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Montag, 27. März 2023

Ich lebe

 



Ich lebe

Nicht in den frostkalten
Ruinen meiner Heimatstadt,
aus den Dachlatten des
Nachbarhauses
mir ein Feuer anzündend
die Hände zu wärmen

Nicht in den ausgehobenen
Gräben, vom Kameraden
eine Zigarette erbittend
nach fettig kühler
Speise aus der Aluschale,
Granaten pfeifen darüber

Nicht in der trockenen
Dürre der brennenden Sonne
Halme rascheln
karge Nahrung den Rindern,
ich meinem Kinde
magere Brust reichend

Nicht auf den langen
Wegen in brennenden Steppen
den gefüllten Krug
auf dem Kopfe haltend,
auf dem Rücken klammert
sich lethargisch Töchterlein

Nicht unter der dunklen
Leinwand, meinen anmutigen
Körper verhüllend,
eigenes Gefängnis tragend um mich,
unter den Blicken aus Bartgesichtern
mich duckend

Nicht in dem kurzen
Längenmaß der Zelle,
Schritt vor Schritt zurück
oder den Körper wiegend
auf der Pritsche,
sie holen mich morgen

Nicht unter der Dachtraufe
des Wellbleches
zwischen mageren Hunden
Männer, noch eigentlich Kinder,
mit glasigen Augen, in Händen
Macheten haltend

Demnächst wieder
ist erster Mai,
im Dorfe stellen wir dann
den Maibaum auf, so ist es

besprochen,
und danach gibt es
Musik
und Bier
und Grillwürstchen



Die Illustration: Kupferstich von Charles Cousen (1819 - 1889)

Sonntag, 26. März 2023

Mein Name ist Mensch

 



Mein Name ist Mensch

I

Als das Leben beschloss
für einen Augenblick
Mensch zu sein
wusste es selbstverständlich
dass dieses Experiment
auch wieder enden könne
mag sein
dass es sich
dennoch darauf freute

II

Als Mensch beschloss
für einen Augenblick
zu leben
wusste er nicht
ob dieses Experiment
einmal enden würde
mag sein
dass es hier und da
noch anzutreffen ist

III

Die Wohnung
ein Kühlschrank im Erdgeschoss,
dort die von Atomkraft gespeisten Ekstasen,
du glaubst es nicht
so wunderbar die Ekstasen
das Verströmen im heiligen Geist
was ist schon die Schönheit der Erde,
Mühsal ist es
und doch so willfährig die Kreaturen
so ergeben
so wehrlos -
sauge aus diesen Stern
die von Atomkraft gespeisten Ekstasen
verströme im heiligen Geist
so schön ist´s in diesem Verströmen,
nicht Garten noch anderes Paradies
so schön ist´s in diesem Verströmen
bebauen, bewahren
nicht unser Auftrag ist´s
so schön ist´s in diesem Verströmen
in die von Atomkraft gespeisten Ekstasen
die Wohnung
ein Kühlschrank im Erdgeschoss

IV

Sieh Dich vor vor mir
ich spreche aus
und wage anzudeuten
nicht nett
romantischer Verführer
verführ ich Dich zu Dir
Du bist so schön
ich sag es Dir
spreche es gern aus

Sieh Dich vor vor mir
habe eigene Sprache
wer Du auch bist
ich spreche nicht von Dir
ich spreche immer nur von mir
ich spreche schön
und klug. Und manchmal auch mit Wut
Ich spreche dumm
und blöd. Und manchmal auch mit Huf

Sieh Dich vor vor mir
Du magst mich deuten
doch es liegt mir nichts daran
Verantwortung liegt mir fern
für deinen Wahn
bin mein eigner Stern
ziehe eigene Bahn
ich glänze, ich tanze,
ich lebe im Lichte der Sterne
im Banne der Gärten

V

Mein Herz ist ein Herz
der tanzenden Winde
mein Herz ist ein Herz
welches liebt
immer schaut es in die
Spiegel der Seelen
keine Furcht
vor Berührung,
so es nur in trautem
Einverständnis geschieht
alle Zärtlichkeit
ist dann darinnen

Das Bild ist von Else Berg, niederländische Malerin, geboren am 19. Februar 1877. Zu Beginn der Besetzung der Niederlande durch die Wehrmacht 1939 verweigerte sie das Tragen des Judensterns. Sie wurden im Durchgangslager Westerbork inhaftiert, nach Auschwitz deportiert und am 19. November 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet.

Samstag, 25. März 2023

Am Ende einer Zeit - Die geheimen Gärten I

 

               


Am Ende einer Zeit - Die geheimen Gärten I

Der Garten liegt geschmiegt an einer Quelle unterhalb,
ich kann lauschen, was die Wasser mir murmeln, als stete Öffnung
zum Wasser des Lebens, nicht eindringlich,
und doch als ein zeitloses Mantra im Heimlichen, Heimischen,
verbunden dem Bache dem Flusse dem Strome dem Meere
dem Regen, dem taufeuchten jungen Tag.
War diese Quelle die Quelle des Ortes ebenso, der mich einlud
im Bleiben zu verweilen. Und als Geschenk nicht nur Brot und Salz,
nein, älteres Sein: der Garten; und wenn ich meine Grüße
an die Welt flüstere hinein in das mäandernde Singen,
dann trägt es meine Stimme mit hinaus, und wenn ich
einstimme in dieses Singen, dann bin auch ich
Quelle im tätigen Lauschen, so wie die Nymphen, wunderfein,
sowie die Schlange mit der Krone in der Farbe blühender Calendula,
in der Farbe der sinkenden Abendsonne, hier
lebt sie als wahre Königin, ungenannt; und wenn ich einem Gott
noch diente, dann wäre es Pan, und wenn ich einer Göttin
noch diente, dann wäre es Lilith, doch diese Königin bedarf
keines Dieners, sie wispert mit den Winden,
erklingt aus den Schreien der Falken, aus dem klaren
Gesange der Amsel, aus dem Flüstern der Quelle am Garten.

