Zeichens evangelischer Pastor,
mich einen Haufen Rindenmulch
von A nach B schaufeln ließ,
antwortete ich auf die Frage einer Touristin
ob meines Tuns:
Glaube versetzt Berge

Als was möchtest Du wiedergeboren werden. . .?


(Das Bild „The open Road“ ist von Edward Reginald Frampton 1870 - 1923)

Donnerstag, 12. Oktober 2023

Aus: Der Galoppierende Wortschwall (I)

 



Der galoppierende Wortschwall

(lautundschnellzusprechen)


I  Auf ein Wort 1

Taschenaschenbecher

Taschenaschenbecher
Becheraschentasche
Taschnaschenbecher
Taschenbecherasche
Taschenaschenäscher
Natuschen naschen näscher
Gamaschen waschen wäscher
Raschen laschen Häscher
Rasche rascheln Häscher
Häscher fäscheln Fäscher
Bartaschenaschenäscher
Baschtaschen Däscher
Losch laschen Löscher
Taschaschenflasche
Aschtaschenflasche

Auf ein Wort:
Taschenaschenbecher


II  Storsch und Frosch


Es war mal einen Schtorsch,
der heischte Schorsch.
Der frasch gansch forsch
einen Frosch.
Geschmecket hatsch ihm dosch.

Wenn isch denn wieder wüscht,
wasch losch,
dasch wär famosch.


III Aufgeschnappt

Also wenn isch keine
E-Herd kriejsche
werde isch nisch
schderbe


IV Feldforschungen 1

Eigener Herd ist Goldes Wert.
Wer erdwärts fährt
fährt nie verkehrt,
denn Goldes Wert
ist, wie man hier erfährt,
der eigne Herd.
Viel mehr wert
als ein eignes Pferd
ist eigner Herd:
denn der ist gülden Goldes wert.


V Laut gemalt

Agathenburg
Ah! Gartenburg
Aga tenburg

A GA TENBU RG

tenbu
tenbu
tenbu

AGGADDABBABURCH


VI Schlemmerdämmerung

Schlimme Schlemmer schlemmen ungehemmt
Ungehemmte schlimme Schlemmer
Stemmen ungehemmt die Hämmer,
Die schlimmen Hämmerstemmer
sind ungehemmte schlimme Schlemmer.


VIII Feldforschungen 2

Wer andern eine Grube gräbt
Wer andern eine Tube trägt
Wer wandernd ein Grabe grubt
Wenn samstags er am Grabe tubt
Wer andern eine Trübe trägt
Wer trübe eine Grübe frägt
Wer ungefragt hier graben tut
Der verliere nicht den Mut.


IX Auf ein Wort 2

Osttangente

Tangentoste
Tostenente
Tantentoaste
Trostetante
Ostertante
Tangtenoste
Gentannoste
Paternosterente
Naterposterrente
Rentenpostertante
Posterrantentante
Ranntenpostertante
OsternAnDerTanke
TankeRosterRannte
Tangostente
Tantentosterroste
Toasterrostetante
Tangentoste

Auf ein Wort:
Osttangente



X Warten

Warten



Warten



Warten


XI Feldforschungen 3

Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.
Klug ist er noch lange nicht, eher schlicht.
Ein Betrug ist dies Bereden nicht
Wer hinterfrug dies, lange her, bei Licht?
Der schlug so lange, dabei nasser, wie er ficht.
Doch geht der Zug noch lang nicht vor Gericht.
Der Bäcker buk die Brötchen eher schlicht.
Der mit der Faust zu lang ins Wasser schlug, bekam die Gicht.
Der Krug geht halt so lang zu Wasser, bis er bricht.

(Wer bricht, der ist nicht klug und kennt das Wasser nicht)



Die Illustration ist von Wassily Kandinsky (1866  -  1944), aus: R. Piper, München 1913

Samstag, 23. September 2023

Aus der Wortwerkstatt: An einem trüben Tag geschrieben

 



An einem trüben Tag geschrieben

Die Strümpfe von den Damen werden wieder blickdicht,
und braun die Röcke aus grobgestrickter Wolle;
und während mir der Nebel Tränen in die Haare flicht
erwacht dort oben, müde gähnend, die Frau Holle.

Im Laub der Ulmen zeigen sich die andren Farben,
gelb und siena im fahlen Grün am Hang.
Sie wirken müde, wie auch die Amsellieder hier erstarben,
der Sommer währte keine traute Stunde lang.

