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Donnerstag, 8. Dezember 2022

Anmerkungen zu einem Gedicht von Walther Eidlitz

 



aus: Die Aktion 1917

Walther Eidlitz, geboren am 28. August1892 in Wien; gestorben am 28. August 1976 in Vaxholm in Schweden) war ein österreichischer Schriftsteller im Bereich von Lyrik, Erzählung und Drama. Später widmete er sich dem Studium der Geistesgeschichte Indiens.

Im Hinblick auf sein Interesse an der indischen Religion und Philosophie verließ er seine Familie in Wien und reiste nach Indien, wo er von 1938 bis 1946 und von 1950 bis 1951 auf der Suche nach Got  lebte. Als Österreicher wurde er während des Zweiten Weltkrieges in Indien interniert. 1946 zog Eidlitz nach Schweden, wo er auch starb. (Wiki)

Dieses Gedicht tauchte in einer Ausgabe von Franz Pfempferts Zeitschrift Die Aktion von 1917 auf, gefolgt von der Rubrik Verse vom Schlachtfeld, worin sich dann solche Zeilen fanden:

Gott stürzt, Gott fällt, / Mit ihm das All. / Aufflammt die Welt / Gott stirbt und Gott ist tot / Sein Werk zerschellt, / Gerichtet durch / Warum. (Ernst Rieser)

Urlaubsende / Bald ist nun wieder endlose Qual! / Heimweh ist tief in uns, / müde, gebrochene Wünsche umstehen uns / und schlagen in grauen, wimmernden Nächten / die verglommenen Augen auf. (Edlef Köppen)

Dann wieder, in einer vorangegangenen Ausgabe, mitten in den Versen vom Schlachtfeld dies von Walther Eidlitz:

Und wieder vor diesem und nach diesem Gedicht Zeilen solcherart: „Tags fließen oft aus dem großen Dunkel Deiner Augen / die zerrissenen Chausseen, / die nächtlich unter uns zuckten. (Edlef Köppen)

Tornister zerfetzte. . . / . . . / In den Trichtern gekauert, Menschen wie Lehm- / klötze; immer ist Wasser in den Stiefeln, Bart / wuchs, wilder Stahlhelm, nur Augen flim- / ern: „Ich lebe noch.“ (Rudolf Hartig)

Wenn eure Kreatur einanderfraß, / Ob nicht Gefühl bei ihrem Kriege saß? // Doch. . Straßenbäume. . stehn entwaldet, stier, / Laternengleich, fast lichtlos, einzeln: Wir!“ (Alfred Wolfenstein)

Dass der mutige überzeugte Pazifist Franz Pfempfert seine Zeitschrift Die Aktion ohne Zensur durch die Kriegsjahre 1914 - 1918 gesteuert hat, finde ich immer wieder beeindruckend. Doch diese Konstellation von Texten hat mich persönlich noch betroffener gemacht, als die von ihm veröffentlichten Verse vom Schlachtfeld ohnehin. Und ja, ich denke, kaum etwas ist wichtiger, als zu sagen: „Sie könnten Gärten haben / Und Felder und eigenen Wein“.

Das Bild ist von August Macke, geboren 1887, er „fiel“ am 26. September 1914 bei Pertes-lès-Hurlus, Champagne.



Mittwoch, 7. Dezember 2022

Das gönn ich ab und zu mal allen. . .

 


         
       

(Das Bild ist von Pere Borrell del Caso (1835 - 1910) und trägt den Titel „Flucht vor der Kritik“)



Donnerstag, 1. Dezember 2022

Die Reise des Tenderenda nach Ninidanda - Eine Collage

 

Die Reise nach des Tenderenda nach Ninidanda -  Eine Collage

 

Frühjahr 1967, die Beatles sind dabei, ihr Album Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band aufzunehmen. Für den Song Being fort he benefit of Mr Kite schwebte John Lennon eine echte Kirmes­stimmung vor. Im Archiv der Abbey Road Studios fanden sich Tonbänder mit Ausschnitten von Märschen, gespielt von Dampf- und Jahrmarktsorgeln. Kopien dieser Bänder wurden von Toningenieur Geoff Emerick in kleine Schnipsel zerschnitten und willkürlich wieder zusammengeklebt. Heraus kam dabei eine chaotische Klangcollage, die Lennon gefiel. Teile dieses Bandes wurden unter das Ende des Liedes gemischt und lassen es ausklingen. Es gibt eine Lesart dieses Vorganges, die besagt, dass Emerick die Schnipsel in die Luft warf und dann wieder zusammen fügte. Das wäre dann dem Vorgehen der ersten Dadaisten geschuldet, die ähnliches mit Zeitungsschnipseln taten.

 

Tenderenda, der Phantast ist das alter ego des Schriftstellers und Dichters Hugo Ball. Zusammen mit seiner späteren Frau Emmy Hennings hob er Februar 1916 in Zürich das Cabaret Voltaire aus der Taufe, das war die Gründung von Dada. So ist diese „Reise nach Ninidanda des Tenderenda  -  Eine Collage“ auch eine Hommage an Hugo Tenderenda Ball selbst.

