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Donnerstag, 3. Juli 2025

Zur Erinnerung an Chaim Nachman Bialik: Licht

 



Licht


Einsam durchlebt´ ich den Morgen der Kindheit
Und strebte in Rätselwelten hinein,
Ich bangt´ aus der Tiefe der Welt nach dem Lichte
In mir war ein Fremdes wie gärender Wein,
Verstecke sucht´ ich und sank ins Betrachten,
Schien mir ein Seher, der Welten schaut,
Dort fand ich Freunde, empfing ihr Geheimnis
Und wahrte im Herzen, was sie mir vertraut.

Der Freunde wie viel! Jeder fliegende Vogel,
Der Bäume Schatten und Waldespracht,
Des Mondes keusches Antlitz im Fenster,
Der Keller, das Tor, welches knarrt und kracht -
Die Distel hinter dichtem Gezäune,
Der Strahl, den die Sonne zu mir gespannt,
Ein Lämpchen, ein Glas aus kristallenen Splittern -
Der Söller, die spinnwebdurchzogene Wand,
Süßgrauendes Dämmern in tiefen Brunnen
Und drin mein Echo und Spiegelbild,
Die Stimme der Uhr, die schneidende Säge
Im Holz, aus der´s wie ein Sprechen quillt,
Auch reife Birnen und herbe Äpfel,
Die nah´ in des Nachbars Garten hängen -
Der Bienen und Fliegen Summen und Drängen, -
Ich liebte sie alle, doch war mir nichts
So teuer, so hold, als die Geister des Lichts.
Im Sommer sah ich wohl solche Geister,
Wie leichte Cherubim, gezeugt im Glanz.
Wie sie zu Feld und zum Wasser schwebten,
Streifte auch mich ihr jubelnder Tanz,
Mich faßt´ ihre Wonne seelenbefreiend,
Zum erstenmal kindlich aufglänzte mein Blick.
Ich ward ihnen Freund, ihres Kreises Vertrauter -
Wir liebten einander in strahlendem Glück.

Am Morgen, ich bin noch schlummerumfangen,
Auf! pocht´s an mein Fenster, huschend und hell,
Noch bin ich nicht fertig, von Morgengesichten
Noch kaum ermannt, da blinzelt es: Schnell!
Kaum hab´ ich den Schuh, den verlegten, gefunden,
Ruft´s: Fort! Und geschwind! Die Sekunde verrinnt!
Und wie ich mich dränge, zu ihnen zu kommen,
Winkt´s: „In die Weite!“ Wir schweben, zerstreuen uns
Spielen und tollen im tauigen Grün,
Leuchten in Funken und reih´n uns in Perlen,
Auf grüner Decke rollen wir hin.

Dann sinken im Kreis wir, am Tau uns berauschend -
Jäh leuchtet in tausend Schimmern das Korn,
In tausend Lichtern strahlet das Grüne,
Mit sieben Augen lugt jeder Dorn.
An jedem Stachel Kristalle erzittern
Und bilden Säume aus dünnem Gold.

Da faßt das Lichtreich plötzlich ein Schwanken,
Daß Sonn` und Saphir wie durch Siebe nur blinkt -
Der Blick wird verdunkelt - das macht nur ein Kälblein,
Das leckend und fressend im Grase springt.
Nach Speise gräbt eine Kette von Hühnern,
Daß nickend die Häupter der Gräser beben -
Rings regt sich ein schwatzendes, gackerndes Leben.
Ich aber zitt´re im Glanz wie ein Vogel,
Die Seele im Netze des Lichtes gefangen,
Als ob feingoldene, zarte Fäden
An allen Gliedern mich fassen, umfangen.
Und neu verjüngt sich die leuchtende Kindheit,
Die Sonne des Sangs will im Herzen erstehen,
Ich selber möchte vom Kusse der Strahlen
Aufleuchten, aufjauchzen und selig vergehen.