Wie fehlt mir diese Leichtigkeit im Beieinandersein,
das Ineinanderfließen zweier Körper, nackt und warm,
nur Lust, im Atem eine Spur von schweren roten Wein,
um unverhüllt dann wohlig einzuschlafen, Arm in Arm.

Nun tragen wir wieder diese dunklen Schichten auf,
und milchig blass wird unter groben Tuch die Haut.
Sag, welche grauen Geister beschwören wir herauf?
So dunkel wird die Stätte, so lichtlos und so unvertraut.

All die frohen Feste unter Himmelblau: Erinnerungen.
Schemen. Schimären. Schatten ohne liebliche Gestalt.
So hat sich auch mein Lied ausgesungen.
Ich gehe nun. Die Welt wird klamm und kalt.


Das Bild ist von Félix Valloton (1865 . 1925)

Dienstag, 19. September 2023

Die wundersame Welt des John Elsas, 2. Teil

 

John Elsas um 1929


John (eigentlich: Jonas Mayer) Elsas, geboren am 6. Juli 1851 in Frankfurt am Main; gestorben am 5.Juni 1935 ebendort, brachte ein Berufsleben als Kaufmann und Börsenmakler hinter sich und begann erst 1927, im Alter von 76 Jahren, mit seiner intensiven Arbeit als Bildender Künstler. Eines seiner Aquarelle versah er 1930 mit dem Text: „Mein ganzes Leben war ein Fehler / da wurd ich Maler und Erzähler“. Elsas’ umfangreiches Œuvre wurde um 1930 von der Kritik anerkennend besprochen; danach geriet es für rund 70 Jahre in Vergessenheit. Tochter Irma ordnete und verpackte den umfangreichen künstlerischen Nachlass. Von den Nationalsozialisten wurde ihr Vermögen konfisziert, der Grundbesitz „arisiert“. Sie lebte in Frankfurt zuletzt in einem so genannten „Judenhaus“, bevor sie am 18. August 1942 in das Durchgangs- und Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde; dort starb sie am 1. Mai 1944.

Aufmerksam auf den Künstler wurde ich durch einen Artikel des Jüdischen Museums Frankfurt anlässlich des Todestages am 5. Juni dieses Jahres. Ich war sozusagen sofort „schockverliebt“ sowohl in die künstlerischen Darstellungen, als auch in die gereimten Sinnsprüche, welche die Darstellungen begleiten. Beides von herzerfrischender Einfachheit. Ich bin wohl nicht als einziger der Faszination von John Elsas´ Kunst erlegen:

Der Kunstwissenschaftler Max Osborn schrieb in der „Vossischen Zeitung“ vom 16. Januar 1930: „..Im ‚Sturm’ (einer damals prominenten Berliner Galerie), bei Herwarth Walden, sieht man etwas ungemein Amüsantes: Klebebildchen von einem lebensfröhlichen alten Herrn in Süddeutschland, John Elsas genannt.

[… In diese Art, Buntpapiere, schimmernde Reste von irgendeiner Kartonhülle und dergleichen aneinanderzufügen, auch Aquarelltöne dazwischenzupinseln, steckt eine so reiche Phantasie, dass man Blatt um Blatt mit Lust betrachtet...“.

Gegen Ende der 1920er Jahre erregten seine Arbeiten in den Galerien verschiedener deutscher Städte sowie in Paris und Zürich wohlwollendes Interesse, was seine ohnehin ungewöhnliche Produktivität noch steigerte – seine letzten, 1935 von Irma Elsas verpackten Blätter trugen die Nummern 25 000 – 25 025.

Hier eine kleine Auswahl:




Selbst ein König
wird sich bücken,
spürte er Schmerz
in seinem Rücken




Es ist das grüne Kleid
mein Leben,
denn Hoffnung soll
mich stets umgeben




Geh ich aus mit dem Regenschirm
so ist immer der Schirm mein Retter
weil er mir bringt
das schönste Wetter.




Es läuft der Mensch durch´s Leben rasch
und denkt dabei an seine Tasch.





Es ist die Eintracht
hoch gepriesen,
auf Nachsicht
sind wir angewiesen.




Sagt man schöne Frau
und feiner Mann
kommt es immer auf die
Betonung an.