 

Verwendet wurden in dieser Collage Schnipsel von: Augusto Giacometti, Sarah Stilwell Weber, Léon Spilliaert, Hugo Ball, Luisa Francia, Neu!, Karlheinz Martin, Stefania Buzatu, Dave McKean, Aldous Huxley (Klaus Buhlert), Albert Einstein with Elsa (driving a flying car), Monty Python, Arthur Browns Kingdome Come, Len Lye, Eroc, Synapson & Bonga, Alan Ginsberg, Johann Wolfgang von Goethe, Väter der Klamotte, Sebastian Droste, Władysław Starewicz, Tangerine Dream, Gusto Gräser, White Noise ( feat. Delia Derbyshire), Oskar Maria Graf, Peter Thomas Sound Orchester, Ash Ra Tempel with Timothy Leary, Sally Rand, Charly Chaplin, Mythos, The Beatles, Richard Wilhelm (Übersetzer), Ken Kesey, Gary Snyder, Hans Leybold, Der Club der toten Dichter, Hector Hoppin and Anthony Gross, Moondog und anderen (falls ich jemanden vergessen haben sollte).

 

Einige Anregungen habe ich Joachim Deicke zu verdanken und seiner Pops tönender Wunderwelt.

Dingefinders LYRA: LYRA ist die Abkürzung für LYrikRAdio und bezieht sich auf die Audiospur. Die Bilder sind für YouTube dazu gekommen. Das Projekt verfolgt keinerlei kommerzielle Zwecke, weder der Blog (Die Anderen Seiten) noch der YouTube-Kanal sind monetarisiert. Die Reihe wird fortgesetzt.

Zum Geleit

Wo wäre denn Ninidanda? Ach, immer werden die richtigen Fragen nicht gestellt. Das ist seit altersher bekannt. Vielleicht wäre es sinnvoller, erst einmal zu klären, was Ninidanda eigentlich sei. „Seien wir neu und erfinderisch von Grund aus. Dichten wir das Leben täglich um.“, schrieb Hugo Ball in seinen Aufzeichnungen „Flucht aus der Zeit“. Das ist ungefähr hundert Jahre her. Es ist an der Zeit, nicht mehr zu flüchten. Es ist an der Zeit einen Ort in der Zeit zu finden. „Zeit ist eine Illusion, doch je mehr du davon hast, um so realer wird sie“ (Luisa Francia)

 

Hinter uns liegen ein paar Milliarden Jahre Entwicklung und ein bisschen Ewigkeit. Das ist viel. In der Fülle immer hungrig. Das ist schade. Ein Ort in der Zeit. Ich beginne die Reise. Jederzeit.

 

"Unsterblichkeit ist nicht jedermanns Sache" (Kurt Schwitters) Doch vielleicht ist die Collage die Kunstform der allgegenwärtigen Ewigkeit.

 

Tenderenda

 

Ein astrales Märchen. Eine Art himmlischen Puppenspiels. Drei Teile lassen sich deutlich unterscheiden. Der erste: ein mystisches Erlebnis der Eheleute Goldkopf. Eine weiße Lawine kommt ihnen zu Besuch, eine sich steigernde Reinheit und Helle wächst ihnen zu. Ihr Haus liegt über dem Abgrund und an der Fabelwiese, auf der der Buchstabenbaum einhergeht. Das ist jener Baum, von dem die poetischen Adam und Evas essen. Zärtliche Allegorien in Tiergestalt treten auf. Traumhaft die Notenständer des Lachens, die Tenderenda bei Lebzeiten verteilte. Der zweite Teil ist die Ballade von Koko dem grünen Gott. Das ist der Phantastengott. Von ihm kommt alle Glückseligkeit, solang er in Freiheit die Flügel schwingt. Setzt man ihn aber gefangen, so rächt er sich durch Verzauberung derer, die ihm die nächsten waren. Der dritte Teil ist ein Epilog des Ehepaars Goldkopf. Es schüttelt den Staub seiner Zeit von den Füßen und prophezeit ein Ende der Gottlosen und der Verzauberung. Den Kehraus macht, wie es recht und billig ist, ein Vers des Herrn Dichterfürsten Johann von Goethe.

Du kleiner Schelm du!
Daß ich mir bewußt sei,
Darauf kommt es überall an.
Und so erfreu ich mich
Auch deiner Gegenwart.

Und hast du mit Staunen
Das Leuchten erblickt,
Ich lieg dir zu Füßen,
Da bin ich beglückt!

Goethe Aus: Gedichte, West-östlicher Divan, das Schenkenbuch und Sehnsucht, letzter Vers und. . .

Man schreibt Sommer 1914. Eine phantastische Dichtergemeinde wittert Unrat und faßt den Entschluß, ihr symbolisches Steckenpferd Johann rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Wie Johann sich erst sträubt und dann einwilligt. Irrfahrten und Hindernisse unter Führung eines gewissen Benjamin. In fernen Ländern begegnet man dem Häuptling Feuerschein, der sich als Polizeispitzel entpuppt. Daran geknüpft historiologische Bemerkung über die Niederkunft einer Polizeihündin in Berlin.


. . .  die ihre Uhren vom Dach schmissen um eine Ewigkeit jenseits der Zeit
zu wählen. . .

Aus: Allen Ginsberg  -  Howl

Träumte durchs Leben zurück, durch deine Zeit – und meine, die auf den Weltenbrand, immer schneller, dahinjagt,
den allerletzten Moment – die Blume brennt im Tag – und was danach kommt. . ..

Allen Ginsberg Kaddish

 Ich selbst, jedenfalls, vielleicht so alt wie das Weltall – und das stirbt wohl mit uns – genug, um alles Kommende auszulöschen – Was immer auch kam, ist immer auf ewige Zeiten vergangen . . .

