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Freitag, 30. Juni 2023

Gärten - Hugo von Hofmannsthal

 



Gärten

Es ist ganz gleich, ob ein Garten klein oder groß ist. Was die Möglichkeiten seiner Schönheit betrifft, so ist seine Ausdehnung so gleichgültig, wie es gleichgültig ist, ob ein Bild groß oder klein, ob ein Gedicht zehn oder hundert Zeilen lang ist. Die Möglichkeiten der Schönheit, die sich in einem Raum von fünfzehn Schritt im Geviert, umgeben von vier Mauern, entfalten können, sind einfach unmeßbar. (....)

Ein alter Garten ist immer beseelt. Der seelenloseste Garten braucht nur zu verwildern, um sich zu beseelen. Es entsteht unter diesen schweigenden grünen Kreaturen ein stummes Suchen und Fliehen, Anklammern und Ausweichen, eine solche Atmosphäre von Liebe und Furcht, daß es fast beklemmend ist, unter ihnen allein zu sein. Und doch sollte es nichts Beseelteres geben als einen kleinen Garten, in dem die lebende Seele seines Gärtners lebt. Es wollte hier überall die Spur einer Hand sein, die zauberhaft das Eigenleben aller dieser stummen Geschöpfe hervorholt, reinigt, gleichsam badet und stark und leuchtend macht. Der Gärtner tut mit seinen Sträuchern und Stauden, was der Dichter mit den Worten tut: er stellt sie so zusammen, daß sie zugleich neu und seltsam scheinen und zugleich auch wie zum erstenmal ganz sich selbst bedeuten, sich auf sich selbst besinnen. Das Zusammenstellen oder Auseinanderstellen ist alles: denn ein Strauch oder eine Staude ist für sich allein weder hoch noch niedrig, weder unedel noch edel, weder üppig noch schlank: erst seine Nachbarschaft macht ihn dazu, erst die Mauer, an der er schattet, das Beet, aus dem er sich hebt, geben ihm Gestalt und Miene. Dies alles ist ein rechtes abc, und ich habe Furcht, es könnte trotzdem scheinen, ich rede von raffinierten Dingen. Aber ein jeder Blumengarten hat die Harmonie, die ich meine: seine Pelargonien im Fenster, seine Malven am Gatter, seine Kohlköpfe in der Erde, das Wasser dazwischenhin, und, weil das Wasser schon da ist, Büschel Schwertlilien und Vergißmeinnicht dabei, und, wenn 's hochkommt, neben dem Basilikum ein Beet Federnelken; das alles ist einander zugeordnet und leuchtet eins durchs andere.

Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1929) aus: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1979

Das Bild ist von Peder Mørk Mønsted (1859 - 1941)


Mein Garten


Schön ist mein Garten mit den goldnen Bäumen,
Den Blättern, die mit Silbersäuseln zittern,
Dem Diamantentau, den Wappengittern,
Dem Klang des Gong, bei dem die Löwen träumen,
Die ehernen, und den Topasmäandern
Und der Volière, wo die Reiher blinken,
Die niemals aus dem Silberbrunnen trinken …
So schön, ich sehn mich kaum nach jenem andern,
Dem andern Garten, wo ich früher war.
Ich weiß nicht wo … Ich rieche nur den Tau,
Den Tau, der früh an meinen Haaren hing,
Den Duft der Erde weiß ich, feucht und lau,
Wenn ich die weichen Beeren suchen ging …
In jenem Garten, wo ich früher war. . .

Hugo von Hofmannsthal

Mittwoch, 14. Juni 2023

Die wundersame Welt des John Elsas

 

John Elsas 1929


John (eigentlich: Jonas Mayer) Elsas, geboren am 6. Juli 1851 in Frankfurt am Main; gestorben am 5.Juni 1935 ebendort, brachte ein Berufsleben als Kaufmann und Börsenmakler hinter sich und begann erst 1927, im Alter von 76 Jahren, mit seiner intensiven Arbeit als Bildender Künstler. Eines seiner Aquarelle versah er 1930 mit dem Text: „Mein ganzes Leben war ein Fehler / da wurd ich Maler und Erzähler“. Elsas’ umfangreiches Œuvre wurde um 1930 von der Kritik anerkennend besprochen; danach geriet es für rund 70 Jahre in Vergessenheit. Tochter Irma ordnete und verpackte den umfangreichen künstlerischen Nachlass. Von den Nationalsozialisten wurde ihr Vermögen konfisziert, der Grundbesitz „arisiert“. Sie lebte in Frankfurt zuletzt in einem so genannten „Judenhaus“, bevor sie am 18. August 1942 in das Durchgangs- und Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde; dort starb sie am 1. Mai 1944.

Aufmerksam auf den Künstler wurde ich durch einen Artikel des Jüdischen Museums Frankfurt anlässlich des Todestages am 5. Juni dieses Jahres. Ich war sozusagen sofort „schockverliebt“ sowohl in die künstlerischen Darstellungen, als auch in die gereimten Sinnsprüche, welche die Darstellungen begleiten. Beides von herzerfrischender Einfachheit. Ich bin wohl nicht als einziger der Faszination von John Elsas´ Kunst erlegen:

Der Kunstwissenschaftler Max Osborn schrieb in der „Vossischen Zeitung“ vom 16. Januar 1930: „..Im ‚Sturm’ (einer damals prominenten Berliner Galerie), bei Herwarth Walden, sieht man etwas ungemein Amüsantes: Klebebildchen von einem lebensfröhlichen alten Herrn in Süddeutschland, John Elsas genannt.

[… In diese Art, Buntpapiere, schimmernde Reste von irgendeiner Kartonhülle und dergleichen aneinanderzufügen, auch Aquarelltöne dazwischenzupinseln, steckt eine so reiche Phantasie, dass man Blatt um Blatt mit Lust betrachtet...“.

Gegen Ende der 1920er Jahre erregten seine Arbeiten in den Galerien verschiedener deutscher Städte sowie in Paris und Zürich wohlwollendes Interesse, was seine ohnehin ungewöhnliche Produktivität noch steigerte – seine letzten, 1935 von Irma Elsas verpackten Blätter trugen die Nummern 25 000 – 25 025.

Hier eine kleine Auswahl:




Ich werde schwere Zeiten sehen,
die werden auch vorüber gehen.




Man verwechselt in jedem Land
das Wörtchen Glück
mit dem Worte Verstand.





Das Glück zu Dir ist sprungbereit,
nachdem Du hattest großes Leid.




Denket nicht an dummes Zeug,
Gottes Reben trösten Euch.