Noch bin ich trunken, die Seele geschwellt,
Durchwoben vom Glanze, da tönt es: Zum Feld!
In leichtem Fluge der Geister Gemeine
Durchbreitet das Feld in blitzendem Scheine.
Auf Halmesspitzen, den spelzigen, hohen,
Die labungsdürstenden schweben und lohen.
„In diesem weiten Meere des Glanzes
O laßt uns, bis brennend der Mittag, uns baden,
Indes über uns wie Träume des Himmels
Ziehen der Wölkchen leichte Schwaden!
Jetzt birgt sie die Schar, als taucht´ sie in Fluten,
Jetzt blitzt sie empor zu jauchzendem Glüh´n,
Sie schütteln die Körper und schleudern wie Tropfen
Einer zum andern ihr Funkensprüh´n.

Es jauchzt das Gefild - wie im Schwunge von Schwalben,
Die schießen und zwitschern und eilend entflieh´n -
Viel leichtbeschwingte, hurt´ge Libellen
Auf lichten Flügeln blitzen und blüh´n,
Tanzen verweilenden Flugs auf den Garben
In weißen, roten und goldenen Farben,
Verschlungen im Glanz und wieder erglitzernd.
Es ist, als streut´ eine heitere Hand
Lebende Blumen über die Geister,
Die goldene Pfeile im Reigen besprengen -
Sie sprüh´n in Raketen, im Takt zu den Sängen
Des Heimchens, der Grille, der Feldmusikanten,
Die mit den Zimbeln zirpen und springen.
Die Luft, die glühende, schweigende schüttert,
Sie hüllt sich in girrendes Rauschen und zittert.

Schon müde des Lichts, den Weinberg durchrüttelnd,
Verkünden die Frohen: „Zum Weiher! vor!
Schon ward´s zum Verschmachten!“ - Sie schwingen die Flügel
Zum Weiher, gebettet in Schilf und Rohr.
In ruhigem Mittag die Wasser sich wiegen,
In Sonne und Schatten der Weiden gestreckt.
Hier ist es hell wie ein glatter Spiegel,
Es wölbt sich Azur, nur leise bedeckt
Von Wölkchen, zerfließend, wie Perlen so rein.
Die Welt ist verzaubert. Ein neuer Himmel,
Gekühlt die Sonne und reiner die Wesen,
Im Schleier ewiger Ruhe und Fülle,
Getaucht in die lauteren Wasser der Stille,
Und alles voll Leuchten, voll Frieden und Traum.

Und drüben Dunkel von dichten Schatten,
In Grün und in Frieden versunken die Flut,
Und beide Ufer bedecken mit Schatten
Die Welt, die stumm in der Tiefe ruht.
Da baden zwei Störche, ein weißer Schwan
Und schütteln und schwingen das nasse Gefieder,
Und alles gekühlt, voll Feuchte und Grün.

Dort wieder ein Meer von goldenem Glanze,
Lichtflecke und -brüche und leuchtende Falten,
Goldene Schuppen und glastende Ketten -
Zwei Sonnen, im Bruche der Wellen gespalten,
Wie reinen Kristalls ein glitzerndes Lohen -
Und alles blitzet und leuchtet und brennt.

Zum Weiher! Zum Weiher! In seligem Schrecken
Erschwankt all die Flut der goldenen Halle,
Daß Glanz um Glanz sich durchdringen, bedecken, -
Da regt´s sich in tausend Tönen und Farben,
Bewegt sich unten der wölbige Himmel,
Bewegt sich die Sonne und teilt sich in sieben,
Und sieben Sonnen im Tiefengetümmel
Küssen einander und mischen sich wieder,
Zerstückeln vollends. Ein Taumel umflicht
Jegliches Wesen im Chaos der Tiefe,
Im Flutmeer des Glanzes, im Ozean Licht.

In dieses Flammen und Glanzeswogen
Versank auch ich und sog von dem Lichte.
Wie kehrt´ ich wieder, gereinigt, geklärt!
An diesen tausend jubelnden Quellen
Zersprengte mein Inn´res in Meeresergüssen,
Vom Reigen der Klänge fortgerissen,
Die tausend seligen Harfen entschwellen.