 Allen Ginsberg, Kaddisch

Ich selbst, jedenfalls, vielleicht so alt wie das Weltall – und das stirbt wohl mit uns – genug, um alles Kommende auszulöschen – Was immer auch kam, ist immer auf ewige Zeiten vergangen . . .

 Allen Ginsberg, Kaddisch

„Als Knabe bin ich einmal in einen tiefen Brunnen gefallen, aus dem ich viele Jahrzehnte lang nicht mehr heraus konnte. Da war ein Unsterblicher, der führte mich zu diesem Kraut. Man muss aber durch rotes Wasser, das ist so schwach, dass keine Feder darauf schwimmen kann. Alles, was darauf kommt, sinkt in die Tiefe. Der Mann zog einen Schuh aus und gab ihn mir. Auf dem Schuh fuhr ich über das Wasser, pflückte das Kraut und aß es. Die Leute an jenem Ort weben Matten aus Perlen und Edelsteinen. Sie führten mich in einen Raum, davor war ein Vorhang aus einer bunten, dünnen Haut. Sie gaben mir ein Kissen aus schwarzem Nephrit geschnitzt, darauf war Sonne und Mond, Wolken und Donner eingeschnitten. Sie deckten mich zu mit einer feinen Decke, die war aus den Haaren von hundert Mücken gesponnen. Diese Decke ist ganz kühl und im Sommer sehr erfrischend. Ich befühlte sie mit der Hand, da schien sie mir aus Wasser zu sein; als ich näher zusah, da war es lauter Licht.“

 

Aus Morgenhimmel, ein Chinesisches Märchen. „Chinesische Volksmärchen  - gesammelt und aus dem Chinesischen übertragen von Richard Wilhelm“, Leipzig 1914.

 

Was nun Dichter angeht,

die Erd-Dichter,
die kleine Gedichte schreiben,
brauchen Hilfe von niemand.

Gary Snyder

Die Transsubstanziation der Oblate und des Weins in Leib und Blut des Heilands . . gibt das Theorem des lyrischen Gedichts. Notwendig erscheint der Glaube an die Möglichkeit: Visionäres zu fixieren.


Es soll nicht gesagt werden, daß grundlegende Faktoren allein, zwingend Lyrisches bedingen. Komparserie und Weihrauch . . sind erforderlich.


Bleibt zu notieren: daß das Originäre nicht absolut primär zu sein hat (Zeugung und Geburt!): wie das Erlebnis das Wort herbeiziehen kann (herbeizieht): so kann das Wort zum Erlebnis führen. 

 

Hans Leybold

 

Samstag, 29. Oktober 2022

Nyx - An die Göttin der Nacht

 

 

 


 


 


 

 

 

Die Textzeilen   „. . .  hörst du. . . Lerchen. . .Lerchen flattern auf“ sind folgendem Gedicht von Victor Hadwiger entlehnt:

Wandlung

Ich war ein Vers im Liede deiner Liebe,
und ein Gedanke bin ich nun
in der Ballade deiner letzten Fahrt.
Dein Traum barg Gott und mich,
von deiner feinen Finger Meisterschaft,
von deiner wilden Wehmut stamm ich ab
und irrte als ein sanfter Reim durch dein Gedicht.
Du küsstest mich aus deiner Leidenschaft empor,
du riefst mich an die Wand, die mich umschloss,
und draußen lebte noch ein Tag. –
Sahst du die Lerchen? Lerchen flattern auf.
Und hörtest du den wehen, wilden Klang?
Es war die Schale, die zersprang,
das Haus, das meinen Siegeslauf,
das mich verschlang.
Es rötet sich mein Tag! Die Götter kehren um,
dein feierlicher Mund wird stumm,
das Land wird licht vor mir und uferlos die Glut,
ich bin der Bach, ich bin die Flut,
sanft neigt sich das Gelände meinem Lauf.
Horch, Lerchen! Hörst du, Lerchen flattern auf!

Victor Hadwiger (1878 – 1911) Aus: Wenn unter uns ein Wandrer ist  -  Ausgewählte Gedichte, aus dem Nachlass heraus gegeben von Anselm Ruest, A. R. Meyer Verlag, Berlin-Wilmersdorf, 1912      

Musik vom Dingefinder, Loopprogramm, Stimme, Samples (Excerpts from: Alfred Schnittke, The Musician and the Carillon; Maurice Ravel, Ma Mere;  Les Baxter, Aqueducts.)

Dingefinders LYRA: LYRA ist die Abkürzung für LYrikRAdio und bezieht sich auf die Audiospur. Die Bilder sind für YouTube dazu gekommen. Das Projekt verfolgt keinerlei kommerzielle Zwecke, weder der Blog (Dingeinders Lesebuch) noch der YouTube-Kanal sind monetarisiert. Die Reihe wird fortgesetzt.

DadaNyx - Eine Hommage an die Dichterin Emmy Hennings

    

1915, kurz nach ihrer Entlassung aus einem Gefängnis in München, wo sie wegen Beihilfe zur Fahnenflucht für mehrere Monate inhaftiert war, reiste Emmy Hennings zunächst nach Berlin, bevor sie zusammen mit Hugo Ball in die Schweiz emigrierte. Noch zu Beginn des ersten Weltkrieges meldete sich Hugo Ball als Freiwilliger zum Kriegsdienst, doch wurde er für untauglich erklärt. Mit der Absicht einen verwundeten Freund in Lunéville zu besuchen, bekam er dennoch einen Eindruck von der Kriegsfront. Dadurch, und auch, dass sich sein engster Freund als Mensch und Künstler, Hans Leybold, der zu Beginn des Krieges im Sommer 1914 eingezogen und schon bald vor Namur (Belgien) schwer verwundet wurde sich drei Tage nach seiner Rückkehr zum Regiment Anfang September erschoss, wandelte sich Hugo Ball in einen überzeugten Pazifisten und studierte anarchistische Literatur. Im Februar 1916 gründeten Emmy Hennings und Hugo Ball das Cabaret Voltaire in Zürich, zunächst in der Spiegelgasse.


Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich.
                                  

Musik Intro: Dingefinder Jörg Krüger, Sampling; The Growing Concern - Edge of Time,  Intro (Album von 1968)

Claude Debussy – Elegie. Debussy schrieb seine Elegie im Dezember 1915, als er noch tief erschüttert von den verheerenden Ereignissen des Ersten Weltkriegs war. Kurz zuvor hatte er sich einer Krebsoperation unterzogen, von der er sich nie ganz erholte. Die Elegie war das einzige Klavierstück, das er in diesem Jahr schrieb.

 Alle weitere nicht besonders vermerkte Musik ist in Fredelsloher Sessions entstanden, in der Klosterkirche Fredelsloh und in der Alten Schule Fredelsloh. An den Sessions beteiligt waren Erd Ling Judith (Gesang, Perkussion), Susanne Bartens (Gitarre), Verlah Wo (Klavier), Klaus der Geiger (Geige), Frederike Herrlich (Gesang) und Dingefinder Jörg Krüger (Querflöte, Stimme, Ventilposaune).

 


Anmerkungen zu „Dadanyx“: „Betrunken taumeln …“, zitiert aus:

Betrunken taumeln alle Litfassäulen.
Dir gelten meine glühendsten Extasen!
Wie wir einst fromm die Frau vom Meere lasen
Und alle Regenwinde Deinen Namen heulen!
Vielleicht seh ich Dich einmal in den Parkanlagen.
Mein Kopf liegt schüchtern still in Deinen Händen
Und über die tiefen Wasser senden
Meine sterbenden Augen Grüsse - -

Emmy Hennings, eine Veröffentlichung wurde bislang nur einmal nachgewiesen: In der Zürcher Literaturzeitschrift Die Ähre. Entstanden 1916 in Zürich.

„O, das Klavier tut, was es kann“ und „In der Gasse wimmelt es von Gespenstern“, zitiert aus:

Die kleine Gasse am Abend

Bunte Mädchen lugen aus schmalen Fenstern.
Der Mond wirft geisterhaftes Licht;
Aus blauem Schatten ragt grelles Gesicht;
In der Gasse wimmelt es von Gespenstern.

Ein Droschkenkutscher hält sein Pferd umschlungen,
Und himmelhohe Liebe rauscht im Blut
Und die Rosen verkauft die kleine Rut –
Zu Mantua in Banden wird gesungen …

O, das Klavier tut, was es kann.
Gewiß, man spielt nicht schön, doch laut.
Ein Schlafbursche umarmt eine fremde Braut,
Schwört ewige Treue so dann und wann.

Emmy Hennings

 

Gedicht „Gesang zur Dämmerung“ für Hugo Ball von Emmy Hennings, erschienen 1916 im Kunst- und Literatursammelband „Cabaret Voltaire“

Musik: Arnold Schoenberg, aus: 6 kleine Klavierstücke Op 19, komponiert 1911; Danilo Perusina, piano.

"Der erste Dada-Abend, wo ich mitmachte, war am 23. März 1917. Das war in der Bahnhofstraße 19 in der Galerie Dada. Ich hatte auf dem Klavier zu spielen, ganz moderne Musik. Ich kannte schon von früher aus Deutschland die Musik von Arnold Schönberg . . . Ich war von dieser neuen dissonanten Musik so begeistert, dass ich das bei den Dadaisten propagiert habe. Ich spielte diese sechs kleinen Stücke von Schönberg. Eines gefiel mir besonders: Wie ein Geist, der seufzt, weit weg über der Erde oder schon im Himmel ist. Auch einige andere Stücke habe ich gespielt, die ich rhythmisch toll fand. . . . Dem damaligen Publikum war diese Musik völlig unbekannt . . ."

Suzanne Perrottet, aus: Ein bewegtes Leben (1989)


Betrunken taumeln … Siehe oben


Ihre eigene Dichtung hat Hennings zeitlebens mehr als freien Gesang und gläubiges Spiel und weniger als ein »Werk« verstanden. Als sich Carl Schmitt, zeitlebens ein grosser Bewunderer, 1924 nach neuen Gedichten erkundigt, antwortet sie ihm:

»Neue Gedichte sind nicht von mir erschienen. [...] Es heisst: das Leben fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Warum sollte es mit den kleinen Reimen nicht ebenso gehen? Doch wenn Sie Lust haben, im Fluge einiges aufzufangen, sende ich Ihnen gerne eins. Wenn es verweht, macht es nichts. Wichtig bleibt nur die Lust zum Singen, mein ich, und es gefällt mir noch immer, scheint mir.« (Hennings: Brief an Carl Schmitt, [Herbst 1924])


 
Emmy Hennings (Ascona 1917), aus Helle Nacht, E. Reiß, 1922 (Titel „Gesichte 11“)


»Wir gehen im Rosengarten, da sind
Lilien und Blumen genug; wir wollen
unserer Schwester einen Kranz machen,
so wird sie sich vor uns freuen.«

(Jakob Böhme, » De triplici vita hominis«.)