Reisen die Bilder
über die Schweiz,
erst dann erhalten sie
den Reiz.




Was alle Leute meinen,
das darfst du glatt verneinen.



Weil ich ein großer
Schuldner bin,
da kann ich wirklich prahlen,
da müssen meine Gläubiger
mir immer weiter zahlen.



Hier zeig ich Dir
ein Zukunftswesen,
es kann jedem
aus den Augen lesen.





Die Hülle war die Not und Pein,
ich darf jetzt ohne Hülle sein.
Ich mein, dass ein Gedenkstein
müsste immer freudig sein.

Montag, 18. September 2023

Zeit - weise

 


Zeit  -  weise

Es gab die, welche auf Menschen schossen,
und die, welche auf die Uhren schossen,
letzteres war selbstverständlich Tinnef,
als könne man stehenden Uhrens
die Zeit anhalten, das Tor zu öffnen,
welches hinaus führt aus den Wirren der Zeit,
als ließe sich die Mechanisierung
des Menschlichen so aufhalten

Versuch es - so als ein Experiment,
sagen wir mal: Etwa für eine Woche  -
Das „Etwa“ ist hier berechtigt,
denn vielleicht verlierst du dich.
Lege alle Uhren um dich herum still,
nehme Batterien und Akkus heraus,
stelle den Radiowecker stumm
und drehe den Kalender um

Wenn du kannst, dann geh in die Wälder,
dort gibt es nur Morgen Tag Abend Nacht,
an der Bushaltestelle
schau nicht auf den Fahrplan,
sei getrost, irgendwann kommt ein Bus.
Nenne dein Harren nicht warten,
nenne es Schauen, Lauschen,
Zeit verrinnt nicht,
ein Vogel singt, eine Nachbarin grüßt

Lerne zu schweigen von dem,
was du von Nahem erlebst,
erst das Schweigen verleiht
deinen Worten Kraft.
Vielleicht kehrst du frühzeitig
aus diesem Raum zurück -
was heißt denn schon „Eine Woche“?

Vielleicht verfällst du in Furcht,
jede und jeder, welche Fesseln ablegen,
und seien es nur die Handschellen
der Armbanduhren,
erleben früher oder später ähnliches,
als würden sie zerfallen,
sich aufteilen in die Einzeller des Urmeeres,
ein Zurück in der Zeit,
welches doch so eigentlich nicht möglich

Noch einmal: Wenn du zurückkehrst, schweige!
Nur soviel: Die welche auf Uhren schießen
sind mir allemal lieber,
als jene, welche auf Menschen schießen


Das Bild „Die Uhr“ ist von Ljubow Sergejewina Popowa (1889 - 1924)

Mittwoch, 13. September 2023

Fremd blicken mich Vergangenheiten an - Nachklang eines Traumes am Morgen

 



Nachklang eines Traumes am Morgen

Drei Fäden verflochten zu einem Seil
Trigonomie der Gefühle, nicht auf dem Markte feil,
ausgemessen in unendlich unwägbare Landschaft
Maria des Erdenmondes, himmlische Gesandtschaft

Wind streicht übers Rohr
Hans im Glück, kein Herz aus Stein
Tränen sind ein süßer Wein,
das Herz ein heimliches Tor

nicht Handeln mit Händeln
Papier, Schere, Stein,
wunschverlornes Sein
unter Sternen tändeln

Der Vogel der Wahrheit, erinnert ihr nicht mehr?
der Mistelzweig und das Wasser des Lebens,
dein Herz ist wo dein Schatz ist, ist das so schwer?
Manche Suche wäre vergebens
wenn das schlagende Herz nicht wär

Verstiegen in kalten Bergeswänden
der ersten Liebe, dem Fluch der Geburt,
Kätzchen hilf und Falke flieg, in meinen Händen,
verstrickt in der Zeit, setz über die Furt,
dich in andre Latifundien zu senden

Hatte in meinem Leben
mindestens fünf ewige Lieben,
und hoffe,
wir treffen uns alle wieder,
da drüben

Omne animal post coitum triste,
was ein Wahlspruch, finster lebensfeind,
ene mene miste,
weiß denn jemand, was Leben meint? -
So zu leben, dass am Ende jemand
wirklich um Dich weint -



Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Montag, 4. September 2023

Tao Yuanming: Die Chrysanthemen

 



Zum Thema Chinesische Dichtung übersetzt:

Ich habe hier zum Vergleich vier Übersetzungen verschiedener Übersetzer eines Gedichtes von Tao Yuanming (365 - 427), die erste ist von Richard Wilhelm. Ich finde es interessant, wie sich das gleiche Gedicht so andersartig übersetzen lässt. Nun bin ich kein Sinologe und kann nicht beurteilen, welches der vier dem Original am Nächsten kommt. 