Ich will dich nicht in neue Träume einladen, nur ich selbst bin ich,
und meine Hoffnung und Bitte: Sei du ebenso du.
Ich lebe hier; und ich lebe in Waldesmitten,
und lebe im klingenden Garten, im Schatten
der falkenumwehten Türme der alten Kirche,
und im verschwiegenen Garten der Liebsten, dem anderen,
wo die Kräuter grünen, und lebe auf den Hügeln der seltsamen
Pflanzen. Die Wände meiner Wohnstatt sind aus Lehm und Stroh,
und vor dem Hause: der hohe Kirschbaum, die Hasel mit
dem dunkelroten Blattwerk, und ringsum die unermüdlich
tschilpenden schwatzenden Spatzen, und Falken brüten
unter meinem Dache, nicht gerade zur Freude der
schimpfenden Spatzen. Ich lebe gerne hier. Ich lebe gerne so.

Musik: Verlah Wo: Klavier; Klaus der Geiger: Panflöte; Erd Ling Judith: Percussion; Susanne Bartens und Dingefinder: Gitarre. . . und die Quelle und die Vögel in Fredelsloh. Text und Sprecher: Dingefinder Jörg Krüger

Bilder und Videos vom Dingefinder außer: Regentropfen: Video by Elen Lackner from Pixabay, Schmetterling: Video by Jacqueline deZanet from Pixabay, Ringelnatter: Image by Jarkko Mänty from Pixabay, Amsel: Video by floriansmc from Pixabay, Waldesinneres: Das Bild ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch

Montag, 20. März 2023

Maisblatt

 


Eine meiner Schwestern schenkt mir, ich glaube zu meinem elften Geburtstag, ein Buch mit dem Titel „Blauvogel - Wahlsohn der Irokesen“ von Anna Jürgen.

Es handelt von Georg Ruster, dem Blauvogel, welcher in Anna Jürgens gleichnamigen Buch im Jahre 1755 zu Zeiten des Krieges der Engländer und Franzosen um den nordamerikanischen Kontinent von den Irokesen als Neunjähriger erst gefangen und dann an Sohnes statt angenommen wird. Die Autorin schildert sehr einfühlsam das Hineinwachsen des Zöglings in die so andere Kultur der Irokesen, verglichen mit der der weißen Siedler, eine Kultur, in der zum Beispiel Kinder niemals gezüchtigt und geschlagen wurden, etwas das bei den Siedlern gang und gäbe war. Georg Ruster lebt sich mit der Zeit als Blauvogel ganz in diese Kultur ein. Ich las dieses Buch mit Begeisterung, ich las es, und ich fand mich darin wieder. Und obwohl es ein Jugendbuch ist, nehme ich es auch heute noch gerne zur Hand, um darin zu lesen.

Es gibt viele Eindrücke aus diesem Buch, welche mich prägten. Doch eine der Szenen, die mich mit am nachhaltigsten prägten, ist die folgende:

„Die Lenape sagen, wir müssten uns mit den Franzosen zusammentun und gemeinsam mit ihnen die Engländer verjagen. Glaubst du, dass wir im Bunde mit den Franzosen die Rotröcke besiegen können?“

„Ich weiß nicht, mein Onkel. Aber der Vater meint, die Franzosen wären ebenso schlimm wie die anderen Weißen.“

„Die Lenape sagen, mit ihnen wäre besser auszukommen. Wenn wir mit ihrer Hilfe die Engländer vertrieben hätten, würde es für uns leichter werden.“

Hartnäckig kehrte der Rauchige Tag zu diesem Gedanken zurück; er klammerte sich an diese Vorstellung wie an eine letzte Hoffnung.

. . .

Der Häuptling erhob sich von seiner Matte, winkte Blauvogel und half ihm zum Dachboden hinauf. Der Junge musste eine alte, abgewetzte Ledertasche hervorkramen, die ziemlich weit hinten lag. Der Vater nahm die Tasche, setzte sich wieder zum Rauchigen Tag, öffnete die Klappe und holte eine Schere hervor. Dieses Gerät war irgendwann einmal hierhergeraten und auf den Boden gewandert, weil sich niemand an dieses sonderbare Klappmesser gewöhnen konnte.

Der Onkel hatte solch ein Ding überhaupt noch nicht gesehen und verbarg kaum sein Erstaunen. Mit beiden Händen öffnete der Vater die Schere: „Du siehst hier zwei Messer, die sich gegeneinander bewegen wie zwei Krieger. Man glaubt zuerst, sie treffen aufeinander und vernichten sich gegenseitig, aber“ - Kleinbär schloss die Schere - „sie reiben sich nur; dann gehen sie aneinander vorbei und tun sich gar nichts. Sobald man aber etwas dazwischensteckt, zerschneiden sie es in kleine Stücke.“

Der Vater legte ein Maisblatt zwischen die geöffneten Schneiden, klappte die Schere zu und ließ die getrennten Hälften in den Schoß des Onkels fallen. Der Rauchige Tag griff nach dem zerteilten Blatt, setzte es zusammen, nahm es wieder auseinander, prüfte die scharfen Schnittränder und schüttelte den Kopf. Er bat sich die Schere aus und zerschnitt die Blattfetzen noch einmal. Stumm reichte er das Gerät zurück.