Noch sitz´ ich, versunken, im Rasen des Weihers
Und seh´, wie die Welle sich sänftigt am Strand.
Noch wiegt sich ruhig auf ihrem Antlitz
Ein leichtes Zittern, macht funkeln den Sand,
Entzündet noch Zünglein und kleine Flämmchen
Und streut dazwischen ein leises Glimmen -
Es ist ein Glanz, der vertönt und erstirbt. -

Still wird der Weiher, sein Antlitz wieder
Wie früher schlummernd, glatt und durchhellt.
Und wieder zeigen sich deutliche Spuren,
Faltet sich unten im Schatten der Weiden
Im heimlichen Schilf eine schweigende Welt.
Dort drüben steht am Rande des Weihers
Bei leuchtender Flut ein Fischergreis,
Der hebt ein feines Netz aus dem Wasser,
Schüttelt es und in des Regenbogens
Farben blitzen die Tropfen im Kreis,
Als braute der Fischer in gleißenden Schalen
Zaubertränke mit goldenem Schaum.
Es springen zur Erde Tropfen und Blitze,
Aufleuchtet ein leichter und seliger Traum.

Plötzlich sah ich aus dem Teiche
Reih´ auf Reihe zart sich heben,
Auf die stille Fläche schweben
Kleiner Geister eine Schar,

Heil´ger Schwingen, rein und schön -
Ob sie sich nicht heut´ erst lösten
Von den Flügeln eines Cherubs
In den Höh´n?

Und noch blitzt aus ihren Augen
Höchstes Glänzen der Schechinah -
Wie sie Arm´ in Arme schlingen,
tönt ihr Singen:

Zu uns, du Knabe,
Zu uns, du Schöner
Und Lichtesdurst´ger,
Bis sinket der Tag!

Wir tauchen dich,
Wir tragen dich
Zu tief versunk´nen
Meeresschätzen.

Zu gläsernen Türmen,
Kristallpalästen,
Demant´nen Tempeln
Und Funkelsonnen

Mit Licht, durch sieben
Tage gehütet,
Tränken wir dich
Aus goldenen Kelchen.

Bis Licht dein Atem,
Bis Licht dein Schauen
In Herz und Bein
Dringt´s tief hinein

Von tausend Güssen
Und Strahlenküssen -
Viel sel´ger, ach!
Als du´s ertragen kannst.

Noch klang mir der feine Gesang in der Seele
Sie aber verschwanden im Waldesdicht,
Winkend mit dem letzte Blicke des Trostes,
Als gält´ es: Zum Morgen! - und nicht mehr in Sicht.
Und neulich war´s, nicht denk´ ich der Stunde,
Sah ich ihr Antlitz - von Ohngefähr -
Es schien voll Trübe und voller Erbarmen,
Ihr scheidender Blick aber sprach nichts mehr.

Und wieder weckt mich das Licht aus dem Schlummer,
Es sengt meine Lippen, es sticht meine Lider,
ich blicke zum Fenster und seh´ nur die Sonne -
Wie späh´ ich und harre - sie kehren nicht wieder,
Des Lichtes Gesang ist für ewig verstummt.

Nur tief im Herzen trag´ ich die Töne,
Unter den Lidern des Lichtes Gewalten.
Ich schöpfte des Lebens holdeste Träume,
Aus ihrem Auge die hehrsten Gestalten,
Am Quell vom Segen der Reine getränkt.

Ch. N. Bialik, aus: Gedichte, aus dem hebräischen übertragen von Ernst Müller, Buchschmuck von O. Herschdörffer, Jüdischer Verlag GmbH, Köln und Leipzig 1911

Chaim Nachman Bialik (jiddisch חיים נחמן ביאַלי , hebräisch חַיִּים נַחְמָן בִּיאָלִי , vereinzelt auch: Chaim Nachum Bialik; geboren am 9. Januar 1873 im Dorf Radin, in der Nähe von Schytomyr, Russisches Kaiserreich; gestorben am 4. Juli 1934 in Wien, war ein russisch-österreichischer jüdischer Dichter, Autor und Journalist, der auf Hebräisch und Jiddisch schrieb. Er ist einer der einflussreichsten hebräischen Dichter und wird in Israel als Nationaldichter angesehen.

Zudem übersetzte Bialik Shakespeares Julius Caesar, Schillers Wilhelm Tell, Cervantes’ Don Quichotte, Gedichte von Heine sowie Der Dybbuk des jiddischen Dichters Salomon An-ski ins Hebräische. Dabei war er sich der Grenzen des Übersetzens sehr bewusst: "Eine Übersetzung zu lesen sei wie die Braut durch den Schleier hindurch zu küssen."