Emmy Hennings, Auszug aus „Rosen“ (Ascona 1917, nicht veröffentlicht, zitiert aus „Emmy Hennings Dada;“ von Christa Baumberge und Nicola Bahrmann, Zürich 2015)


Emmy Hennings (Ascona 1917, nicht veröffentlicht, siehe oben)

 




Mechthild von Magdeburg, aus: Das fliessende Licht der Gottheit, Ausgewählt und übertragen von Sigmund Simon, Berlin 1907, Oesterheld & Co Verlag

Die Blume der deutschen Mystik keimte zuerst in den Klöstern. Schwester Mechtild von Magdeburg (1212–1294) schrieb ihr Buch vom fließenden Licht der Gottheit: voll seliger Versunkenheit in Christo. In ihren Ekstasen sah sie Jesus als schönen Jüngling (Schöner Jüngling, mich lüstet dein) ihre Zelle betreten, er war ihr wie ein Bräutigam zur Braut, und ihre himmlischen Sprüche sind wie irdische Liebeslieder. Ihre Gottesminne (Eia, liebe Gottesminne, umhalse stets die Seele mein!) war der Gottesminne des Wolfram tief verwandt. Die reine Minne (nicht jene höfische oder ritterliche oder bäurische Minne) galt ihr als oberstes Prinzip. „Dies Buch ist begonnen in der Minne, es soll auch enden in der Minne; denn es ist nichts so weise, so heilig, noch so schön, noch so stark, noch also vollkommen als die Minne.“ Mechtild von Magdeburg ist trunken vor Askese. Ihr Geist kennt die Wollust des Fleisches. Jesu ist ihr zärtliches Gespiel und sie ist seine Tänzerin. Meister Eckhard (1260–1327, gestorben in Köln), ihr mystischer Bruder, verhält sich zu ihr wie ein Kauz oder Uhu zu einer Libelle. Ihr Leben und Dichten war ein Schweben und Ja sagen, das seine ein tief in sich Beruhn und ein Entsagen. Er liebte das Leid um des Leides willen: jeder Schmerz war ihm eine Station zum Paradies. Er brach die Wunden, die in ihm verheilen oder verharschen wollten, künstlich wieder auf: daß nur sein Blut fließe. Seine Gedanken scheinen oft verschleiert, ja manche haben dunkle Kapuzen übers Haupt gezogen und sind ganz unerkennbar. Sein Buch der göttlichen Tröstung ist ein Trostbuch für die, die am Tode und am Leben leiden.

Klabund, das ist Alfred Henschke (1890  -  1928), aus: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde   -  Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart 1920 Dürr & Weber m. b. H. · Leipzig-Gaschwitz

 

Emmy Hennings, aus: Helle Nacht, Reiß, Berlin 1922


Im Video wurden Bilder verwendet von: Augusto Giacometti, Sarah Stilwell Weber (1878-1939), Marianne von Werefkin, Marcel Janco, Charles Rollo Peters, Jezef Pankiewicz, Henry Ossawa Tanner, Reinhold Rudolf Junghanns, Alice Pike Barney, Harold Burkedin, Francois Louis Schmied, Wassily Kandinsky, Albrecht de Vriendt, Lionel Feininger, Marcel Slodky, Edvard Munch, Julie Wolfthorn, August Macke, Ida Maly, Heinrich Campendonk, Gustav Klimt, Cornelia Paczka-Wagner, Franz Marc, Wilhelm Morgner, Kuzma Petrov-Vodkin, Arthur Segal, Albert Müller, Ferdinand Hodler, Else Berg, Arthur Segal, Anton Faistauer, Léon Spilliaert, Alphonse Palumbo, das letzte Bild im Video ist eine Blumencollage von Emmy Hennings.

Dingefinders LYRA: LYRA ist die Abkürzung für LYrikRAdio und bezieht sich auf die Audiospur. Die Bilder sind für YouTube dazu gekommen. Das Projekt verfolgt keinerlei kommerzielle Zwecke, weder der Blog (Dingeinders Lesebuch) noch der YouTube-Kanal sind monetarisiert. Die Reihe wird fortgesetzt.

 



Montag, 14. Februar 2022

Das rote Kleid - Ein Märchen

 



Das rote Kleid

Ein Mädchen wollte einen Krug mit Milch, den es auf dem Kopfe trug, zum Markt bringen und malte sich unterwegs aus, was es mit dem Erlös für die verkaufte Milch alles anfangen könnte. »Für den Erlös kauf ich erst einmal ein Huhn. Wenn ich das Huhn fleißig füttere, legt es Eier und brütet aus den Eiern Küken aus. Sind die Küken groß, dann verkaufe ich sie und das Huhn und erwerbe dafür ein Schaf. Hat das Schaf ein Lamm geworfen, dann verkaufe ich Schaf und Lamm und erwerbe dafür ein Kalb. Ist das Kalb zu einer Kuh geworden, die mir ihrerseits ein Kalb geworfen hat, dann verkaufe ich Kuh und Kalb und erhalte dafür soviel Geld, dass ich mir ein rotes Kleid kaufen kann. Dann drehen sich alle Burschen nach mir um und sagen: ›Das ist aber ein hübsches, ansehnliches Mädchen!‹ Und ich kann die Nase hoch tragen.« In diesem Augenblick kam der Bürgermeister dem Mädchen entgegen und wünschte ihm einen schönen guten Morgen. Es vergaß, dass es einen Krug mit Milch auf dem Kopf trug, verneigte sich nach Landessitte vor ihm, der Krug fiel zu Boden, und die Milch floss aus. Da weinte das Mädchen bitterlich. »Warum weinst du so sehr?« fragte der Bürgermeister. »Ach, ich Unglückliche! Alles, was ich mir unterwegs angeschafft habe, ist nun in der Erde versickert. Über das meiste komme ich hinweg, doch um das rote Kleid ist es wirklich schade!«