Die Chrysanthemen


In später Pracht erblühn die Chrysanthemen,
Ich pflücke sie, vom Perlentau benetzt.
Um ihre Reinheit in mich aufzunehmen,
Hab einsam ich zum Wein mich hingesetzt.
Die Sonne sinkt, die Tiere gehn zur Ruhe,
Die Vögel sammeln sich im stillen Wald. –
Fern liegt die Welt mit ihrer Unrast Kummer,
Das Leben fand ich, wo der Wahn verhallt.

Übersetzung. Richard Wilhelm (1873 - 1930)


Ich pflücke still am Ostzaun Chrysanthemen,
Seh nach dem Südberg am entlegenem Ort.
Des Berges Hauch so schön im Abendlicht;
In Scharen ziehn die Vögel heimwärts fort.
Und in dem allen liegt ein tiefer Sinn.
Ich will ihn sagen - und vergaß das Wort.

Übersetzung: Günther Debon (1921 - 2005)



Beim Weintrinken, fünftes Gedicht

Meine Hütte steht in bewohntem Gebiet,
und doch herrscht kein Lärm von Wagen und Pferden.
Du fragst, wie mir dies möglich sei?
Einem Herzen, das fern ist, wird still auch die Welt.
Chrysanthemen pflücke ich am östlichen Zaun
und schaue voll Frieden zu den südlichen Bergen.
Klar schimmern die Berge im Abendlicht,
in Paaren kehren die Vögel zurück.
Eine tiefe Wahrheit ist hierin enthalten,
sie auszusprechen, versagen mir die Worte.

Übersetzung: Árpád Romándy



Mitten im Treiben der Menschen baute ich mein Haus,
Doch ertönt hier kein Lärm von Wagen und Pferd.
Wie kann dies sein, so magst du fragen –
Hat das Herz sich entfernt, folgt der Ort ihm nach.
Am Zaun im Osten pflücke ich Chrysanthemen
Und blicke in Muße auf den Gipfel im Süden.
Rein ist die Bergluft bei Sonnenuntergang;
Die Vögel kehren heim in Scharen.
In all dem verbirgt sich so viel Sinn – 
Will ich’s erklären, fehlen mir die Worte.

Aus: Karl-Heinz Pohl; Rückzug in den Garten oder die Liebe zu den Chrysanthemen - Der Dichter Tao Yuanming


Das Bild zeigt Porträt von Tao Qian (Tao Yuanming), gemalt von Chen Hongshou (1599–1652)

Sonntag, 3. September 2023

Fremd blicken mich Vergangenheiten an - Exit

 





Das Bild ist von der 2016 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung als Nachlassverwalterin

Montag, 14. August 2023

Fremd blicken mich Vergangenheiten an - Als ich frühmorgens aufwachte

 



Als ich frühmorgens aufwachte


Als der Tag sich irgendwo
zum Ende neigte,
glührot, wüstenbrennend,
der junge Mann sich mit vor
Angst geweiteten Augen
aus dem Fenster fallen ließ,
Eintagsfliegen selig
am Ufer des Sees tanzten
in der warmen Sommersonne
im Glutball eines Unverstandenen
das Haus der Eltern versank,
Staub aufwirbelte,
niemand mehr Sahneheringe aß,
früher ein Armeleuteessen,
heute unerschwinglich,
und immer noch die alten Planeten
ihre Bahnen zogen,
geschahen mehrere Dinge gleichzeitig