Sonntag, 29. Juni 2025

Hugo Sonnenschein: Noch einmal rufe ich dich an. . .

 


Noch einmal rufe ich dich an weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, dir Kamerad, dir Freund, die Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch!

Erkennst du mich? Ja, ich bin der, welcher von Osten kommt, mit dem Stern im Haar, immer wieder von Osten kommt wie ein Bettler, aber geschmückt mit Löwenzahn durch die Straßen der Stadt wie ein Narr. Sonka. Weißt du nicht mehr, ich ruhte sehr müde am Neptunsbrunnen in Florenz und Kinder brachten mir Fische und Brot, weil ich hungrig war, und alle Bettler der Gegend aßen von meinem Hunger und wurden satt ohne u betteln.

Kennst du mich nicht? Verblaßte das Wunder in deinem Herzen, das geschah, als du deinen wütenden Hund auf mich hetztes: der sprang mich an mit gefletschten Zähnen und ward zum Lämmlein, als er mich erreichte, und leckte meine Hände.

Erinnere dich: daß du gestorben wärst an jenem Tag, da du verlassen warst von Gott und Menschen. Ich schwieg und sah dich an. Aus meinem Schweigen wurde dir das Leben. Ich habe mich an dich verschenkt, Verbrecher im Gefängnis, an dich Totkranker im Spital, an dich Obdachloser im Asyl, an dich du Mädchen von der Straße, an dich und dich und dich und dich, ich habe mich verschenkt mit Blick und Gegenblick und meiner Hand in deiner Hand, die dich umfaßte.

Du kennst mich ja. Ich bin von Osten. Und deine Maske aus dem Dreck des Westens wird nicht auslöschen mein Gesicht, das sich verschenkt, verschenkt, verschenkt, sieh mich nur an! Und du hast schon ein Herz und ein Gesicht.

Noch einmal rufe ich dich an, weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, die Kamerad, dir Freund, dir Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch!

Hugo Sonnenschein, aus: Der neue Daimon, 1919, Heft 3 - 4, April, Genossenschaftsverlag Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel, Wien Prag Leipzig

Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.


Mittwoch, 25. Juni 2025

Ich aber reineclaude mich

 



                                                                                     zweierlei handzeichen

                                                                                     ich bekreuzige mich
                                                                                     vor jeder kirche
                                                                                     ich bezwetschkige mich
                                                                                     vor jedem obstgarten

                                                                                     wie ich ersteres tue
                                                                                     weiß jeder katholik,
                                                                                     wie ich letzteres tue
                                                                                     ich allein

                                                                                     Ernst Jandl (1925 - 2000)



"Einjedes Geheimnis der Welt darfst du verraten, nur nicht, wo im Sommer die großen grünen Reineclauden reifen!"


Tu was du willst, oder auch nicht,
Schreibe in schwarz, in rot oder grün.
Lösche die Dunkelheit, den Durst, oder lösche das Licht,
Fahre nach Rom, nach Stuttgart oder nach Wien,
Gehe koppheister oder geh auf den Strich,
ich aber reineclaude mich

Sei wer du willst, oder sei es nicht,
Folge oder führe, geh vor oder lass ziehn,
Sei Dieb, oder halte Gericht,
Es ist mir egal mit welchem Schlich
Sich wer wie was erschlich,
Ich aber reineclaude mich

Bleib wo du willst, oder bleibe dort nicht,
Laufe, rolle, oder wage zu fliehn,
Tu was, oder tu es auch nicht,
Bleibe redlich, bleib arm, oder verdien
Tausend Millionen und mehr sicherlich,
Ich aber reineclaude mich


Illustration aus: 
Müller-Diemitz, Bissmann-Gotha u.a.: Deutschlands Obstsorten, Stuttgart 1905 - 1930



Dienstag, 24. Juni 2025

Leftherte

 



Leftherte

Dass ihr den Sommer mir nicht verderbet,
mich findet ihr nicht

Rausche im Laub der Linden
im Dufte ihrer Blüten

Gebe dich hin in den Kelch
der hundertjährigen Rose

Lege eine Kirsche in deinen Mund
und spüre meinen Kuss

Bette dein Haupt in die Winde
spüre meinen Lindenatem

Ich wandle in deinem geheimen Garten
wispere aus deinem Quellmund

Habe die Geheimnisse der Jugend bewahrt,
von den Gefährdungen gelöst

Nehme zurück, was zu mir gehört
einjedes Blühen hat seine Zeit

einjedes Reifen einjedes in sich Ruhen.
Ihr verderbet mir den Sommer nicht



Das Bild ist von Juan Brull (1863 - 1912)

Montag, 23. Juni 2025

Wollte heut ein Lied mir schreiben. . .