Ein Märchen aus Jugoslawien

Das Bild ist von Egon Schiele (1890 - 1918)

Dienstag, 8. Februar 2022

Marianne Dora Rein: Märchen von den vier Brüdern

 

Märchen von den vier Brüdern

Es lebten vier Brüder, die grübelten über den Sinn des Lebens, saßen in ihrem Haus und zerdachten sich die Stirn. Da sagte der eine und strich mit der Hand über sein rotgleißendes Haar: Ich will gehen und die feurige Flamme nach dem Sinn befragen". Der zweite sagte: „Ich hole mir Antwort von der wehenden Luft", warf den Kopf in den Nacken, und sein Gesicht leuchtete. Der dritte:„Den ewigen Wassern will ich lauschen und ihrem Rieseln", und seine Augen glänzten sehnsüchtig wie in Tränen. Der letzte schwieg. Als sie in ihn drangen,wen er befragen wolle, sagte er ruhig: „Ich diene der lebendigen Erde und warte in Geduld", dabei sah er durchs Fenster, das weit offenstand und den Blick freigab auf sommerliche Wiesen, belaubte Bäume, einen blanken Fluß und die Türme der nahen Stadt.

Andern Tags nahmen sie Abschied voneinander, und da sie nicht wussten, ob sie sich je wiedersehen würden, schworen sie,sich gegenseitig Nachricht zu geben über ihr Schicksal und ihre Erfahrungen, wenn nicht durch Worte, so durch Zeichen. Dann zogen die drei Brüder aus, der vierte winkte lang unter der Tür.

Der erste schlug den Weg ein zur feurigen Flamme. Er erkannte die Richtung an mancherlei Zeichen. Schmiedeessen warfen roten Schein aus ihrem rußigen Dunkel; Kohlenmeiler im tiefen Wald wiesen ihn weiter mit langsam schwelender Glut. Der Weg zog sich lange hin; im Herbst verriet der rauchige Geruch ihm die Kartoffelfeuer, bevor er sie sah, und einmal, in einer hellen Schneenacht, färbte sich der Himmel von dem gewaltigen Brand einer ganzen Stadt. Da wußte er, daß er sein Ziel bald erreichen werde. Im Gebirge stand er vor dem verfallenen Eingang eines verlassenen Bergwerks, Irrlichter tanzten blauzüngelnd auf dem moorigen Grund. Er stieg hinab durch die Dunkelheit, schritt die Gänge entlang in die Tiefe der Erde bis zu dem Reich der feurigen Flamme. Lange stand er und schaute. Da züngelten Flammen im Kreise in allen Stufungen von Rot und Blau und Gelb, in reinen und in verwischten Farben. Sie brannten, man sah nicht wovon genährt, es schien, sie verbrannten am eignen Feuer, lautlos, ohne Prasseln und Knistern. In ihrem Kreis türmte sich ein Berg von schwärzlicher Asche; er wuchs langsam und stetig, und über seiner Mitte schwebte ein leuchtender Schein, nicht Licht nicht Flamme, nicht hell nicht dunkel, ein Unnennbares. Auch strahlte vom Feuer nicht aus, was des Feuers Seele ist: Wärme. Er beugte sich über die Flammen und tat seine Frage, das Gesicht auf den schwebenden Schein geheftet. Doch ward ihm keine Antwort, da befiel ihn Angst; er wollte enteilen wie ein Frevler, der Unheiliges begehrt, aber nun brannten die Flammen heller auf, griffen nach ihm und seinem Gewände und zogen ihn mit starker Gewalt in ihren Kreis. Einen Augenblick stand er ganz durchglüht, jeder Muskel, jeder Nerv, jede Blutbahn ward sichtbar, sein Herz erglühte rot, dann ward er zur Flamme und brannte lautlos mit, den schwebenden Schein zu nähren, der über dem Aschenberg hing.

Der zweite Bruder suchte den Weg zur wehenden Luft. Er trug den Kopf im Nacken; aufwärtsblickend ging er dahin und folgte den treibenden Wolken in Richtung der Winde. Er ging unter dem feuchten Westwind und ließ sein Gesicht vom Regen betauen, der Südwind fächelte ihn trocken und entzückte mit Düften sein Herz. An windstillen Tagen rastete er, lag im Walde und schaute zum Himmel oder stand in Städten unter offnen Torbögen, durch die Zugluft streifte, und ließ die Menschen an sich vorüberziehen, ohne sie zu beachten. Denn auch im Gewirr der Häuser und Gassen suchte sein Blick die Richtung am Himmel.