Da nahm der Vater wieder das Wort: „Die beiden Messer sind die Engländer und Franzosen. Sie wenden sich gegeneinander, doch sie vernichten sich nicht. Sie zerschneiden nur das Maisblatt, das zwischen sie gerät, und das Maisblatt sind wir, die roten Stämme. Wir werden zwischen den beiden Parteien der Weißen zerschnitten. . . .“

Anna Jürgen ist das Pseudonym der Schriftstellerin Anna Müller-Tannewitz geb. Tannewitz (* 18. August 1899 in Immekeppel; † 1988 oder 1989 in Bad Urach) Blauvogel ist das einzige Buch von ihr, welches unter diesem Pseudonym veröffentlicht wurde.

Das Foto zeigt das Innere des Langhauses - Iroquoian Village, Ontario, Kanada. Das Irokesendorf aus dem 15. Jahrhundert wurde an seinem ursprünglichen Standort rekonstruiert. Dieses Dorf liegt an der traditionellen Grenze zwischen den Wendat (Huron) im 13., 14. und 15. Jahrhundert und den Attiwandaron (Neutralen) im 15., 16. und 17. Jahrhundert. Gemäß den archäologischen Fakten wurde dieses Gebiet von Vorfahren dieser beiden Nationen zu verschiedenen Zeiten bewohnt.

Link zur Lizenz zu diesem Foto


Dienstag, 14. März 2023

Lyrischer Polyeder

 

Sylvia Christina Händel: hands_FOLDED (ständige Sytemveränderungen)



Lyrischer Polyeder



Spiralworte  -  jenseits                                                                        Linear-Träume,
verworrener Unendlichkeiten                                                             Seelenwelten,
zuckend plasmatischer                                                                      gedruckte Seelenwelten,
Regungen  -  Du  -                                                                             Dur-Folge, Laut.

      Nichts ist, es sei                                                                Unfassbaren
      ein Entgegenkommendes,                                                Traumes gedachte ich,
      ein goldenes Spiel  -                                                          verirrt in den Sehnsüchten
      Die Ahnungen des. . .                                                        des Nachtwaldes.

                Traumdeuters Nebelmeer.                         Die Seele, gelenkt.
                Verhüllt alle Wünsche,                               Nichts wollte ich, und dachte  -       
                 so klar wie ein Stern                                  Und dachte, bis
                 ist geöffnet - - -                                          in die letzte Faser meines Seins.

                                       Dann – Ins Ungedachte, Ungemachte,
                                       verletzliche Brücke,
                                       schwingend über den Riss
                                       zwischen den Welten.

                 Wo bin ich?                                                 Zurück! Voran!
                 Ich rief meine Seele  -                                 Unterschiedslos
                 Und tausendfältiges                                    lagert das Meer
                 Echo. . .                                                       am Saum der Nacht.

       Spült im Drehen                                                                 Ein Sein,
       der Formen                                                                        unfassbar-begreifbar,
       die gewundenen Muscheln                                                dargelegt
       in den Schoß aus Sand  -                                                  im kreisenden Wind,

Linear-Worte,                                                                                        Spiral-Träume,
Eine Straße ans Ende,                                                                          gesicherte Verwirrtheit,
Linien, schwarz                                                                                     ein heiterer Glockenton:
auf weiß.                                                                                               -  Wir  -
              


                                                           Endlos. . .


Der Lyrische Polyeder lässt sich von oben nach unten lesen, von unten nach oben, von rechts unten nach links oben, von links unten nach rechts oben, Zeile für Zeile, quer und längs. Nähere Dich Deinem Raum an. . .





Kunst machen heisst, bereit zu sein
jeden Moment alles zuvor mühsam erarbeitete
und lieb gewonnene zurück zu lassen, und sich
ganz der Wüste anzuvertrauen und dem
Geist, der in ihr wohnt, und der genau weiß,
wo die nächste Quelle zu finden ist.

Sylvia Christina Händel


Die Werke von Sylvia Christina Händel mit freundlicher Genehmigung.
Mehr von ihr hier: 

Montag, 13. März 2023

Mon Triptychon


 
Mon Triptychon

Ich skizziere dir ein Triptychon, male im Heimlichen mit,
in aller Dreieinigkeit von Ewigkeit und Zeit und Welt, da
von gestern auf heute auf morgen, nicht mehr Anna selbdritt,
Nornen privatim: Unelma, Leftherte, Kalindi; Nyx als Pedrella,
Nacht und Warte. Eccomi!

Links er: Wandrer, irgendwo zwischen einsam, Wüste und Wald.
Woher er kam? Sie wussten´s nicht. Er trug ein Bündel nur,
rückseits, und ein kleines Instrument mit Saiten, Unelmas Gestalt,
verdingte sich im Dorf als Koch, als Bäcker und als Schnitter, zur
späten Stunde sang er. Eccomi!

Rechts sie: Liebende, Lüsterne, Gärtnerin still,
reitend geflügelt mit ziehenden Wolken, nachtsternendem Wind,
aus tiefschwarzem Onyx ihr Diadem, wie einst Sybill,
um sie Hollerduft schwer und samtenes Lindenlind,
neumondtönend. Eccomi!