Man kann bei mir die Kunst nicht sehn,
doch Einfachheit ist immer schön.


                 

Wenn die Körper sind geschwunden
werden ihre Geister
mit den Lebenden verbunden.




Wer nicht lieben
und sich begeistern kann,
der ist und bleibt ein armer Mann.





Erscheinung ist doch alles nur,
die Phantasie ist die Natur.




Ist man stets von Liebe umgeben,
so führt man ein Götterleben.




Ich liebe meine Sorgen sehr
denn wenn ich keine Sorgen hätt´
würde leben ich nicht mehr.




Beachte den Sinn der Farben nur,
durch Farben wirkt die Weltnatur.




Weil da ist mein Körper schön,
freue ich mich,
mich selbst zu sehn.




Am Apfelbaum, am Apfelbaum,
begann der schönste Liebestraum
und würd der Apfelbaum nicht sein
gäb´s keinen süßen Apfelwein,
zu trinken sind wir ihn bereit,
es lebe hoch die bessere Zeit!

Heinrich Vogeler: An den Frühling

 


An den Frühling von 1899 ist ein Mappenwerk mit 10 Radierungen. Gedruckt wurde sie von Otto Felsing, Berlin, erschienen ist sie im Insel Verlag, bei Schuster & Löffler. Die Radierungen sind eine locker verbundene Folge von landschaftlichen Motiven rund um den Barkenhoff in Worpswede, einem Tag von den Morgen in den Abend folgend. Die 10 Grafiken tragen die Titel „Die Lerche“, „Frühlingsmorgen“, „Um Mittag“, „Frühlingsblumen“, „Froschbraut“, „Der Fischer“, „Storch überm Weiher“, „Vor Feierabend“, „Die Amsel“, „Märznacht“.





















Heinrich Vogeler, geboren am 12. Dezember 1872 in Bremen; gestorben am 14. Juni 1942 im Kolchos Budjonny bei Kornejewka, Maler, Grafiker, Architekt, Designer, Pädagoge, Schriftsteller und Sozialist. Der vielseitig begabte Künstler ist besonders durch seine Werke aus der Jugendstilzeit bekannt geworden. Er gehört zur ersten Generation der Künstlerkolonie Worpswede, sein Wohnhaus, der Barkenhoff, wurde Anfang der 1900er Jahre zum Mittelpunkt der künstlerischen Bewegung.

Samstag, 10. Juni 2023

Aus Dingefinders Büchergarten: Begegnung mit Rosen

 


Aus Dingefinders Büchergarten: Begegnung mit Rosen

Eines meiner Lieblingsgartenbücher ist das Buch "Begegnung mit Rosen" von Alma de l´Aigle, 1958 das erste Mal erschienen, welches der Dölling und Galitz Verlag dankenswerterweise wieder herausgebracht hat. Dieses Buch hat nichts mit unseren modernen Gartenbüchern gemein, die ja zum größten Teil aus Gartenbildern bestehen, die einen bestenfalls neidisch machen. Da hat der Fotograf dann im richtigen Augenblick auf den Auslöser gedrückt und aus einer wohl ausgesuchten Perspektive ein Foto geknipst, welches einen Idealzustand aufzeigt, der weder Trockenheit noch Regengüsse, weder Schnecken noch Unkraut kennt.

Anders die "Begegnung mit Rosen": Ein Rosenbuch, fast 340 Seiten stark, und so gut wie keine Bilder, und die wenigen vorhandenen schwarzweiß. Heute unvorstellbar, doch Alma de l´Aigle hat ganz auf die Kraft ihrer bildhaften Sprache gesetzt. Zurecht. Ich habe noch nie vorher (und nachher) ein solch sprachmächtiges Kompendium zur Beschreibung von Rosendüften gelesen, wie ihr Buch. Immer wieder eine Freude, ihre Rosenbeschreibungen zu lesen, ihre Sprachmalereien rund um Farbe und Duft. Das einzig traurige daran ist für mich, dass ich so viele der beschriebenen Sorten nicht kenne.

Hier einige Auszüge: Über Climbing Crimson Glory: "Und der Duft! Immer ist es der gleiche dunkle und ungetrübte Duft, zuverlässig in Sonne und Regen, vom ersten Öffnen der Knospe bis zum Verblühen. Es ist ein Duft wie Rotwein, am Abend getrunken, in stiller Ecke, wo die Hast des Tages sich legt".

Über Albertine: ". . . der Duft: zuerst ist es ein stark wellender, weicher, süßer Duft, der fast an Zentifolie gemahnt, dann wird er gebrochen canina mit etwas Nelke darin, und endlich, wenn die Aprikosenfarbe ganz dem fahlen Rosigweiß gewichen ist, wird der Duft trübe, fast dumpf."
Über die Gerberose, einer Kletterrose, die ganz oben auf meiner Wunschliste steht: "Aber - da kommt man sommers in den Garten, um zu sehen, wie die Bohnen angesetzt haben, und da wird einem plötzlich, als wenn die Fee - wie heißt sie doch noch? - eben durch den Garten geschwebt sei und den süßesten Rosenduft hinterlassen habe. Die ganze Luft ist erfüllt von diesem Duft.

Man sieht umher und sagt: Was duftet denn hier nach Rosen? Und da steht dann die Gerberose bescheiden in der Ecke, die Duftverschwenderin. Ehe unsere Blicke auf sie fielen, war ihre Seele uns schon entgegengekommen.

Ihr Duft hat, was sie nur mit ganz wenigen Rosen teilt, eine Ausdehnungskraft und ist sogar in der Verdünnung am lieblichsten. Kommen wir aber nahe an die Blüte heran, so erscheint uns der Duft gar nicht mehr so edel, mehr kompakt als klar."

Rosenduft hat etwas ausgleichendes, stimmungserhellendes, antidepressives. Einmal, als ich ein Rosenseminar gab, inklusive Rosenverköstigung, es gab verschiedene Gerichte mit Rose, öffnete ich morgens die Türe, um eine Teilnehmerin hinein zu lassen, die einen entschieden traurigen Eindruck machte. Dunkel gekleidet war sie, und dunkel ihre Aura, Ringe schwarz unter ihren Augen, die Mundwinkel heruntergezogen, es war, als wäre eine dunkle Wolke um sie. Für die Herstellung des Sorbets mussten die Rosenblütenblätter gemörsert werden, und binnen kurzen war der ganze Raum mit Rosenduft fast gesättigt. Es war wunderbar die Wandlung der am morgen so düsteren Erscheinung zu beobachten: Das Gesicht klarte auf, ein Strahlen gelangte in die Augen, die Teilnehmerin wurde wach, anders kann man es nicht bezeichnen, und begann mit einem Male mit einer Herzlichkeit und Wärme in der Stimme zu erzählen, als wäre es eine ganz andere Person, als die, welche des morgens in der Türe stand. Das vermag der Duft der Rose.