Darüber verrannen Sommer und Frühherbst, die leichten Winde zogen davon, Ost und Nord trieben ihn erschauernd weiter, unter kalten Regengüssen, ersten Schneefällen suchte er frierend das Ziel und wandte sich südwärts. Aber die freundlichen Winde mieden ihn. Zitternd duckte er sich unter der Wucht der Sandstürme und lag erschlafft von der Glut, die gewaltig über die weite Wüste wehte. Nur die Gewißheit, daß sein Weg bald enden werde, gab ihm die Kraft zum Weiterschreiten. An einem wolkenschattigen Tag, an dem die Winde sich alle vier um die Herrschaft stritten, betrat er ein enges Tal, das schmal zwischen schroffen Bergen lag. Hier staute sich die Luft, es war kühl und still. Trotzdem ergriff ihn Furcht, denn aus düsterm Himmel streifte ihn eisiger Lufthauch. Da wußte er: hier war das Ziel, und rief seine Frage in die Lüfte. Der saugende Wirbel verschlug ihm den Atem, ein gewaltiger Wind ergriff ihn, schleuderte den Körper empor in vielfachen Drehungen, bis er, ermüdet von der eigenen Gewalt, ihn fallen ließ, zerstiebend im rasenden Sturze, so daß keine Spur von ihm blieb.

Der dritte ging an alten Brunnen vorüber, die die Städte mit dem Atem des Wassers erfüllten, verweilte bei jedem und spiegelte sein Gesicht in den flachen Brunnenschalen. An Bächen zog er hinab, an Flüssen, verträumte die Nächte an blanken Seen und schilfumstandenen Weihern. Mühlenräder rauschten, die Sonne blinkte ihm entgegen von den glitzernden Wellen, Mond und Sterne belauschte er, wenn sie den Silberschein in den feuchten Spiegel tauchten. Das Wasser ward ihm zum Abbild der bewegten Welt, sein Weg war lieblich und seine Sehnsucht zerfloß ohne hohe Spannung in linden Tränen; seinen Durst stillten rieselnde Quellen, über dem Dahinschweifen vergaß er die Ursache seiner Wanderung. Erst als an den verhangenen Herbsttagen die Wasserfläche dunkler schien und wie erloschen und nicht mehr Erquickung bot, sondern durchdringende Feuchte ausströmte, gedachte er wieder seiner Sendung. Seine Sehnsucht verdichtete sich zu Schwermut und Traurigkeit, als der erste Frost den hellen Spiegel blendete und mit Reif behauchte und ihm beim Hineinblicken das Wasser nicht mehr sein eignes Bild tröstlich entgegenhielt. Und als eines Morgens kein Wasser ihm entgegenblinkte, sondern der Fluß erstarrt lag unter der grünlichen Decke wachsenden Eises, da war ihm, als werde er zu seinem eignen Schatten und löse sich schwach von sich selber. So taumelte er durch die Tage und blickte angstvoll auf die gefangenen Wasser, die der Frost immer fester in Fesseln schlug.

Am kürzesten Tag geriet er an einen See, durch dessen Eisdecke dunkle Augen zu blicken schienen. Begierig nach dem Anblick lebendigen Wassers verließ er das Ufer, glitt zu einem der aufgehackten Fischlöcher, und die Frage nach dem Sinn löste sich halb unbewußt von seinen Lippen, mehr ein Seufzen. Das Bersten des Eises drang nicht mehr zu seinen Ohren, als sein Fuß auf der Glätte fehltrat und die dunkelnde Schwärze des Wassers ihn einzog.

Der letzte harrte treu der Rückkehr der Brüder, obwohl die Weisheit des Herzens ihm die Antwort schon lange gegeben hatte; aber noch hatte keiner ein Zeichen gesandt, und seine Hoffnung war wie ein Ball, hin- und hergeschleudert zwischen Zuversicht und Befürchtung. Er suchte nicht nach dem verlorenen Sinn, lebte seine Menschentage und tat seine Arbeit, und da er in Ruhe werkte, nicht in Unrast suchte, fiel das Wissen darum ihm von selber zu: nicht auf einmal wie ein funkelnder Blitz, der einen Augenblick aufzuckt, um das Auge in doppelter Dunkelheit zurückzulassen, da es, unfähig so rasch zu schauen, sofort wieder vergessen muß, was an Erleuchtung ihm zufiel. Nein, das Wissen wuchs in seinem Gemüt, wie eine schöne Fernsicht, auf die man zuwandert, allmählich deutlicher vor den Blicken liegt, mit immer schärferem und klarerem Umriß, ohne daß Eile den Genuß der Wanderung trübt. Er sah viele Gesichter auf seinem Weg, junge und alte, frohe und bedrückte, ruhige und bewegte. Auch ihm brannte das Feuer, wehte die Luft, strömten die Wasser, aber immer hielt die lebendige Erde, über die er bewußt und festen Schrittes ging, ihn davor zurück, in unklarer Sehnsucht zu verbrennen, zu zerstäuben, zu zerfließen. So vergingen ihm die Jahre, und er harrte nicht mehr auf die Zeichen seiner Brüder. Zu gewiß wußte er, daß sie verloren waren, verzehrt, aufgesogen, zerflossen in Sehnsucht.

Er erkannte, daß sie Toren waren, die das Ende vorwegnehmen wollten, als sie noch am Anfang ihrer Aufgabe standen: vor dem Leben selbst. Das Nächste immer galt es zu tun, zu leben, zu schauen, zu schaffen, und als Gnade winkte am Ende die Einsicht, daß Aufgabe und Sinn in eins verschmolzen. Dann nahten wohl der feurige Schein, die wehende Luft, die ewigen Wasser und nahmen sanft ihren Teil von dem, was erfüllt zurückkehrte zu der lebendigen Erde, aus der einst Gott den Menschen schuf.