 



Wollte heut ein Lied mir schreiben. . .


Wollte selber schreiben, um zu lesen:
„Heut bin ich des Lebens froh!“
Ach, das wär so schön gewesen,
Doch die Zeiten sind nicht so

„Make love not war“,
Auch dieser Satz erlebt gerad sein Waterloo,
Eigentlich wär das wunderbar,
Doch die Zeiten sind nicht so

Die Wahrheit, ebenso die Empathie
Ging in der ersten Runde schon k o,
Dabei wären sie so wertvoll wie noch nie, 
Doch die Zeiten sind nicht so

Der Griff nach goldnen Sternen
War letzlich nur ein Griff ins Klo,
Ach, sie sollten sich zum Mars entfernen,
Doch die Zeiten sind nicht so


Das Bild ist von Edwin Austin Abbey (1852 - 1911)

Sonntag, 22. Juni 2025

Es beginnt zu der Zeit. . .

 



Es beginnt zu der Zeit,
wo die Erdbeeren reifen,
und zu keiner anderen Zeit auch
hätte es dieses Beginnen gegeben

Es beginnt zu der Zeit
wo das Johanniskraut glüht,
und ein Namenlos
nach der geschundenen Erde greift

Über den Staub der Wege,
dem kargen struppigen Grün
der Weiden eine gleißende Sonne
sich spiegelnd in segnender Blüte

Zwischen den Buchen das Schweigen
des Mittags, nicht das Ruhen zu stören,
Schafgarbe, Baldrian und Mädesüß
weiten sich in das Blühen

Danke an das Leben
so zäh so einfach so still
lausche dem Wesen der Stille
lausche den Wesen

Die Tontafeln verwittert
die Bibliotheken abgebrannt
die Dateien gelöscht

überdauernd ist das
gesprochene Wort
von Zunge zu Ohr

Das Bild ist von Arthur Segal, geboren am 13. Juli 1875 in Jassy, Rumänien; gestorben am 23. Juni 1944 in London im Exil. Nach Beginn des ersten  Weltkriegs flüchtete sich der Pazifist Segal von Berlin nach Ascona, zu den Aussteigern vom Monte Verità. Er leitete dort eine Malschule. Sein Haus auf dem Berg wurde ein Treffpunkt exilierter Künstler wie Hans Arp, Marianne von Werefkin, Alexej Jawlensky, Lou Albert-Lasard. Mit seinem Nachbarn und Landsmann, dem Dichterpropheten Gusto Gräser, unterhielt er ein freundschaftliches Verhältnis. Zusammen mit den nach Ascona gekommenen Dadaisten beteiligte er sich an den Ausstellungen des Cabaret Voltaire in Zürich.[ Von 1920 bis 1933 unterhielt er in Berlin-Charlottenburg eine eigene Malschule, die ein beliebter Treffpunkt für Avantgarde-Künstler wurde. 1933 musste Segal aus Deutschland fliehen. Es ging über Mallorca, das er dann wegen des Bürgerkriegs verlassen musste, nach London. 



Mittwoch, 11. Juni 2025

Strawberry Fields Forever

 


Strawberry Fields Forever

So hat es mich noch einmal „in die Walderdbeeren“ getrieben. Sie ist doch einfach zu lecker, diese Marmelade aus den kleinen Dingern. Beim Pflücken ist jede/r für sich und bei sich, und die Gedanken dürfen mäandern. Heute bin ich mit dem Fluss meiner Gedanken wieder einmal bei der Utopie gelandet, beziehungsweise, beim Fehlen der Utopien. Ein Freund sagte das letztens, dass die Utopien ausgestorben sind, „man“ ist jetzt „Realist“. Doch ich finde es wichtig, von der Utopie aus zu denken, sie als Richtschnur zu nehmen für das tägliche Handeln. „Ideale sind wie Sterne, man kann sie nicht erreichen, doch sie weisen einem den Weg“, das ist ein spanisches Sprichwort.