Mittig auf Goldgrund Kleinhäuschen Baucis und Philemon,
beschattet von den vielerlei Bäumen, paradieseseinladend,
Schlange gekrönt, von Früchten verwöhnt, syringener Ton,
alte wie junge, in jenem nachtschattenem Brunnen badend.
Nyxensang. Eccomi!

Amselsang, Eos erwacht, es schließen Rosenfinger die Türen.
Die Geheimnisse schlafen, Stille überdauert den Tag,
nur manchmal, aufblitzend tagträumend, in Gedanken spazieren
sie unverhofft aus und ein, wer sie denn zu erspüren vermag.
Eulenweise leise. Eccomi!

Wenn alle Sterne leuchten,
Dich die Himmelslichter
binden,
sich Seelen
unter Himmelslichtern
wiederfinden,
wenn neue Pfade
beginnen
sich
in neue Lande
auszuweiten,
dann trägt der Wind
Dir Worte zu:
Dies alles ist,
dies alles eins,
dies alles Du.

Die Bilder: Links Edwin Austin Abbey (1852 - 1911); rechts „Sappho“ von Charles Mengin (1853 - 1933); Mitte: „Kleine Hütten im Wald“ von der 2016 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch


Mittwoch, 8. März 2023

Brandesgrund und Sprinkelsgrund bei Vogelbeck

             


Vorzeiten, so erzählen uns unzählige Sagen, war unser Land überall von Riesen, Zwergen, Elfen, Nixen und anderen rätselhaften Wesen bewohnt. Menschen sind erst später eingewandert und haben dann durch ihre Vermehrung und Ausbreitung jene Ureinwohner immer mehr zurückgedrängt.

Wenn man den südöstlichen, steilen Abhang der Vogelsburg hinabsteigt, so gelangt man in eine tiefe Schlucht, welche „die Brandesgrund“ genannt wird. Ein Bächlein rinnt murmelnd darin hinab, das seinen Ursprung nimmt aus einer am oberen Ende der Schlucht befindlichen Waldquelle.

Vor wenigen Jahren, an einem heißen Sommertage, stand der Erzähler nach langer, wohl vierzigjähriger Abwesenheit wieder an dieser Quelle. Nun war er alt geworden, die Quelle aber jung geblieben; denn umkränzt von blühenden Waldblumen bot sie gleich einer jungen Maid ihm zum Willkommen - wie einst - erfrischenden Waldtrunk. Und da ließ er sich nieder auf weichem Nadelpolster und lauschte wieder dem sprudelndem Quell und dem murmelnden Bächlein. Durch die Lichtung von oben schien die Sonne und übergoß die Quelle mit lachendem Goldglanz. Aus dem Busch drüben am Bach und von hohen Baumwipfeln drangen, wie einst, mancherlei Vogelstimmen. - Es war, als ob alle - Quelle, Bächlein, Sonne, Blümlein und Vögelein - erzählen wollten, was sich einst zugetragen hier am tiefversteckt gelegener Waldquelle.

Und nun tauchten auch in der Erinnerung des Erzählers wieder so manche Erzählungen auf, die sich an den Brandesbrunnen knüpften und denen der Erzähler in seiner Kindheit so gern aus dem Munde der Alten gelauscht hat.

Unweit der sagenumwobenen Vogelsburg liegt eine enge, tiefe Talschlucht, die von alters her von den Einwohnern Vogelbecks „die Sprinkelsgrund“ genannt wird. Ihre hohen, steilen Böschungen sind mit dichtem, wilddurchwachsenem Buschwerk, Dorn- und Brombeerengesträuch besiedelt. Hindurch ragen auch vereinzeltstehende, breitgeästete Pappeln, deren Silberlaub im leisen Windhauch flattert und zittert.

Während in tiefverborgener Höhle am oberen Ende der Sprinkelsgrund Abkömmlinge eines gutmütigen Zwergengeschlechts ein geheimnisvolles Leben fristeten, barg zu gleicher Zeit die Sprinkelsgrund noch eine weitere Siedlung wunderseltener Erdgeschöpfe. Tief unten am Eingange der Schlucht lag - nach Aussage längst Verstorbener aus Vogelbeck - ein stiller, tiefgründiger Weiher. Dichtes Weiden- und Erlengebüsch umsäumte die Ufer, und ringsum flüsterte es geheimnisvoll in den graublättrigen Erlenbäumen. Zuweilen drang auch leiser, wunderbarer Gesang und Harfenklang aus dem Gebüsch den glatten Wasserspiegel herüber. In den stillen Wasserfluten vergnügten sich Silberfische im Wettschwimmen, und erhoben Teichfrösche in lauen Frühlingsnächten ihre Kehlen zu vielstimmigen Froschkantaten. Und in mondhellen Nächten brodelte und gluckste es unheimlich in der Tiefe des Weihers und - schöne Jungfrauen in schillernden Gewändern, langbärtige Männlein mit grünen Zähnen und grünem Hut und goldlockige Knaben mit rotem Käpplein auf dem Haupt entstiegen dem Wasser und vereinigten sich unter den Erlen zu Tanz und Gesang. Das war der Mondreigen der Waldnixen!