Noch einige Duftbeschreibungen von Alma de l´Aigle: "Aber der Duft ist, besonders im Aufblühen, wunderbar, ein leichter Teeduft nach chinesischem Tee, manchmal ein leicht harziger Teeduft", oder, auch einmal kritisch: "Einen scharfen unreinen Fruchtgeruch bemerkte ich, wie nach künstlicher Roter Grütze; ein andermal einen leichten Apfelduft, aber keinen Reichtum, keine Tiefe."

Eine meiner Lieblingsbeschreibungen: "Ein Duft wie Teig von Zitronenkuchen, und Backpulver ist auch schon drin." Und, für heute zum Abschluss: "Es war, als wenn man eine große Schale mit vielerlei Früchten ins Zimmer trägt: Birnen, Gravensteiner, Pfirsiche und Himbeeren, all diese Düfte wehten einem entgegen als einheitlicher, köstlicher süßer und doch erfrischender Duft."

Nach dem Lesen dieses Buches geht man an keiner Rose mehr vorbei, ohne die Nase in die Blüte zu stecken. Es war ein beliebtes Spiel von mir und meinem damals drei und vier Jahre alten Sohn, die verschiedenen Rosen zu erschnuppern, und ich sehe noch bildhaft vor mir sein Gesicht, wenn er enttäuscht war, dass eine Rose nicht duftete, oder entzückt, wenn ihm etwas ganz Besonderes entgegenwehte, wie zum Beispiel bei der dunkelroten Edelrose Papa Meilland, die einen besonders schweren und starken Duft trägt.

Einmal traute ich meinen eigenen Sinnen nicht. Bei der gelben Edelrose mit dem Namen "Zitronenjette" nahm ich einen klaren Zitronenduft wahr. Ich dachte, ich wäre wohl suggestiv beeinflusst worden von Namen und Farbe dieser Rose. Bis ich dann in der Beschreibung las: "Duft nach Zitronen". Nun, mittlerweile vertraue ich meiner Nase und meinem Empfinden. Und bin jedesmal Mutter Natur dankbar über ihre verschwenderische Fülle. Das Genießen von Rosenduft ist für mich jedesmal wie ein stilles Gebet.

Das Foto zeigt übrigens die Blüte einer Alba-Rose "Königin von Dänemark"

Mittwoch, 7. Juni 2023

An einem Morgen wie diesen

 



Es ist schon eine Zeit her, da hatte ich mich einmal daran gewagt, ein Märchen zu schreiben, beziehungsweise eine Art Märchen, eine Geschichte im Märchenton. Das ist aus diesem Vorhaben letztlich geworden:


An einem Morgen wie diesen


So war es immer. Die Luft mild und freundlich, der Mond schickte sich an, in wenigen Tagen als Vollmond zu erscheinen, und nur wenige Wolken zogen durch die Dämmerung des beginnenden Tages. Er lauschte dem Morgenlied einer Amsel, und er ging noch einmal in Gedanken alles durch: Garten, Haus und Stall so bestellt, dass die alte Muhme das Anwesen mit den geringen Kräften, die sie noch hatte, pflegen konnte; den Rucksack gepackt: Regenjacke, Decke, Brot, Wurst, Käse, Honig und Wasserflasche, Flöte und Feuerbesteck, alles an seinem Platz.

Er schaute noch einmal zurück zum dunklen, schlafenden Haus, dann begab er sich auf den Weg zum nahen Walde. "Die Sterne stehen gut", dachte er. Tief atmete er durch, genoss die reinigende Kraft der Morgenluft und seine Seele begann zu lächeln, als er Vogel um Vogel Lieder anstimmen hörte. Es war ihm, als begrüßten sie den Wanderer. Über einigen Wiesen lag Nebel, doch der Wald vor ihm stand dunkel und schweigend und erwartend.

Vor drei Tagen hatte ihm im Traum ein Etwas berührt, er konnte sich nicht mehr erinnern, was genau das war, ein Engel, ein Elfe oder ein Faun, es war ihm auch einerlei, er erkannte das Gefühl wieder, jenes, das in ihn wissen ließ, dass jetzt die Zeit war, seine Wanderung zu beginnen. In seinem Kopf kreisten die Gedanken wie Adler im Fallwind, und sein Blick ließ die Wolken befragen. In den morgendlichen Wolken dieses Bild: An der Nahtstelle dieser zu der anderen Welt, direkt am Tore, wohnt ein altes Pärchen, und des Sommers sitzen sie oft vor der Haustüre ihres Häuschens, Wein trinkend und schweigend. Er die faltigen Hände auf einen Stock gestützt und den Kopf darauf gelegt, sie mit fernem Blick die Regenbögen herbei ahnend.

Er betrat den Wald, und er wurde von der Sanftmut der Buchen umhüllt, der Wächterbaum am Eingang begrüßte ihn mit einem leisen windbewegten Lächeln der Blätter. Die Stimmen der Vögel vereinigten sich zu einem Chor, der in das lichtgrüne Blätterdach des lebendigen Domes des Waldes aufstieg.

Er erinnerte sich an etwas aus seinem Traum, etwas, das ihm der ElfenFaunEngel geflüstert hatte. Dieses mal würde ihm eine Gefährtin geschickt werden, und zusammen würden sie ihre Wanderung aufnehmen und die Wunder erfahren. Sonnenstrahl um Sonnenstrahl kam durch Wolken und Blätterdach und das Buchengrün kleidete sich in einem goldenen Schimmer, schwebende Schleier tanzten im Morgenlicht. Verwundert schaute der Wanderer sich um, diesen Teil des Waldes kannte er noch nicht. Er fühlte sich fremd vertraut auf seinem Weg und da war dann auch das alte Häuschen und davor saß ein alter Mann, die Hände auf einen Stock gestützt und den Kopf darauf gelegt, vor ihm ein Glas Wein, und eine alte Frau saß bei ihm mit Augen, die in weite Fernen schauten.

Zögernd trat er heran, grüßend, und der alte Mann nickte, die alte Frau lenkte ihren Blick auf ihn, ihren Regenbogenblick, um sich wieder abzuwenden und mit einer kaum merklichen Geste von Kopf und Hand auf das Rosenbogentor zu verweisen. Er dankte mit einer ebenso leisen Geste und nahm den gewiesenen Weg, durchschritt das Ranken der duftenden Rosen, betrat diesen Garten und folgte gewundenem Pfad.

