Noch einmal rufe ich dich an weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, dir Kamerad, dir Freund, die Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch!
Erkennst du mich? Ja, ich bin der, welcher von Osten kommt, mit dem Stern im Haar, immer wieder von Osten kommt wie ein Bettler, aber geschmückt mit Löwenzahn durch die Straßen der Stadt wie ein Narr. Sonka. Weißt du nicht mehr, ich ruhte sehr müde am Neptunsbrunnen in Florenz und Kinder brachten mir Fische und Brot, weil ich hungrig war, und alle Bettler der Gegend aßen von meinem Hunger und wurden satt ohne u betteln.
Kennst du mich nicht? Verblaßte das Wunder in deinem Herzen, das geschah, als du deinen wütenden Hund auf mich hetztes: der sprang mich an mit gefletschten Zähnen und ward zum Lämmlein, als er mich erreichte, und leckte meine Hände.
Erinnere dich: daß du gestorben wärst an jenem Tag, da du verlassen warst von Gott und Menschen. Ich schwieg und sah dich an. Aus meinem Schweigen wurde dir das Leben. Ich habe mich an dich verschenkt, Verbrecher im Gefängnis, an dich Totkranker im Spital, an dich Obdachloser im Asyl, an dich du Mädchen von der Straße, an dich und dich und dich und dich, ich habe mich verschenkt mit Blick und Gegenblick und meiner Hand in deiner Hand, die dich umfaßte.
Du kennst mich ja. Ich bin von Osten. Und deine Maske aus dem Dreck des Westens wird nicht auslöschen mein Gesicht, das sich verschenkt, verschenkt, verschenkt, sieh mich nur an! Und du hast schon ein Herz und ein Gesicht.
Noch einmal rufe ich dich an, weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, die Kamerad, dir Freund, dir Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch!
Hugo Sonnenschein, aus: Der neue Daimon, 1919, Heft 3 - 4, April, Genossenschaftsverlag Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel, Wien Prag Leipzig
Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.
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