Um die Menschenwelt ist es nicht zum Besten bestellt, das ist offensichtlich. Ich schreibe hier von „Menschenwelt“, denn ich meine, nicht „die Welt“ ist schlecht. Unsere Welt ist eher schön und liebenswert. Wenn ich mir Sammeleimer und den Wanderstock nehme, und die Wege außerhalb von Fredelsloh gehe, um zu meinen „strawberry fields“ zu gelangen, darf ich mich immer wieder an der Landschaft und ihrer Vielgestaltigkeit erfreuen, werde auf dem Weg von den Ziegen begrüßt, die auf der Weper zusammen mit Schafen gehalten werden, um auf den Kalkmagerrasen für die selteneren Pflanzen das Buschwerk nieder zu halten; ich darf mich an den Blüten von Wildorchideen, Skabiosen, Hauhechel und vielen anderen erfreuen, dazwischen gaukeln die Falter, welche die Blüten besuchen; über mir, in den Büschen und Bäumen, welche den Wanderweg säumen, reifen die Früchte heran, wilde Kirschen, Mirabellen, Schlehen, und noch weiter über mir, im blauen Himmel, zieht der Milan seine Kreise.


Das alles sind Zeichen einer Welt, an deren Schönheit ich mich erfreuen kann, und wenn ich das alles erleben darf, bekomme ich ein Gefühl dafür, wie die Welt „gedacht“ ist. Nein, die „Welt“ ist nicht zu verbessern. Allenthalben das Verhalten von uns Menschen bräuchte wohl dringend eine „Verbesserung“. Wir sind gerade dabei, das, was diese Welt ausmacht, ihre Schönheit in ihrer Vielfalt um des menschlichen Eigennutzes willen zu zerstören.

Es ist nicht die „Welt“, die uns mit Kriegen gegen uns und alles überzieht, wir überziehen die Erde mit Krieg, Zerstörung, Gewalt. Und da gibt es nicht den „Zweiten Weltkrieg“ und den „Ersten“, als zeitlich begrenzte Ereignisse, die letzten paar hundert, ja, tausend Jahre, hält dieser Krieg der Menschen gegen die Welt an. Da waren die Völkerwanderungskriege und die Römerkriege, die Kämpfe, mit denen die Christianisierung einherging, da waren der dreißigjährige Krieg, der Mitteleuropa massiv entvölkerte, da waren der siebenjährige Krieg, unter dem auch meine Wahlheimat hier litt, und so weiter, und dazwischen Bauernkriege, Scharmützel, kleine und große Feldzüge, und dazwischen Ausbeutung und Kahlschlag der Natur ringsum, Grobheit und Gewalt den einfachen Menschen gegenüber und der einfachen Menschen untereinander, Hexenverbrennungen, schwarze Pädagogik, unglaublich niederdrückende Arbeitsverhältnisse der Tagelöhner auf dem Land und in den Fabriken.

Wir Menschen haben der Welt weder Schönheit noch Frieden gebracht, sondern sind immer und überall als Eroberer gekommen. Sicher, es gab (und gibt) immer auch Menschenoasen, in denen Menschen mit der Welt in Eintracht und Frieden lebten, doch dann kamen andere, wie zum Beispiel in historischer Zeit die Weißen nach Nordamerika, und die Idylle war dahin. Nein, wir Menschen sollten uns nicht in den Gedanken versteigen, die „Welt zu verbessern“. Diese gute und bessere Welt zerstören wir gerade.

Doch die Welt ist alt genug, hat seit ihrer Entstehung einiges an Katastrophen, Klimawandel und Eiszeiten überlebt, und ist immer wieder in alter Schönheit erblüht, sie wird auch uns Menschen überstehen. Denn Schönheit ist ihr inneres Wesen. Wir Menschen dürfen uns entscheiden, ob wir dazu gehören wollen, ob wir eins damit sind, oder ob wir als Eroberer kommen, und uns „die Erde untertan“ machen, um ihr unseren gewalttätigen Stempel aufzudrücken. Mit diesem Versuch, der zusehends am Scheitern ist und absehbar scheitert, stellen nur wir uns außerhalb „der Welt“.