Sie begegneten sich am Weiher. Die Zweige der alten Trauerweide schmeichelten dem sonnendurchfluteten Wasser, über dem Flirren der lichtzitternden Wellen wie ein lebender Sonnenstrahl eine Libelle.

Sie schauten sich an und es war eine fraglose Gewissheit in ihnen. Um sie herum begann es in den Blüten zu tanzen, sie standen wie im Zauber, gebannt, mit keiner Regung wollten sie diesen Tanz stören, schon waren sie nicht mehr nur Zuschauer, nahmen längst Teil am Geschehen. Die Bilder wurden heller, von der Erde her zog ein klärender Hauch in die Kronen der schweigenden Bäume. Schichtung um Schichtung ihrer Seelen entgrenzten sich, und sie ließen sich ein auf ein kreisendes Spiel.

Immer wenn die Atmosphäre dichter wurde, die Aura greifbarer, zogen sie sich zurück, um beim Wiedereintauchen in den Zauberkreis noch stärker zu glühen - es war ein Spiel mit der Distanz: Wie weit ging die Aura des anderen, wie weit strahlte das Willkommen, in dessen Kreise unverfänglich eingetreten werden durfte. . . und wenn sie nahe genug kamen, verschwand die Welt.

So waren sie zeitlos in diesem wundersamen Garten, ein leiser Windhauch ließ ihren geblümten Rock aufwallen, und behutsam legte Pan seine Mittagsfeierlichkeit über die beiden, alle schrillen Töne vermied seine Flöte, eine Amsel sang aus ihr. Es war so weit: Die Göttin des Gartens hatte ihren Segen gegeben. Zitternd blieb der Waagebalken in der Schwebe liegen, Zukunft und Vergangenheit verschwanden, die Sonne stieg hinan an den Mittagspunkt, die Schatten verschwanden unter den Füßen, und sie folgten den Pfaden ahnungslos. Leicht ums Herz war ihnen, und immer wenn sie zueinander schauten, wussten und wussten sie voneinander, es war kein Geheimnis zwischen ihnen. Wie geführt gingen sie ihren Weg, sie begaben sich tiefer in den Garten hinein. Der Pfad brachte sie zu den Himbeersträuchern, und sie naschten von den süßen Früchten, sie zerdrückten die süßen Früchte im Mund und sie schauten sich an, und Adam reichte Eva die Frucht, wie ein zutraulicher Vogel pickte sie ihm die Beeren aus der Hand. In ihr tauchten die Bilder der Gärten der Kindheit auf.

Sie setzten sich zueinander auf die bemooste steinerne Bank hinter der dunklen Eibenhecke. Sie erzählte ihm von den Sonntagen, den sonnigeren Tagen der Kindheit: Als sie im Garten der Großtante so viele Johannisbeeren essen durfte, wie sie mochte, immer kopfüber eine Traube nach der anderen abzutschte, bis der ganze Gaumen sich zusammenzog und der Rachen und die Zunge sich pelzig anfühlten, und sie trotzdem nicht aufhören konnte. Süße Säure, Wärme, Glück, inmitten riesiger herzschlagbewegter Welt. Sie folgten den Wegen der Erinnerungen, war es ihr Garten der Kindheit, war es sein Garten der Kindheit? Beider Kindheit im Gleichklang der Erinnerungen.

Noch einmal gingen sie tiefer hinein in das webende Grün, im Erzählen und Lauschen folgten sie den Pfaden, ohne ihre Schritte zu lenken. Immer wieder schaute er nach ihr, während er ihrer Stimme lauschte, und es erschloss sich ihm ihre Welt, die ihm wie die eigene dünkte. Schließlich, am anderen Ende des Gartens, bei den letzten Rosen, begann er zu erzählen. Nun war es ihr, als erzähle er von ihrer Seele, seine Worte hatten Hände, warme, zärtliche. So bot sie ihre Hände den seinen zum Geschenk, und wo er die seinen ruhen ließ, leicht wie ein flaumiges Küken, blieb eine kribbelnde Druckstelle, ein Wärmestern, und kribbeldikrabb leise Strömchen glitten auf und ab durch ihre Körper.

Seine Worte wurden mitternachtsviolett und türkis und glänzend wie Seide, seine Worte erzählten von den Rosen, und von den Rosen erzählte er: sie dufteten in seine Worte hinein, und er kannte sie alle: Die seltensten Arten und Sorten, die hundertblättrige und die tausendblättrige Rose, die schwarze Rose, die Steinrose von den klingenden Bergen, die zierlichen nachtsamtenen Dunkelrosen, welche nur drei Nächte im Sommer blühen, die Nacht aber mit einem solchen Duft umhüllen, dass ein jede, ein jeder ins Träumen gerät.

Ein Schleier wurde vom Garten gezogen, und alles zeigte sich in anmutiger Klarheit, lavendelmild legte sich ein Windhauch über allem, und wieder stand die Welt still, und im Innehalten begann Pan erneut der Schwarzdrossel Lied. In ihnen war etwas Scheues, etwas unerklärlich Zartes, sie wussten von dem Gehen des gemeinsamen Weges, sie wussten, dass sie hierher geführt waren an diesem Tag, um sich in diesem Garten zu begegnen, und sie brauchten nicht zu sprechen darüber, ihre Vertrautheit war umfassend.

Es war ein Beginnen: sie begannen ihre sich noch fremden Körper zu erspüren. Sicher, da waren diese Anziehungen, da war dieses Verlangen, doch es lässt sich nicht immer alles täppisch ertasten. Sie fanden andere Möglichkeiten der Annäherung. Ließen die Hand außerhalb ruhen, dort wo die Aura begann. Dann ein Zurückziehen, bis die Anziehung nachließ, um wieder erneut einzutauchen, um das Sichweiten zu erspüren, mitzuspüren, wie sich im Inneren das Verlangen seine eigene Sprache suchte, wie es beider Verlangen war, welches da sprach, um sich wieder nah an die Berührung zu trauen. Ein erneutes Zurückzuziehen. Sie legten ihre Hände wieder auf diese Grenze, auf diese spürbare Membran, durch welche die Anziehungen und Strömungen passieren konnten, um dann, als die Anziehung zunahm, es den Händen zu gestatten, das erste Mal die Haut zu spüren. Schon waren beider Atem zu hören, zwei Wellen liefen aufeinander zu, liefen ineinander, und die Körper umarmten einander, wie der Wind die Bäume umarmt, wie die Welt sich selber umarmt.