Marianne Rein, aus: Der Morgen, Zweimonatschrift der Juden in Deutschland, herausgegeben von Julius Goldstein, Philo-Verlag, Berlin Heft 3 Juni 1938

                                 

Marianne Rein, geboren am 2. Januar 1911, verfasste Gedichte und Prosa überwiegend aus dem Bereich der Naturlyrik und veröffentlichte auch einzelne Werke in der Zeitschrift „Der Morgen“, die vom Kulturbund Deutscher Juden herausgegeben wurde. 1917 verlor sie ihren Vater, der nach schwerer Krankheit starb, woraufhin ihre Mutter mit ihr im selben Jahr nach Würzburg zog, von wo sie stammte. Marianne Rein besuchte in Würzburg die jüdische Volksschule und trat später mit dem Schriftsteller Jakob Picard in regen Briefkontakt. Während des Nationalsozialismus versuchte sie erfolglos, zusammen mit ihrer Mutter auszuwandern. Ab 1941 arbeitete sie in einem jüdischen Altersheim. Am 27. November 1941 wurde sie zusammen mit ihrer Mutter nach Riga deportiert und dort erschossen.

Das Bild ist von Anton Mauve (1828  -  1888), Anton Mauve war ein führender niederländischer Landschaftsmaler zum Ende des 19. Jahrhunderts. Vincent van Gogh, den Cousin seiner Gattin, führte Mauve an die Malerei heran.

Donnerstag, 27. Januar 2022

Zur Erinnerung an Zitkála-Šá, Roter Vogel

 

Zur Erinnerung an Zitkála-Šá, Roter Vogel, die am 25. 1.1938 starb: Die Boarding Schools gehören zum dunkelsten Teil der US-amerikanischen und kanadischen Geschichte, sie stehen am Ende einer langen Geschichte der Vertreibung, des Genozids, der kulturellen Vernichtung und Marginalisierung, die bis heute nachwirkt. Die Yankton-Dakota Zitkala-Ša (Roter Vogel), die als Gertrude Simmons Bonin am 22. Februar 1876 in einem Reservat in Dakota geboren wurde, erfuhr durch ihre Mutter eine traditionelle Erziehung und lernte von ihr die Mythen und Bräuche der Dakota. Ihr Vater war ein Weißer, von dem nur wenig bekannt ist. Trotz der Armut und zahlreicher Probleme erlebte sie ihre Kindheit als sehr behütet und im Einklang mit ihren indigenen Wurzeln. Ihre Kindheit im Reservat beschrieb sie in ihrem ersten Buch “Impression of an Indian Childhood”. Mit 12 Jahren begann sie ein von Quäkern betriebenes Internat für die Umerziehung von indianischen Kindern (also ihre “Anpassung an die weiße Gesellschaft) zu besuchen. Der Kontrast zu ihrer bisherigen Kindheit hätte nicht größer sein können. Die dort angewendten Erziehungsmethoden übten massiven Druck auf die Kinder aus, ihre Herkunftssprache und Herkunftskultur zu vergessen und veränderten die Persönlichkeiten der Kinder grundlegend. Zitkala-Ša schrieb dazu später:

“Es war nahezu unmöglich, die eiserne Routine hinter sich zu lassen, nachdem die zivilisatorische Maschine ihr geschäftiges Tagewerk begonnnen hatte.”

Nachdem sie die Schule verließ, fand sie keinen rechten Anschluss mehr an ihre Herkunftskultur. Die Traditionen und Bräuche, ja sogar die Sprache, waren ihr durch die Umerziehung entfremdet. Sie besuchte eine weiße High School, entdeckte ihre Liebe zu klassischer Musik und studierte dank eines Stipendiums am Bostoner Konservatorium Violine, ein zu dieser Zeit ganz und gar ungewöhnlicher Vorgang. Als Soloviolonistin ging sie auf Tour.

Doch 1901 kehrte sie in die Yankton Reservation zurück. 1913 wurde die von ihr verfasste Oper “Sun Dance” – eine Anspielung auf den traditionellen Sonnentanz – uraufgeführt, eine einzigartige Verbindung indianischer Erzählkultur und klassischer Musik. Bis heute ist es die einzige Oper, die von einer amerikanischen Indigenen verfasst wurde.

Zitkala-Ša engagierte sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung, 1916 wurde sie Generalsekretärin der Society of American Indians und legte sich in dieser Funktion immer wieder mit dem Bureau of Indian Affairs in Washington an. Sie wurde Redakteurin der Zeitschrift “American Indian Magazine” und gründete 1921 das “Indian Welfare Committee”. Ihre Erlebnisse als Aktivistin schilderte sie ein Jahr später in dem Buch “American Indian Stories”. Bis zu ihrem Tod 1938 blieb sie eine engagierte Aktivistin, die an der Anklageschrift gegen Staat Oklahoma und dessen “legalisiertem Landraub” an der indigenen Bevölkerung mit und setze sich für die Verbesserung der indigenen Bevölkerung, insbesondere der Frauen ein.

1902 veröffentlichte sie einen Artikel in Atlantic Monthly mit dem Titel "Why I Am a Pagan". Es war eine Abhandlung über ihre persönlichen spirituellen Überzeugungen, in der sie dich gegen die Christianisierung der Indianer wandte. Dieser Artikel endete mit den Worten: “A wee child toddling in a wonder world, I prefer to their dogma my excursions into the natural gardens where the voice of the Great Spirit is heard in the twittering of birds, the rippling of mighty waters, and the sweet breathing of flowers. If this is Paganism, then at present, at least, I am a Pagan.-”