Als das Kind  /                 Die Pell-  /     Feuer  /                  Unter
hinter dem parkendem  /  Kartoffeln  /  fiel vom Himmel  /  der warmen
Auto hervor  /            kamen auf den  /   als der alte  /       Sommersonne
dem Ball folgte  /              Tisch  /           Zauberer  /           begegneten

verwandelte  /              dazu Butter  /     seinen Stab  /       sie sich am
der sich zu dessen  /   und Quark mit  /   hob,         /         Ufer des Sees,
Verblüffung  /                Zwiebeln und  /  Hubschrauber  /    er noch so
in eine  /                   Kräutern  /                 ließen  /             unschuldig,
Schwalbe  /           und etwas Sahne  /  sich nieder  /          in seiner

erstaunt sah  /            eine der  /          auf seiner  /         tastenden Gier
das Kind  /                 Kartoffeln,  /         zitternden  /         sie noch so
der Schwalbe nach  /  sehr klein  /      Handfläche  /        unschuldig
und erhob  /             und sehr rund,  /      landete  /               in ihrer
sich,  /                            rollte  /               flaumig  /                Neugier
derselben folgend  /  aus der Schüssel  /   ein Schwalben- /  lernten
in die Lüfte  /              zu Boden  /                   küken,  /   sie eine scheue

unter  /                         ein neuer  /          aus dem Neste  /    Zärtlichkeit,
der warmen  /                Planet  /          gefallen, etwas  /     berührten sich
Sommersonne  /           wurde so  /       schon gefiedert  /       wie sie
begegneten  /               geboren  /         und mit großem  /    ein junges

sich Schwalbe  /           ein Stern  /              Schnabel,  /     Tier berühren
und Stern  /                 am Himmel  /       hoffend geöffnet  /  würden

ich aber schüttelte den Staub
von der Jacke,
bestieg den großen Wagen
und verließ
die Stadt


Das Bild ist von Umberto Boccioni (1882 - 1916)

Freitag, 11. August 2023

Fremd blicken mich Vergangenheiten an: gefahr und gefährten

 


gefahr und gefährten

nicht mehr möglich
ihnen aus dem weg zu gehen
zu lauthals die parolen
und unverholen

ja, selbstverständlich bin ich pazifist -
nun mögt ihr darüber resonieren,
warum ich die spanienkämpfer,
die internationalen brigaden
gegen das francoregime
hochhalte

nun mögt ihr darüber resonieren
warum ich georg elser sympathisch finde

es stimmt: auch damals wäre ich nicht
mit waffen vorgegangen,
ich selber mag waffen nicht,
sie sind unheilvolle geräte

und ich weiß: wer der macht
der waffe verfällt wird schnell
dem ähnlich, den er zu bekämpfen vermeint

doch
es gibt ein recht auf selbstverteidigung

bemerkt Ihr mein dilemma?


Die Illustration ist von Koloman Moser (1868  -  1918)

Sonntag, 6. August 2023

Fremd blicken mich Vergangenheiten an - Brüderchen

 



Brüderchen

Wir waren wild, und herrlich, und direkt,
den Bürgern waren wir suspekt,
wir waren wild, wir waren frei,
das Wohl der Welt war uns nicht einerlei,
wir lebten jenseits aller Ideologie,
wir lebten Anarchie.
Glaubt mir, ich versuch das nicht verklärt zu sehn,
jung waren wir, und frech, und schön!

Der Tag verglüht im Abendrot,
so weit im Leben ist so nah der Tod

Ich glaube nicht, dass Du oben einfach Harfe zupfst,
eher, dass Du mit den Engeln ein paar Hühnchen rupfst,
und, weil Du mit Deinem Lachen wirklich jedes Herz berührst,
den einen oder anderen verführst,
und irgendwann, das „Wann“ ist da oben ja einerlei,
komm ich nach und helfe Dir dabei

Brüderchen, komm tanz mit mir,
beide Hände reich ich Dir,
einmal hin, einmal her,
rundherum, das ist nicht schwer

Donnerstag, 3. August 2023

Fremd blicken mich Vergangenheiten an - Dichter August 1914

 



Fremd blicken mich Vergangenheiten an  -  Dichter August 1914

Es war die Zeit der Gärung,
und es hatte letztlich in den Krieg gegärt,
Heldenpathos war die neue Währung,
Heldenpflicht der neue Wert.

Die Wenigen, die nicht verehrten,
bekamen Kerker und Zensur
und Wandervögel, die einst unbeschwerten,
fielen aus den Himmeln auf blutige Flur.

Verse aus dem Schützengraben,
aus den Abseiten der Literatur,
und die, welche, ach so jung, dann starben
blieben Fußnote nur.

So viele, die Erneuerung träumten,
Prinz Vogelfrei war dann doch Kriegernatur,
so viele, welche die Verweigerung versäumten
hinterließen eine blutige Spur.