Dann wieder spürten sie dem Verebben nach, glitten mit dem Rückzug der Wellen ins Verharren zurück, während beider Aurenraum sich mit Wärme füllte, und immer wieder dies Verlangen, die nächste Welle hob an, ohne das Zutun beider, und ein erstes Sichverlieren begann. Sie schauten sich in die Augen. Die strahlten. Selig.

Als sie wieder am Rosenbogentor des Gartens auftauchten, saßen da immer noch der alte Mann und die alte Frau vor dem Häuschen, der alte Mann nickte, seine Augen lächelten, und die alte Frau strahlte sie mit freudigem Blick an. Und sie winkten zum Abschied und traten ein in die Stille des Waldes.

Nun erkannte er den Wald wieder, und es war der Wald, den er kannte von endlosen Spaziergängen, von den Pilz- und Beerensammeltagen, und neben ihm ging auf dem vertrauten Weg eine Frau im geblümten Rock, sie trug einen Rucksack und ihre Augen funkelten, um ihrem Munde herum war das Rot von genaschten Waldhimbeeren. Sie grüßte ihn, und fragte ihn nach dem Weg, einem Weg zur nächsten Raststätte. Er zeigte dorthin, sagte etwas von gemeinsam gehen. Freudig willigte sie ein.

Im gemeinsamen Gehen schaute er vor sich auf den Weg, und dann wieder verstohlen zu seiner unverhofften Begleiterin, er schaute verstohlen zu ihr aus den Augenwinkeln, und er fand, dass sie wunderschön war. Er lauschte dem Lied, welches sie leise summte, es war keine Melodie darin, es waren gleichmäßige Töne, die warm sein Herz berührten. Er freute sich am Schwingen ihrer Schritte und immer wieder musste er schauen und lauschen.

Als sie unverhofft seine Hand nahm, blickte er sie überrascht an, verwirrt durch die unerwartete Berührung, die doch so vertraut sich anfühlte. Etwas in ihm wanderte durch träumende Erinnerungen an einen Garten und an eine Seligkeit, die dort durch die Pflanzen wanderte, und für einen kurzen Augenblick war es ihm, als schaute Pan mit gewitzt lächelnden Augen aus dem Gesträuch im Walde. Ja, sie berührte ihn, sie nahm seine Hand wie selbstverständlich und es war selbstverständlich, denn ihre Hände gehörten zusammen. Hand in Hand gingen sie ihres Weges.


Das Bild ist von Anna de Weert ( 1867 - 1950)

Dienstag, 6. Juni 2023

Bertha Pappenheim: Die Weihernixe

 



Aus alten Märchen winkt es
Hervor mit weißer Hand,
Da singt es und da klingt es
Von einem Zauberland.

Wo große Blumen schmachten
Im goldnen Abendlicht
Und zärtlich sich betrachten
Mit bräutlichem Gesicht – – –

Bertha Pappenheim, aus: Der Wunderrabbi (1916)


Die Weihernixe

Der sonst belebteste Teil der Promenaden, welche die Stadt, wie mit einem freundlichen Rahmen einfassen, lag einsam und stille da im Dunkel einer trüben Februarnacht.

Leichter Wind strich über den Weiher am Wege und die weißen Schneewolken, die am Himmel jagten, spiegelten sich noch krauser in den bewegten Wellchen. Selten nur unterbrach der im Sande knirschende Schritt eines Vorübergehenden die Stille und deutlich tönten aus einem der gegenüber liegenden Häuser die Klänge einer Tanzweise. Plötzlich bewegte sich die Oberfläche des Wassers heftiger und auf derselben erschien das lauschende Gesicht eines Nixchen, das durch die Töne an die Oberfläche gelockt worden war. Scheu blickte sie um sich. Als sie gewahrte, daß der Kopf, der an einem Brunnen am Rande des Weihers in Stein gehauen war, sie heute noch boshafter angrinste als sonst, wenn sie es wagte, den dunklen Grund ihres Heims zu verlassen, da tauchte sie erschrocken wieder unter. Allein nicht für lange. Man hatte im Tanzsaale ein Fenster geöffnet. Verstärkt drangen die heiteren Weisen zum Weiher herüber, und mit unwiderstehlicher Gewalt zogen sie die kleine Nixe herbei.

Durch ein Büschel Schilf vor den Augen ihres steinernen Beobachters geschützt, richtete das Nixchen neugierig seine Blicke nach dem Hause, dessen beleuchtete Fenster und die an denselben vorbeischwebenden Gestalten keinen Zweifel darüber ließen, daß sich die Menschen dort dem Vergnügen des Tanzes hingaben.

Wie schön müßte es sein, dachte das Nixchen, einmal, wenn auch nur kurze Zeit, das kalte Element zu verlassen und im hell erleuchteten Saal, umrauscht von Musik, von warmer Hand geführt, dahin zu fliegen.

Sie vergaß, welch' harte Strafe daraufgesetzt war, wenn eine der Töchter das Nixenreich verließ und von den Menschen erkannt wurde.

Von ihrem Wunsche fast unbewußt bewegt, aber dennoch zögernd, näherte sich die Nixe dem Ufer und mit einem Male alles vergessend, nichts bedenkend, verließ sie ihr Reich und huschte einem Nebelreif gleich über die Straße zur Terrasse des Wintergartens, woher die Klänge kamen. Leise schlüpfte sie hinein, und, versteckt hinter einer Gruppe von Palmen und blühenden Camelien beobachtete sie das bunte Treiben im Saale.

Die Menschen wirbelten an ihr vorbei doppelt schön im Glanze heiterer Farben und der Festesfreude. Sie lächelten und nickten, sprachen, fächelten und winkten; unverständlich schien's und doch verstanden. Das Nixchen hatte lange unbemerkt in seinem Versteck gestanden. Die ungewohnte Atmosphäre, die Wärme, das Licht, der Blumenduft, dies alles hatte sie betäubt, unfähig gemacht, anderes zu denken, als den einen Wunsch, der sie nun ganz erfüllte: Wenn nur Jemand käme und mich zum Tanze führte!

Darüber vergaß sie ihr Fremdsein, ihre Schüchternheit und stand plötzlich in ihrem langen weißen Kleide, mit aufgelöstem Haar, darin noch Wassertropfen funkelten, in den Reihen der tanzlustigen Mädchen. Diese ließen sich in ihrer Lustbarkeit wenig stören. Bald war eine nach der andern mit ihrem Tänzer verschwunden und das Nixchen meinte schon allein bleiben und vor Scham darüber vergehen zu müssen, als sie mehr fühlte, als sah, daß sich ihr jemand näherte, um sie zum Tanze zu holen.