Wenn ich nun versuche, meine Utopie in Worte zu kleiden, dann komme ich immer wieder dahin: Ich bin als menschliches Wesen eines mit der Erde und ihren Wesen, im Grunde untrennbar verbunden, als ein Teil, das aus ihr kommt und in sie geht. Ich möchte im Konsens mit allen Wesen leben, mit ihrem Werden, Sein und Vergehen, ebenso wie alle Wesen auch werden, sein, vergehen, und, wenn es denn so ist, nach Staub und Asche wieder in die Schönheit der Welt zurückkehren. Im Konsens mit allen Wesen, also auch mit uns, den Menschenwesen.

Daher kann ich keine „konkrete Utopie“ anbieten. Ich kann mich als einzelnes Wesen in meiner Eigenart, die mein Beitrag zu der unglaublichen Vielfalt der Welt ist, einbringen. Ich vermag meine Gedanken zu sagen und aufzuschreiben. Ich vermag auch einige Wünsche anzubringen, hinsichtlich des Lebens von uns Menschen untereinander, ich verabscheue psychische und physische Gewalt zum Durchsetzen von Zielen, ich vermag nicht zu verstehen, wie einem Menschen dieses Land, dieser Wald, diese Wiese „gehören“ kann. Alles gehört sich selbst, und anderes ist eine Illusion, eine Illusion, die letztlich mit Gewalt durchgesetzt wurde.

Ich wünsche mir eine gemeinschaftliche Lebensweise von uns Menschen, in der sich jede/r nach seiner, ihrer Art entwickeln darf, und nicht durch die Egoismen anderer, vermeintlich stärkerer, doch im Grunde nur grausamer und gewalttätigerer, zu Dingen gezwungen zu werden, die wesensfremd sind. Ich weiß, dass sich solcherart Leben, gemeinschaftlich, im Konsens mit allen und allem zu handeln, eine Möglichkeit ist, die wir als Menschen ergreifen können.

Von dieser Utopie lasse ich nicht ab, sie ist die Quelle in mir, aus der mein Lebensmut sprudelt. Auch ich bin nicht unbeschadet durch die Schule dieser Gesellschaft gegangen, in der jahrhundertelang die Verletzungen und Traumata von Generation zu Generation gereicht wurden, und in jeder Generation neue hinzu kamen. Auch ich bin verletzt, ungerecht, fühle, dass die Gewalt in mir wohnt, auch wenn ich ihr kein zu hause bieten möchte. Ich kann nur durch Wissen damit umgehen. Durch das Wissen, dass das Menschsein, welches zu den heutigen schlimmen Zuständen geführt hat, auch in mir ist. Wenn ich den Ungeist benennen kann, dann vermag ich mit ihm umz gehen. Dann vermag ich ihn in mir zu bannen. Mehr ist mir nicht gegeben.

Doch eine „konkrete Utopie“ kann ich nicht anbieten. Wenn ich eine „schöne neue Welt“ zeichnen wollte, um von dieser Blaupause aus die „Welt“ zu „verändern“, dann käme ich wieder als Eroberer. Ich kann durch Äußerung meiner selbst einen Teil dazu beitragen, dass sich etwas ändert, doch den Konsens zum gemeinsamen friedlichen Miteinander können wir eben nur - friedlich miteinander entwickeln. Eben darum vermag ich nicht zu sagen, wie Weg und Ziel für uns alle auszusehen hat. Meine Utopie ist eine sehr persönliche Utopie.

Während in dieser Art meine Gedanken mäandern, knie ich im rotbetupften Grün meines „strawberry fields“, atme den heranwehenden Duft von Lindenblüten ein und das Aroma der Walderdbeeren, lausche dem Ruf eines vorbeiziehenden Turmfalken, fühle die Sonnenstrahlen auf dem Rücken, welche mich durch das Blätterwerk der schützenden Haselzweige erreichen; meine Fingerkuppen nehmen mehr und mehr die Farbe der Beeren an, die ich pflücke. Manchmal schlecke ich sie ab, und schmecke süß.