Aus: "Vogelbeck - Ein Heimatbuch" (1926) von Wilhelm Körber

Dienstag, 7. März 2023

Die neue Jugend - Aus dem ersten Heft, März 1914

 


Im März 1914 kam die erste Ausgabe der Zeitschrift Die neue Jugend heraus, eine „Zeitschrift für moderne Kunst und jungem Geist“, herausgegeben von Heinz Barger und Friedrich Hollaender. Diese Ausgabe kam im Outfit einer Schülerzeitung daher, die Beiträge auf einer Schreibmaschine geschrieben und mit handgezeichneten Illustrationen.

Friedrich Hollaender (1896 - 1976) sollte später als als Revue- und Tonfilmkomponist Berühmtheit erlangen. Er sollte nur bis zum sechsten Heft an dem Projekt beteiligt sein. Schon ab dem siebten Heft übernahm der Schriftsteller und Verleger Wieland Herzfelde (1896 - 1988) die Schriftleitung.1916 erwarb er für 200 Mark die Rechte an der Zeitschrift. Unter seiner Ägide entwickelte sich Die Neue Jugend zu einer wichtigen Zeitschrift des Expressionismus in seiner pazifistischen Ausrichtung. Ab da arbeiteten Künstlerinnen und Künstler wie John Heartfield (der Bruder von Wieland Herzfelde), Else Lasker-Schüler, Georg Grosz, Albert Ehrenstein, Franz Jung und andere für die Zeitschrift. 

Ich habe hier einmal eine Auswahl von Texten aus dem ersten Heft der Zeitschrift zusammengestellt, als ein Zeitdokument des progressiven Teiles der Jugendbewegung.

Erstes Heft 1914

Vorwort

Jungen Literaten nicht nur, sondern vor allem denen, die moderne Kunst und junger Geist interessiert, denen die frei von Philisterie und Prüdheit sind, werden diese Hefte herausgegeben. All´ die Leiden und Wonnen, die die Jugend erfüllen, was sie bewegt und beruhigt, was ihr jedoch verständlich auszusprechen versagt blieb, soll hier durch ausdrucksfähige Vertreter Worte finden. - Jugend soll diese Werke nicht entschuldigen, soll vielmehr auf die Möglichkeit der geistigen Ausreifung hindeuten. -

Wir bemühen uns natürlich, in den Heften nichts zu veröffentlichen, was nicht zumindest den schlummernden Kern einer Persönlichkeit birgt. Insofern heben wir diese Zeitschrift auf das Niveau einer begründeten Notwendigkeit.

Eine Honorierung der uns eingesandten Beiträge findet im Prinzip nicht statt. -

Einen Rahmen kennt unsere Zeitschrift nicht - so wie wir auch keine Kampfzeitung bedeuten wollen.

Und doch gilt unser Kampf als ein heiliges - wenn anders das Abstreifen erstickender Tradition kämpfen heisst. -

Kommentarlos im Übrigen werfen wir unser erstes Buch aus.

Heinz Barger, Friedrich Hollaender, Berlin, im Februar 1914


Die „Neue Jugend“

1.

Als im Mai 1913 das erste Heft des „Anfang“, Zeitschrift für die Jugend, erschien, wurde die Allgemeinheit auf die Jugendbewegung aufmerksam und fiel über sie her. Zuerst wollte sie die Jugendbewegung leugnen; aber unbekümmert um des Publikums Gekläff schritt die Jugend auf ihrem Weg weiter. Großes hatte sich schon in diesem ersten Jahre des öffentlichen Arbeitens einer neuen Jugend ereignet: Größeres blieb noch, ist noch unabsehbar. -

2.

Die akademische Freischar, Wandervögel und neuzeitliche Landschulheime veranstalteten im Oktober 1913 den „Ersten freideutschen Jugendtag“ auf dem hohen Meißner. Wie vor hundert Jahren auf dem Wartburgfest die Burschenschaften für ein neues Deutschland eintraten, streben diese Jugendbünde nach einer „Lebensführung, die jugendlichem Wesen entspricht, die es ihr aber zugleich auch ermöglicht, sich selbst und ihr Tun ernst zu nehmen und sich als einen besonderen Faktor in die allgemeine Kulturarbeit einzugliedern.“ So hieß es in dem Aufruf zum freideutschen Jugendtag; und das ist auch das Ziel der heutigen Jugend. Eine Jugendkultur.

3.

Um aber positive Beiträge zur Kultur der Jugend zu bringen, sind wir auf die Zeitschriften angewiesen, die sich allein aus Beiträgen Jugendlicher zusammensetzen. So: Der „Anfang“, „Neubild“ und die „Neue Jugend“. In diesen Zeitschriften kann die Jugend unbevormundet zu Worte kommen, hier hat sie eine Stimme, um ihre Not und ihre Sorgen zu verkünden. Hier kann sie für sich eintreten, „sie versucht es unter der Devise: Durch die Jugend, für die Jugend“. (Barbizon)

4.

Die „Neue Jugend“ soll ein Blatt sein, das gänzlich unpolitisch die Interessen der Jugend vertritt. Hier wird die Jugend auch ihre Unbefriedigung hervorbringen können. Wir wollen für unsere Jugendlichkeit arbeiten.

5.

Wir sind die heutige Jugend! Da wir die Pflichten wollen, müssen wir die Rechte haben. - Siegfried Jacobsohn (1881 - 1926, Herausgeber der Zeitschrift Die Schaubühne 1905, ab 1918 Die Weltbühne): „Und spricht zu Dir von Tradition der ganze Wackelgreis Legion, glaub´ keinen Ton, glaub´ keinen Ton! Euer Weg ist der richtige. Ihr habt nicht bloß das Recht, Ihr habt die Pflicht mit Euren Augen von heute zu sehen.“ -

6.