Es war ein großer, schöner Mann; ein langer Bart umrahmte sein Gesicht, und tief dunkelblaue Augen sprachen aus demselben von Liebe und Güte. Sie blickte nicht auf. Er umfaßte sie, und dahin rasten sie nach den Weisen und Tönen, die ihrem Ohr berauschender und berückender klangen denn je. Ob er wohl wußte, mit wem er tanzte?! Ob er wußte, daß sie dem kalten unnahbaren Elemente angehöre, das sie nicht straflos verlassen durfte!?

Sie hatten lange getanzt, wortlos geruht, sich immer neuerdings in den Reigen gestürzt, bis die Zahl der Paare sich verringerte, und die Musik endlich verstummte.

Als das Nixchen wieder in der Nähe des Wintergartens war, da wollte es sich ein Herz fassen und seinem Tänzer danken. Sie blickte auf zu ihm, während sie schüchterne Worte sagen wollte – da sah er, daß sie grüne Augen hatte, Augen so grün, wie das Schilf am Weiher. Da fuhr ein Schaudern durch den Mann, und er wandte sich ab, denn er wußte, mit wem er getanzt hatte, und das Nixchen wußte, nun war es vorbei!

Sie floh, um eilend dahin zu kehren, woher sie gekommen war – – dem Weiher zu.

Doch was mußte sie erfahren: sie hatte sich länger als sie vermutet, bei den Menschen aufgehalten, – stundenlang. Indessen hatte der Nordwind gewütet, der Frost hatte eine starre Decke über das Wasser gelegt und das Nixchen konnte nicht zurück in ihr Heim. Hei, wie da der Kopf am Brunnen höhnisch lachte, als er sie verzweifelt am Ufer irren sah.

Müde war sie; der Sturm wühlte in ihren Haaren und Gewändern und dichter und dichter wurde die Eisdecke, die sie von ihren Schwestern trennte. Der Morgen graute, es fing an zu schneien, und das Nixchen setze sich endlich erschöpft an den Boden, den Kopf gegen einen Stein gelehnt. Leise, leise wirbelten die Schneeflocken nieder, alles bedeckend, wie in mildem Erbarmen auch die kleine Nixe.

Frost und Kälte dauerten lange. Als nach Wochen endlich die Sonne Kraft gewann, und die Schneedecke fortschmolz, da sah der steinerne Kopf am Brunnen ein zartes Pflänzchen, das bei dem Stein am Weiher hervorgrünte: ein Schneeglöckchen.

(um 1888)



Bertha Pappenheim, geboren am 27. Februar 1859 in Wien, gestorben am 28. Mai 1936 in Neu-Isenburg, Schriftstellerin, Publizistin und Frauenrechtlerin. Sie war die Patientin Anna O. Die von Josef Breuer zusammen mit Sigmund Freud in den Studien über Hysterie veröffentlichte Fallgeschichte war für Freud Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Theorie der Hysterie und damit der Psychoanalyse. Die wahre Identität der Anna O. wurde erst 1953 bekannt.

Nach ihrem Umzug nach Frankfurt im Jahre 1888, der Heimatstadt ihrer Mutter, veröffentlichte sie verschiedene Kinderbücher und begann ihre soziale Arbeit. 1895 wurde sie Heimleiterin im jüdischen Mädchen-Waisenhaus, gründete 1902 den Israelitischen Mädchenclub und 1904 den Jüdischen Frauenbund. 1907 wurde das Heim in Neu-Isenburg bei Frankfurt eröffnet. Sie unternahm Reisen nach Galizien und Nahost, auf denen sie sich über die dortige Lage der jüdischen Bevölkerung informierte und darüber Berichte veröffentlichte. Ganz besonders interessierte sie sich überall für die Situation der Frauen. Schon 1901 hatte sie an einer Konferenz zum Thema Mädchenhandel teilgenommen, und 1923 wandte sich der Jüdische Frauenbund im Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution sogar an den Völkerbund.

Am 16. April 1936 folgte Bertha Pappenheim, schon von tödlicher Krankheit gezeichnet, einer Vorladung der Gestapo nach Offenbach. Zwar konnte sie alle Beschuldigungen widerlegen, aber nach ihrer Rückkehr nach Isenburg verließ sie ihr Bett nicht mehr und starb am 28. Mai 1936. Der Jüdische Frauenbund wurde 1938 zwangsweise aufgelöst, die Heime in Neu-Isenburg 1942 geschlossen und die darin Wohnenden in die Vernichtungslager deportiert.

Montag, 5. Juni 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (XIII)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (XIII)


Ich muss lächeln, unwillkürlich,
wenn die Vögel singen
so früh am Morgen
nach durchwachter Nacht



Dass ich immer wieder einmal dankbar bin,
liegt an einem tieferen Sinn,
ich mindere das eine,
während ich das andre stärke,
was ist, dient dem Besitz,
was nicht ist, dient dem Werke



Zitronenfalter leuchten flattergelb,
dazu der dunkle Augensamt der Veilchen,
auf kleinen Stängeln zarter gelb
die Schlüsselblumen,
legen vertrauensvoll die Blütenköpfchen
in die sanfte Frühlingsbrise,
besternend
die stille Obstbaumwiese

Das BingelBangelBengelkraut
so unscheinbar
im Unterholz, Schwarzdorn
überzieht sich mit weißen Blüten
und wird filigran,
Schneeweißchen kommt heran

Erste zarte Quirle aus dem Meisterwald
verweisen schon auf Mai,
der Rosenbusch der Weperrose
noch kahl im Wind,
doch darunter des Frühlings liebstes Kind,
das Buschwindröschen zart
beseelt des Werdens Gegenwart

Erde, stiller Traumort Du,
Gerade ist es so,
die Bilder der Zerstörung weichen
und verblassen
und die Seele kommt zur Ruh

Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der dreizehnte und letzte Teil.

Anmerkung: "Was ist, dient dem Besitz / Was nicht ist, dient dem Werke" ist dem Tao Te King des Laotse entnommen, wo es (in der Übersetzung von Richard Wilhelm) heißt:

Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen:
In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.
Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde:
In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.

Darum: Was ist, dient zum Besitz.
Was nicht ist, dient zum Werk.

.Die Illustration ist von Christian Rohlfs (1849 - 1938)

Sonntag, 4. Juni 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (XII)

 




Fast ein Jahr  -  Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (XII)


Wollen die Jahrtausende bauen
und können nicht einmal hundert Jahre überschauen,
wenn es eine Hölle gäbe,
nicht als Pendant zum Himmelreich,
dann wär sie hier,
und wir leben längst in ihr,
hör Nachricht aus so gar nicht fernem Land,
Nachricht, die mir Sprache verschlägt,
während stille Furcht sich über alles legt



Allzurot, stille Zauberin
in einer Endlosschleife 
Zeitloop,
in all dessen, 
was die Technik vermag

Die Vergangenheit verklären
heißt: sich nicht mehr wehren

Geschichten wurden erzählt
es ist nicht von Dauer
die Namen zu nennen

wer wird sie,
wann,
noch kennen?