Und Wildgänse rauschten durch die Nacht,
trotzdem alles so sinnlos war.
Was hat denn das falsche Pathos gebracht?
Und wer war letztendlich der Narr?

Das eigentlich war der Beginn der neuen Zeit:
Senfgas und Massensterben. . .
und noch immer sind so viele nicht bereit,
noch immer sind wir die Erben.

Das Bild ist von Hans Baluschek (1870 - 1935)




Dienstag, 25. Juli 2023

Fremd blicken mich Vergangenheiten an (I)

 



Aus der Wortwerkstatt: Ich habe einen neuen Zyklus begonnen, mit dem Arbeitstitel "Fremd blicken mich Vergangenheiten an. . ." Ich weiß noch nicht, wohin mein Schreiben mich führen wird, und ich weiß auch nicht, ob das, was ich im gegenwärtigen Augenblick schreibe Bestand haben wird. Ich lasse jegliche Ver(s)änderung zu. Ich lasse mich von mir selbst überraschen - und ich lasse Teilhaben: work in progress- - -


Fremd blicken mich Vergangenheiten an

Fremd blicken mich Vergangenheiten an,
erinnre mich, wie´s einst begann:
zwischen Rebellion und Hoffnungsdrang
und durchaus positiv gestimmt
was Zukünfte betrifft,
trotz an der Wand die Menetekelschrift,
wir hatten eine Welt geträumt,
und diese Welt war gut -
so verheißungsvoll war dieser Traum,
er gab uns all den Mut
zu sein, zu unsrem Sein zu stehen.

Fühlten: Die neue Zeit liegt in den Wehen,
und wir taten gut daran
diesem Gebären beizustehen,
Erinnerung: ein lieber Freund
trug einen Overall,
darauf ein Graffiti: „Was ist die Zukunft?
Vielleicht die Rente?“
Und: „Die Erde von den Kindern nur geerbt“
Nicht nur Rauch war unser Schall,
und unserer Verlangen keine Zeitungsente,
wir hatten ein Welt geträumt,
und diese Welt war gut -
so verheißungsvoll war dieser Traum,
er gab uns all den Mut.

Gab uns den Mut,
alles in die Waagschale zu werfen,
um nicht zu leicht zu sein,
und so brachten wir uns ein
mit allem, was wir zu geben hatten. . .
es war nicht viel,
vielleicht nur eine Art von Schatten,
der Utopie, die wir doch hatten:
doch hatten wir ein Ziel.

Das Foto zeigt den Poeten Gusto Gräser in München 1945

Samstag, 15. Juli 2023

Tänze im Sturm - Gedichte von Willy Knobloch (Sebastian Droste), Anita Berber, Ingeborg Lacour-Torrup, Herwarth Walden

 


Tänze im Sturm: Tanz

Feuerbrände reißen rote Haare
Strähnen ziehen . . . Regen , . . Regen
Triefen . . . triefen . . . wallen . , . wallen
lösen . . . fallen . . .
Sonne lacht.
Leiber kugeln . . . drehen . . . wenden
schweben , , .
lache , . lache , . gurre . . girre
Tanz kreischt auf
Ton versinkt
Brüste spritzen . . , Atem keucht
Auge lacht
Ohren zittern
Ton fällt ab . . ab und auf . . .
Wellen zittern
Rausche . . . rausche..
Rüg
Wolken bäumen Wollen
Wollen lacht auf
Hoch
Hoch hinauf
Hinauf in das AH
Erde schweigt
Zitternd bergen Menschen
Wissen
Ich schwinge die Menschheit
Menschheit kriecht
bebt
bangt
ich sonne das Ich
Wolken reißen Fetzen
Blätter
Wirbeln
Quirreln
Fangen
Jagen
Ich
Sonne strahlt -
lacht kugelt
glüht
Blauer Himmel
jauchzt singt Erträumen
Erde sinkt
fällt
gründet Tiefe
Ich schwinge jage
in dem Raum.