Wir wollen nicht ziellos „Rechte“ haben, sondern wollen „Jugend“. Die Jugend, die so leicht irregeleitet wird, die uns so leicht verloren gehen muss bei der heutigen - und fast schon gestrigen - Stellung der Jugend. Wir wollen nicht „faulenzen“, uns „rumtreiben“, wir wollen eine natürliche Schule, die jugendlichem Wesen entspricht; wir wollen auch nichts unversucht lassen, um diese Schule zu erreichen! Wir bereiten den Späteren diese Schule vor; für sie auch unser Kampf.

7.

Wir wollen Freiheit: auch die „familiäre“. Nicht die Familie begleiten müssen; nicht altkluge Antworten geben müssen. Nicht ihre Erfahrungen brauchen wir! Wir wollen in unserer freien Zeit nicht von der Familie „abhängig“ sein: Genießen, Schönheit, Freiheit, Ideale! (Und hier setzte auch der Wandervogel ein, bevor er antisemitisch wurde und allerlei Anderes auf sich häufte!!)

Die „Neue Jugend“ wird in diesem Sinne wirken. Literarische, graphische und musikalische Beiträge sollen Zeugnis ablegen von dem Geiste, den eine Jugend-Kunst beseelt. Die „Neue Jugend“ soll ein weiterer Schritt vorwärts sein zur Erreichung unseres Zieles!

Fritz Taendler, Freienwalde

Vermutlich geboren am 17. Januar 1897 in Berlin, Gestorben („gefallen“?) am 29. September 1916.


Sommervormittag in Genf

Die Alp ragt wuchtig am Horizont.
In trägen Mittagsgluten sonnt
die Stadt im Tal mit dem Turm von St. Pierre,
mit dem schimmernden Quai der Menschheit Parterre.

Am Corso siehst Du die Menschen schlendern,
eine Guirlande aus Blumen und Bändern,
die wahllos man zusammengeknüpft,
mit Farbenflecken lebhaft getüpft,
Gewächse und Blüten aus allen Ländern,
ein Hin und Her, ein Spiel mit Pfändern - - -

Hast Du vom Pfänderspiel genug,
so tu einen tiefen Atemzug,
banne den Blick, den neubekehrten
hinauf zur Alp, zu Ewigkeitswerten.

Cilly Stöckel

Erwähnt: Cilly Stöckel - Gesang (Prevosti) Faltblatt 1917 / 18 in Stern´sches Konservatorium, Jüdische private Musikschule Hollaender Berlin, als Schülerin an der Musikschule


Zwei Gedichte

Farben

In einem Traume habe ich gefunden
Was Grübeln mir und Denken nicht erwarben:
Ein jedes Wort hat seine eignen Farben,
An seinem Stamm durch ein Gesetz gebunden.

Grün ist die Kette unsrer Lebensstunden
Das Flötenspiel, die Wünsche, welche darben,
Und rot die Seufzer derer, die jung starben,
Das Lachen und die Schwermut auf den Sunden.

Sprecht ihr vom Schweigen abendlicher Weiten
So ist es blau, und auch der Frauen schreiten
Der Wind, der Flug der Vögel, das Parfüm.

Weiß will bei Nacht das Regenrauschen scheinen,
Auch Kinderstimmen, welche angstvoll weinen,
Und jäher Tod und Greisenungestüm.


Venedig am Abend

Auf den türkisgrünen Wasserzeilen
Schimmert perlenfarbener Abendschein -
Glockenläuten hüllt die Häuserfirsten
Und die blauen Dome ein.

Um die Türme, die sich aus dem goldnen
Aether heben, wunderbar gezackt,
Schweben Vögel, ihre schlanken Hälse
Wiegend zu der Glocken Takt - - -

Schwankend zieht die schwarzverhängte Gondel
Durch den lohenden Canal die Bahn,
Neben rosafarbenen Fassaden
Mit vergitterten Altan.

Jean le Hogh


Entwicklungsverse

von M. G.

Kopf an Kopf
Das Blut fliegt in den Schläfen
Durch zwei Körper zuckt ein still Gewahren
Wilder Takt wiegt kurze Leidenschaften
Und ein Hauch von Dir fließt ein in mich.
Ich und Du fühlen eins:
Ein Mensch, ein Glück
Wie wenn die Stunde höchster Reinheit wäre.
Das biegt und gibt und singt
Schönheit ist das Leben,
Stunden erhabner Heiligkeit
Hab´ ich geatmet.

Mit Genehmigung des Neubild Verlages, Fritz Taendler, Freienwalde an der Oder


Stimmung

Wenn ich auf Bergen wandere, in Tälern,
Da schlägt das Herz so gern zum Himmel auf;
Der Abendsonne warme Dämmerstrahlen
Vergolden rings die liebliche Natur:
Und in der Seele quillt ein selig Fühlen
Von allem, was die Welt uns Schönes beut.
Wie tiefer Frieden atmet uns entgegen,
Wenn Feierabendglocken fern erklingen,
Wenn durch die dunklen Wälder wehmutsvoll
Ein Rauschen zittert wie ein Abschiedsgruß.
An diesem Tag, der schön war wie der letzte.
Und sieh, es küsst der Abendsonne Strahl
Den stillen Berg in liebevollem Sehnen.
So sendet sie den letzten Liebesgruß
Der dämmernden Natur - und flieht hinunter.
Die Welt ist himmlisch schön, wir sehen´s wohl
Doch fühlen´s nur die seltnen Feierstunden.