Nur wenn du zu berechnen bist
wirst du in dir die Ängste tragen
Versuche, in Stille spurenlos zu gehen
Stelle keine Fragen.
Lege die Waffen nieder
Keine Schwertkarten ziehen
Nicht vor Unbill fliehen

Wir haben uns
neue Kreise erschlossen
Leise Kreise
Leitersprossen
Stufenweise
weise Kreise



Treffe die Entscheidungen
bevor sie
dich treffen

das Vergehen,
was liegt daran,
wundernd

die Wunden
der Ewigkeit
erwandernd

häutend, heutend
des Standes
bewusst

gehöre
zu denen
die nicht hörig

finde Gemächer
wisse
den Ort

das Wagnis
des Bleibens
äonenlang

einer
der wenigen
Stetigen

den Urgründen
entstiegen
immer wieder

am heutigen
Morgen
immer wieder

nach
der Sternenreise
wiedererkennend

die Auen, die Hütte
am Hang,
der weißen Lilien

läuten  -  
sei verletzlich
dein eigener Wert


Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der zwölfte Teil von insgesamt dreizehn. 

Das Bild ist von Arthur G Dove (1880 - 1946)

Samstag, 3. Juni 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (XI)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (XI)


Mit dir
ist kein Staat zu machen!“
sagte meine Mutter zu mir
oft.
Lieg ich nachts um vier
wach
unverhofft
muss ich daran denken und lachen

Mit mir
ist wirklich kein Staat zu machen



Alles was da war
war da
war wahr, da es da war
war wie es war
war da als das
was es war

Der da
ging
ging seines Wegs,
eines Wegs,
der ganz sein war,
ging seines Wegs,
eines Wegs,
den er als wahr sah

War Leid War Freud War da
Alles
Alles wahr

(Auf einer E-Gitarre mit Wah-Wah-Pedal zu begleiten)



Kurz vor Vollmond. . .

Kurz vor Vollmond bin ich immer reichlich desolat
und dann bleibt mir nichts ausgespart,
tausche meine Wanderstöcke
gegen seidne Unterröcke,
tausche Hacke, Beil und Spaten
gegen Kussmund,
Garten kann dann warten,
Arbeit, nicht die eigne, wurde nur erfunden
um abzulenken von den süßen Stunden -
ich aber mag sie nicht versäumen,
tu das, was andre nur erträumen,
und sehe zu, dass das nicht untergeht
und auch im Alltag noch besteht,
wenn aller Vollmond schon vorüberzog

Und so schreib ich dies als Epilog:
Täuscht euch nicht,
geb ich mich auch manchmal menschlich bieder -
Vollmond kommt doch immer wieder,
und ich tu, wie mir gehießen

. . . wenn alle Brünnlein fließen



Intermezzo - Lunatic, ein luzides Lied

Dies sind keine
Fantasiegeschichten,
mitnichten -

Die innere Lektorin sagt:
vom Pfade abgewichen,
der letzte Satz,
der wird gestrichen

Zeit, anderes zu dichten,
die Wolken beginnen sich zu lichten
alles anders zu gewichten,
sich einem Ideal verpflichten,
den Zettelkasten sichten,
Henkersmahl, und Spiegelfechterei,
und die eher schlichten
Worte, so wie Hirsebrei,
sind dabei

Das Leben ist verwirrend,
und ich laufe irrend
durch die langen Gänge,
Türen links, Türen rechts,
auch ein Aufzug
in die oberen Etagen
und ich hänge -

Erinnerung:
Mutter kaufte Fleisch
immer bei der Freibank,
da geht’s lang

in der Luft ein lieblicher Gesang
und Wolken, Hagelkörner
fallen munter,
alle kommen wieder runter,
Blindflug, Nachtflug,
durch Fliegen wird man klug,
und nur Erfahrung
gibt dem Wissen Nahrung

Sonne scheint zu scheinen
hätte doch der Mond,
doch der scheint wohl zu meinen,
dass sich das Scheinen heut nicht lohnt

Dämmerung, es beginnt zu tagen,
und ich kann es wagen,
zu sagen:
„Keine weit´ren Fragen“

Wind treibt ein Zettelchen herbei,
ich bin so frei
es aufzuheben, es ist zu lesen:
Auch Gott ist einmal jung gewesen,
mit Spesen lässt sich´s gut genesen,
mancher Topf hat noch beide Henkel,
und wir beiden haben Enkel,
ich will nicht mit jenen traben,
welche keine Enkel haben,
manches geht mir auf den Senkel

Es kämmt ihr Haar die Lorelei,
singt ihre Litanei,
verteilt ihr Fluidum,
Maikäfer flieg,
Bienchen summ,
ich tanze durch die Orbitale,
spring von der einen auf die andre Schale,
Quantensprung, Quantensprung,
Quantensprung hält ewig jung

Meine Nummer ausgelost,
außer Tresen nichts gewesen - Prost!
Ansonsten ist mir´s einerlei,
ich hab ne Zahnbürste dabei

Was kann denn noch passieren?
Die Beherrschung verlieren?
Warum denn nicht?
Ich war noch nie gern Untertan,
denn Untertan ist kein Beruf,
ich bin ein Mensch,
so wie die Natur ihn schuf


Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der elfte Teil von insgesamt dreizehn. Dass er ausgerechnet zu Vollmond gepostet wurde, ist einer dieser Zufälle, den ich gerne geplant hätte. . .


Das Bild „The quest“ ist von Bernard Hall (1859 - 1935), einem australischen Maler

Freitag, 2. Juni 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (X)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (X)


Gamayun

Traumbaum, blütenübersät, Wurzeln, die tief
in die Sterne greifen, in Milchstraßen reichen,
das Urweltgeflecht verwobenen Geästes nährend,
in dessen Gewebe der Spötter lebt,
ein Orpheusspötter, um ornitologisch genauer zu sein

Welche Geister wer auch rief,
keine Zeit wird der anderen gleichen,
nur Gamayun ist immerwährend,
die in ihre Nester die Lieder webt,
und sie gibt diese dem Sänger ein

Für Traumbaumwünsche ist es zu spät,
zu viele, die durcheinander schwätzen,
Kriege ausrufen, neue Zeitalter deklarieren,
verwirren, verirren, mit Sprache, mit Worten,
Gamyun verflog sich von Osten nach Westen

Inmitten - Ein rauherer Wind ist´s, der weht,
und viele sind da, nur zu verletzen,
viel Weihrauch um nichts, die Zukunft versetzen
für ein Linsengericht
 -  welches Lied hat noch Gewicht?

