Das rote Kleid
Ein Mädchen wollte einen Krug mit Milch, den es auf dem Kopfe trug, zum Markt bringen und malte sich unterwegs aus, was es mit dem Erlös für die verkaufte Milch alles anfangen könnte. »Für den Erlös kauf ich erst einmal ein Huhn. Wenn ich das Huhn fleißig füttere, legt es Eier und brütet aus den Eiern Küken aus. Sind die Küken groß, dann verkaufe ich sie und das Huhn und erwerbe dafür ein Schaf. Hat das Schaf ein Lamm geworfen, dann verkaufe ich Schaf und Lamm und erwerbe dafür ein Kalb. Ist das Kalb zu einer Kuh geworden, die mir ihrerseits ein Kalb geworfen hat, dann verkaufe ich Kuh und Kalb und erhalte dafür soviel Geld, dass ich mir ein rotes Kleid kaufen kann. Dann drehen sich alle Burschen nach mir um und sagen: ›Das ist aber ein hübsches, ansehnliches Mädchen!‹ Und ich kann die Nase hoch tragen.« In diesem Augenblick kam der Bürgermeister dem Mädchen entgegen und wünschte ihm einen schönen guten Morgen. Es vergaß, dass es einen Krug mit Milch auf dem Kopf trug, verneigte sich nach Landessitte vor ihm, der Krug fiel zu Boden, und die Milch floss aus. Da weinte das Mädchen bitterlich. »Warum weinst du so sehr?« fragte der Bürgermeister. »Ach, ich Unglückliche! Alles, was ich mir unterwegs angeschafft habe, ist nun in der Erde versickert. Über das meiste komme ich hinweg, doch um das rote Kleid ist es wirklich schade!«
Ein Märchen aus Jugoslawien
Das Bild ist von Egon Schiele (1890 - 1918)
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