H. Paul


Aus dem zweiten Heft ein Gedicht von Friedrich Hollaender:

Adja

Über alles Denken bist Du
mir gewesen. -
Wie Herbstnacht auf duftnasser
Wiese. Nur ich
kam Dir so fremd.
Weißt Du mich noch? -
Wie Syrinxgesang und fernes Getön -
doch lieb, wie unendlich
verschwistert,
flossest Du mir entgegen.
Nur ich - verloren und dunkel -
nahm Dich, emporgeboren
aus Weh und Weh,
ratlos - fremd
in mich auf. -


Montag, 6. März 2023

Vom Dingefinden

 



Vom Dingefinden

Wenn wir modernen Menschen von den Sammlerinnen und Jägern abstammen, dann ist das Dingefinden wohl eine der ältesten menschlichen Tätigkeiten. Vom Finden nützlicher Dinge hing lange Zeit unser Überleben ab.

Vielleicht erfreuen uns deshalb eine schöne, gefundene Vogelfeder oder selbstgesammelte Waldfrüchte für eine leckere Sommermarmelade mehr, als viele schnell gekaufte Dinge.

Kinder können sich an den kleinen gefundenen Dingen des Alltags immer wieder aufs Neue erfreuen und sie haben die Fähigkeit, im Spiel die Zeit völlig zu vergessen.

Das Gehen und dabei Dinge finden ist wohl die erste Meditationsform der Menschen. Ganz in der Gegenwart verhaftet, im stillen Gespräch mit der Umgebung, mit wissendem Blick um die Dinge und mit offenem Ohr für die Klänge der Landschaft wird die Welt eine Wunderwelt, in der alles seine Bedeutung hat.

Die Menschen der Sammlerinnen- und Jägergesellschaften brauchten für ihren unmittelbaren Lebensunterhalt im Durchschnitt zwanzig Stunden die Woche zu arbeiten.

Daher hatten sie genügend Zeit, in Handarbeit wundervolle Kunstwerke zu schaffen und sich geduldig um ihre Kinder zu kümmern.

Mir ist noch nie ein Kind begegnet, welches aus freien Stücken hässliches Plastikspielzeug herstellt. All das Zeug wird von Erwachsenen produziert, die ob dieser „produktiven“ Tätigkeit keine Zeit mehr haben, die kleinen Dinge zu sehen, welche Kinder immer noch begeistern können: Steine, Federn, Muschelschalen, Glasscherben. Natürlich wollen die Kinder auch den bunten Plastiknippes besitzen. Dass er Geld kostet, und nur dazu gemacht ist, den Leuten Geld aus den Taschen zu ziehen, dafür können sie nichts. Oft werden sie aber von den Erwachsenen dafür gerügt, dass sie den Talmi haben wollen, den die Erwachsenen extra für sie hergestellt haben.

Kinder erfreuen sich an Erwachsenen, die Zeit haben und Dinge finden können. Seligkeit.


Ich suche nicht - ich finde

Suchen, das ist Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem. Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen,
und was gefunden wird, ist unbekannt.
Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.
Die Ungewissheit solcher Wagnisse
können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die im Ungeborgenen sich geborgen wissen, die in der Ungewissheit,
der Führerlosigkeit geführt werden,
die sich vom Ziel ziehen lassen
und nicht selbst das Ziel bestimmen.

Pablo Picasso


Zu der Grafik oben gibt es eine Geschichte: Es ist schon länger her, dass ich im Rahmen eines Kinderferienprogrammes eine Woche zum Thema "Indianer" anbot. Da waren dann zwölf Kinder, Jungen und Mädchen, auf dem Gelände unseres Erlebnisgartens, und waren ganz erstaunt, dass es nicht um "wowowow" und prachtvollen Federschmuck ging, wie sie es sich vorgestellt hatten, wild und romantisch; sondern dass ich ihnen das Leben der Indianer, die in den großen nordamerikanischen Waldgebieten lebten, näher bringen wollte, anhand der Sitten und Gebräuche dieser Sammlerinnen- und Jägervölker. Wobei der Schwerpunkt in dieser Woche auf dem Sammeln beruhte.

Der erste Tag begann mit einer Namenssuche, wir brauchten ja einen indianischen Namen für jedes, und ich erzählte, dass bei diesen Völkern die Kinder zur Geburt einen vorläufigen Namen bekämen, und dann, im späteren Alter sich auf eine Namenssuche begeben müssten. Die Kinder meiner Gruppe waren im Alter von neun bis zwölf Jahren, also eigentlich noch etwas zu jung für eine Namenssuche, die bei diesen Völkern im Alter von vierzehn Jahren stattfand.

Statt also zu warten, bis alle vierzehn Jahre alt waren, um dann für drei Tage alleine im Wald zu verbringen mit Fasten, bis ihnen die Ahnung ihres neuen Namens zugetragen wurde, verkürzte ich das Procedere. Wir gingen in den nahegelegenen Wald, und die Aufgabe war, dass jede und jeder für sich ginge, bis er oder sie einen auffälligen Gegenstand fände, der mitgenommen werden konnte. Anhand dieses Gegenstandes sollte dann abends im Plenum gemeinsam besprochen werden, wie der neue Name wohl wäre.