Willy Knobloch, aus: Der Sturm, Erstes Heft 1920

* * *

Gedicht für Sebastian Droste

Ich


Wachs schimmerndes Wachs
Ein Kopf – ein Brokatmantel
Wachs –
Rot – wie Kupfer so rot und lebende Haare
Funkelnde Haare wie heilige Schlangen und Flammen
Tot
Millionenmal tot
Verwest
Und schön – so schön
Blut wie fliessendes Blut
Ein Mund stumm
Nacht ohne Sterne und Mond
Die Lider – so schwer
Schnee wie kalter wärmende Schnee
Ein Hals – und fünf Finger wie Blut
Wachs wie Kerzen
Ein Opfer von ihm

Anita Berber (1899 in Leipzig - 1928), Tänzerin und Schauspielerin

* * *

Gedicht für Anita Berber

Tanz Anita zu eigen


Aufwirbelndes jauchzendes Begehren
Sprung – – –
Webenden Wellen
Weichwelle Wogen
Kreist kreist unendliche Kreise – – –
Verlangendes Weben schwebt wellwoges Wogen
Auf einsamen Thronen thront der Gott – –
Sturzwelles spitzes grelles Begehren
Kreisgelles gelbgrünes Belachen
Zerkreisen zerwellen zerwogen zerhauchen
Springpflanzartiges Zerblättern
Beschwingen
Besingen
Klang –
Aufjubelndes Zerfliessen
Zergreifen
Zerweben – –
Tanz – – –

Sebastian Droste

* * *

Unsre Hände krampfen umeinander
Unsre Lippen brennen ineinander
Unsre Leiber suchen sehnen suchen
Krampfen
brennen
sehnen
suchen
sehnen
Stummen sterben
und Verstummen
Oh das Weinen ohne Tränen
Leiser immer leiser
Leise

* * *

Meine Augen suchen Deine Augen
Liegen Deine Augen nun in mir
Liegen meine Augen nun in Dir
ruhen wir
ruht alles Leid
ruhen alle bösen Träume

* * *

Alle Luft steht still
Lange Blätter hängen schlaff
Blasse Blüten schleppen erdlang
Ein riesengrosser weisser Mond löst sich
Und schwebt
Senkt sich
Und kreist
Und legt sich flach auf meine Erde
Deckt meine ganze Erde zu
Ein riesengrosser weisser Mond liegt auf der Erde

Ingeborg Lacour – Torrup, aus: Der Sturm, Jahrgang 14, Nr. 6, 1. Juni 1923

* * *

Zum „Tanz der Wehfreude“

Tango von Herwarth Walden

Und alle Freude weint durch alle wehen Nächte
Und alle Wehen singen durch die frohen Tage
Und alle Tage sinken in die letzte Nacht
Und alle sind wir wegesmüde - lieber Tod.
Nun strömen alle hellen Wasser in das Schweigen
Nun fallen alle hellen Sterne in die Tiefen
Nun steigen alle Nebel in die hellen Sonnen
Nun stehen alle unsre Welten - unsre Welten
Noch müde schwingen Pendel sanfte Schläge
Nun stehen Herzen alle Herzen

* * *

Hoch glänzt das Sterben
Bäume blühen
Frühling
Blühen
Heben fromme Kerzen in die Nacht
Weich weht ein Wind
Hoch glänzt das Sterben
Tiefe schwankt
Und flutet satt
Und fluten sanften Tiefe
Sanften satt
Und schwankt
Hoch glänzt das Sterben
Wolken sammeln
Schrecken Sterne
Im Dunkel lugt ein Auge bang
Und späht
Verstohlen lugt ein Auge
Späht nach mir
Mir nach
Schluchzt wo ein Mund
Ganz fern
Schluchzt wo
Ganz nah
Mir nah
Und mir
Das Auge kreist in meiner Brust
Schluchzt mir im Ohr ein Mund
Und Schatten schreiten
Und schreiten lange Schatten
Schreiten
Komm
Hoch glänzt das Sterben
Die frommen Bäume blühen
Und halten stille Kerzen
Tiefe schwankt
Weich weht ein Wind
O meine Erde

Herwarth Walden, aus: Der Sturm, Jahrgang 14, Nr. 6, 1. Juni 1923

* * *

Anita Berber, geboren am 10. Juni 1899 in Leipzig - Die Karriere der Berliner Tänzerin Anita Berber war skandalumwittert. Mit 17 (nach einjähriger Ausbildung) hat sie ihren ersten Auftritt, der ihr Anzeigen wegen Unsittlichkeit einbringt. Ihr Leben lang werden ihr solche Urteile anhängen. Mit 18 steht sie vor der Kamera, und wenig später schon gibt sie Gastspiele in New York.