(Gamayun ist ein prophetischer Vogel aus der ostslawischen Folklore. Ähnlich wie Alkonost und Sirin wird sie als großer Vogel mit Kopf einer schönen Frau vorgestellt, die in der Nähe von Iriy lebt. Als Botin Gottes Veles verbreitete sie göttliche Botschaften und Prophezeiungen an alle, die sie hören konnten. Sie wusste alles über die Erschaffung von Himmel und Erde, Götter, Helden, Kreaturen, Tiere und Vögel. Wenn sie aus dem Osten fliegt, könnte sie tödliche Stürme bringen.)


Für C. M. (Falls er mich dort oben hört)

Du musst, lieber Freund,
erst einmal Narr werden.
Der Narr, die Karte ohne Zahl.
Wenn Du als Narr nichts Ernstes schreibst,
dann musst Du halt sehen,
wo Du bleibst.
(Im Himmel und auf Erden)

Der Dichter Herr von Pampelmus
gab seiner Liebsten einen Kuss.
Hand aufs Herz lud er sie ein:
Willst du meine Pampel-Muse sein?

Es wird nichts so heiß gegessen,
wie es gekocht wird.
Es wird sowieso nur das gegessen,
was gemocht wird



Wer lebt, hat Recht!

Kein Nein!
Kein Ja!
Keinen Kotau
Kein Schicksal
und kein Ungeschicktes
Kein Ja!
Kein Nein!
Kein Ungenau
Man blickt es

Oder knickt es



Geboren in der Zeit zwischen irgendwelchen Kriegen,
nach dem letzten großen, denn es ist immer irgendwo Krieg,
über den letzten großen wurde eine Decke des Schweigens gelegt,
ach so vieles wird immer verschwiegen:
Sie nannten es eine Art Frieden,
denn einer der Kriege war kalt,
ansonsten hatten sie alles vermieden,
das Gedenken an die letzten Schüsse war schnell verhallt

Oder anders: Schnell verdrängt,
dass das Habeviel
am Leben von Habenichtsen hängt,
fürs Leben nur ein Schnellgericht
aus der Tiefkühltruhe,
Körper satt, doch Seele nicht,
trotzdem: erst mal Ruhe,
das Leid der Welt findet irgendwie da draußen statt,
man hebt weder Hand noch Stimme, eben: satt

Es muss Verrückte wie uns geben,
damit die Welt bestehen kann.
Wir hüten unser aller Leben
mit einem Gegenbann



Es gibt Bilder, die machen nicht warm:
Ein Mann hält einen kleinen Hund im Arm,
sieht so nett aus, und trägt die Uniform der Töter
verstörender könnte es für mich nicht sein,
kuschelt mit dem Kleinen und später
schießt er in die Menge hinein

Es gibt ein Traurigsein, das wichtig ist,
und niemand rede mir dann ein,
dass etwas andres richtig ist,
oft braucht es eine Zeit allein


Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der zehnte Teil von insgesamt dreizehn. 

Die Illustration „Gamayun - The prophetic bird“ (1897) ist von Viktor Vasnetsov (1848 - 1926)


Donnerstag, 1. Juni 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (IX)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (IX)


Vergänglichkeit ist. . .   -  Ich schrieb es hin

I

Regen rinnt, Träne rinnt,
und ich werde wieder Kind,
allein, allein, im Krankenhaus,
Eltern, Schwestern fuhren raus,
Ferien in Österreichens Bergen,
bei Schneewittchen und den Zwergen,

Regen rinnt, Träne rinnt,
und ich werde wieder Kind,
allein, allein im Krankenhaus,
zwei Finger knacken eine Laus,
Ende der Geschichte, aus


II

Freiheit als Blume,
blau, leuchtend, schön,
da hindurch

lassen sich
die Sphären sehn,
da hindurch
lassen sich die Sphären schauen,
in die Weiten,
in die weiten Himmel,
die blauen

Kein Sehnsuchtsort,
in meiner Jugend mir real,
noch konnte ich sie treffen,
und ich traf die Wahl,
wählte die Wälder,
die Gärten,
die Auen,
wählte Reime
und die Blumen,
die blauen

Wählte Wanderschaft,
und Heimkehr wieder,
wählte Gesang,
sang die neuen Lieder,
wählte Einsamkeit,
und Gemeinschaft auch,
wählte alten und neuesten Brauch,
werde noch mancherlei Wunder
im Alter sehn -
Freiheit als Blume,
blau, leuchtend, schön

(„Freiheit als Blume / blau, leuchtend, schön“, so begann ein Gedicht das ich als Sechzehnjähriger schrieb. Leider ist es verschollen, und nur die Anfangszeilen sind mir geläufig. Also schrieb ich es im Alter noch einmal neu.)


Wortfindungen

sardonisch

lakonisch

levkojisch

sardonisch -
auch wenn ich des öfteren Frohnatur bin
lasse ich mich nicht verleiten
zu einem gehässigen Lachen
in mich hinein,
genausowenig wie
ich mich von Spottgelächter
anstecken lasse

das sage ich lakonisch:
ich wähle die Worte, die steten,
in levkojisch hellen Beeten

(„Du sprichst. Dein Blut erduftet den Armen in levkojischen hellen Beeten“, heißt es in einem Gedicht von Ludwig Rubiner)


Trinke die Neigen
etwas
bleibt immer über

singe im Chor
die verblichenen
Lieder

lenke dein Boot
in die sorgsam verminten
Häfen

nur
verschweige es,
du hattest

oft genug
"Nein" gesagt.
Trinke die Neigen


Ainialem

Hirngespinste
in der Petrischale der Spezialisten
Fahrverbot wird erteilt
auf dem Holzweg
verloren
in den Weiten
der Milchstraßen
als Gabe Gottes
der Wachmann beginnt zu schlafen
hinter den geschlossenen Lidern
öffnet Tore das Schlaraffenland
als wäre weit zu fliegen
eine Lösung
dem Pulverrauch zu entkommen
Augen senken sich über
die Petrischale
ist die Sezession
der Seele geglückt?

(Ainialem ist ein finnischer weiblicher Vorname und bedeutet „Auge der Welt“)

Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der neunte Teil.

Die Illustration ist von Ivan Bilibin (1876 - 1942)