Mit ihrem Namen verbinden sich die „Wilden Zwanziger“ in Berlin: schnell, schrill, exzentrisch, überdreht. Aber auch die dunkle Seite: Alkohol, Kokain, Krankheit und schließlich (fast) das Absinken in die Vergangenheit – hätten nicht berühmte Männer sie beschrieben oder gemalt. Klaus Mann sagte von ihr: „Anita Berber tanzt den Koitus.“ Und Otto Dix malte sie als Vamp mit roten Haaren.

Ihre Auftritte in Varietés und Nachtklubs sind derart gewagt, dass manche BesucherInnen sich am Eingang Masken leihen, um nicht erkannt zu werden.

Anita Berber bezahlt ihren Ruhm teuer: Sie wird alkohol- und drogenabhängig und dadurch äußerst unzuverlässig; Verträge werden gekündigt. Ihre zweite Ehe mit dem Tänzer Sebastian Droste scheitert, Engagements bleiben aus.

Schließlich heiratet sie den amerikanischen Tänzer Henri, mit dem sie auf Tournee in den Vorderen Orient geht. In Damaskus bricht sie auf der Bühne zusammen und muss, von Henri begleitet, die Rückreise nach Deutschland antreten. Unheilbare Tbc und Geldnot machen ihre Lage hoffnungslos. Sie stirbt am 10. November 1928 im Alter von 29 Jahren. (Text: Beate Schräpel, 1987 in FemBio)

* * *

Sebastian Droste, eigentlich Willy Knobloch (* 2. Februar 1898 in Hamburg; † 27. Juni 1927 ebenda) war Tänzer, Lyriker und Schauspieler. Zusammen mit seiner Ehefrau Anita Berber gehörte er zu den skandalreichsten Persönlichkeiten der Weimarer Republik und war bis zu seinem Tode einer der bedeutendsten Tänzer des Landes.

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Ingeborg Torrup (oder Lacour-Torrup) war eine dänischstämmige Autorin, Schauspielerin und Tänzerin - in den frühen und mittleren 20er Jahren Mitarbeiterin an Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm. Sie schrieb ihre Gedichte auf Deutsch. Über ihre Lebensdaten ist wenig bekannt. Sie wanderte in den Zwanzigerjahren wohl in die USA aus.

Ingeborg Torrup kehrt nach einem Deutschland-Aufenthalt, sie gastierte unter anderem am 3. 2. 1922 im Blüthnersaal in Berlin, im Sommer 1923 in die USA zurück, nach San Francisco. Dort arbeitet sie als Schauspielerin und Tänzerin. Später ist sie in New York ansässig. Bei ihrer Rückkehr 1923 gibt sie auf den Passagierlisten ihr Alter mit 24 an. Danach wäre sie 1899 geboren. 1929 hat sie in New York als Mitglied der Truppe von Walter Hampden versucht, sich das Leben zu nehmen.

Walter Hampden (1879 - 1955) war ein bekannter Broadway-Schauspieler, zeitweise führte er mit dem Colonial Theatre sein eigenes Theater, das zwischen 1925 und 1931 auch nach ihm als Walter Hampden Theatre benannt war.

Auf einer Seite des Philadelphia Inquirer v. 23.5.1922: Ingeborg Lacour-Torrup, Danish classical dancer, now appearing in Berlin, has been engaged to appear in this country.

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Herwarth Walden (eigentlich Georg Lewin; * 16. September 1878 in Berlin; † 31. Oktober 1941 bei Saratow) war Schriftsteller, Verleger, Galerist, Musiker und Komponist. Walden war einer der wichtigsten Förderer der deutschen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts (Expressionismus, Futurismus, Dadaismus, Neue Sachlichkeit). Er gründete 1910 die Zeitschrift Der Sturm, die bis 1932 bestand. Ab 1912 betrieb er die Sturm-Galerie; unter seiner Leitung fand 1913 die Ausstellung des Ersten Deutschen Herbstsalons in Berlin statt. Die Dichterin Else Lasker-Schüler war seine erste Ehefrau.

Der Sturm gehörte – gemeinsam mit Die Aktion von Franz Pfemfert – zu den großen avantgardistischen Zeitschriften, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet und publiziert wurden.

Das Foto zeigt Sebastian Droste und Anita Berber