Ein zwölf Jahre altes Mädchen war dabei, das aus schwierigen familiären Verhältnissen kam. Sie wollte partout nicht alleine in den Wald, also hängte sie sich an mich, und wir gingen gemeinsam. Sie war nicht gerade positiv sich selbst gegenüber eingestellt, um es einmal etwas sanfter zu sagen. Und sie fand auch nichts, was ihr auffiel, außer einem Haufen Hundekacke, und sie sagte: "Dann heiß ich eben Hundekacke!" Was ich selbstverständlich nicht gelten ließ.

Auf dem Rückweg zu unserem Lager wurde sie dann doch etwas unruhig, und letztlich sammelte sie ein am Wegrand liegendes Efeublatt, schon etwas angewelkt, und daher nicht rein grün, sondern auch etwas begilbt an den Seiten, für sich ein.

Abends saßen wir dann um das Feuer im Kreis, und besprachen unsere Fundstücke. Ich wollte, dass nicht nur ein Namen anhand der Fundstücke gefunden wurde, sondern dass auch ein kleiner Merksatz mit diesem Namen verbunden wurde. Als nun die Reihe an das Mädchen kam, dass zuerst einmal "Hundekacke" heißen wollte, hielt sie ihr gefundenes Efeublatt in die Höhe. Den Kindern fiel auf, dass das Blatt die Form eines Sternes hatte, wenn auch nicht ganz symmetrisch. So bekam das Mädchen dann den Namen "Sternblatt" in unserem temporären Stamm. Und ein Merksatz wurde auch gefunden: "Ich heiße Sternblatt, weil mich jemand gern hat".

Für den Rest der Woche war Sternblatt wie verwandelt. Positiv und fröhlich. Ich hoffe, dass das über diese Freizeit hinaus getragen hat.


Sonntag, 5. März 2023

Was ein(e) Dingefinder(in) ist und wie man Dingefinder(in) wird. . .

 



Der Dingefinder, sein Sohn und die Entdeckung der Zeithaberin

Der Dingefinder und die Zeithaberin, bzw. die Dingefinderin und der Zeithaber (oder sie/sie oder er/er), sind ein Liebespaar. Das heißt: ohne Zeithabe kein Dingefind und vice versa. Meine Entdeckung der inneren Zeithaberin entsprang meinem geduldigen Spazierenstehen mit meinem Sohn in seinen ersten Jahren. Die eigentliche Vermählung mit meiner inneren Zeithaberin fand statt, als ich ausgestiegen wurde. Nach einigen Monaten loser Arbeit entließ ich mich geheilt als Dingefinder aus der Gesellschaft. In der darauf folgenden Zeit begann ich damit, konsequent durch diese Entlassung zu gesunden.

Auf der Suche nach einem vierblättrigen Kleeblatt für eine liebe Freundin hörte ich von meinem damals fünf Jahre alten Sohn folgendes: „Papa, ich finde keines!“ (Während er angestrengt auf den Boden starrend durchs Gras stapfte) „Eigentlich kann man vierblättrige Kleeblätter gar nicht suchen, man kann sie nur finden.“

Fernsehsprecher: „Das unendliche All. . .“, Dingefinders Sohn (vier Jahre alt): „Alle Alle sind unendlich.“ So fand ich die Weisheit, ohne Löffel.

Der Dingefinder und die Zeithaberin, bzw. die Dingefinderin und der Zeithaber (oder sie/sie oder er/er), sind ein Liebespaar. Das heißt: ohne Zeithabe kein Dingefind und vice versa. Meine Entdeckung der inneren Zeithaberin entsprang meinem geduldigen Spazierenstehen mit meinem Sohn in seinen ersten Jahren. Die eigentliche Vermählung mit meiner inneren Zeithaberin fand statt, als ich ausgestiegen wurde. Nach einigen Monaten loser Arbeit entließ ich mich geheilt als Dingefinder aus der Gesellschaft. In der darauf folgenden Zeit begann ich damit, konsequent durch diese Entlassung zu gesunden.

Auf der Suche nach einem vierblättrigen Kleeblatt für eine liebe Freundin hörte ich von meinem damals fünf Jahre alten Sohn folgendes: „Papa, ich finde keines!“ (Während er angestrengt auf den Boden starrend durchs Gras stapfte) „Eigentlich kann man vierblättrige Kleeblätter gar nicht suchen, man kann sie nur finden.“

Fernsehsprecher: „Das unendliche All. . .“, Dingefinders Sohn (vier Jahre alt): „Alle Alle sind unendlich.“ So fand ich die Weisheit, ohne Löffel.

Was tut ein Dingefinder?

Er geht. Er leugnet die Herkunft des Menschen von den Sammlerinnen und Jägern nicht und empfindet das Erstellen von Pyramiden, Schnellstraßen und Wolkenkratzern nicht als ein Zeichen von Hochkultur. Sammlerinnen und Jäger hinterließen kaum Spuren.

Der männliche Dingefinder findet seine weibliche Seite, die Zeithaberin. Das wird sein erster Fund. Er wird zum Anbeter der Göttin der kleinen Dinge und findet weiteres. Was er nicht findet: Sich selbst oder das Gesetz der großen Wahrheit oder „den Weg“ oder . . .

Ein jedes Ding findet sich zur rechten Zeit am rechten Ort:

„Manchmal bin ich nur ein Sänger
doch was wollte ich denn mehr?
Ich bin dann wie ein Schmetterling
Außen bunt und innen leer.“


So finden sich zum Beispiel Lieder. Es finden sich Bilder in Wolken und Winke in Baumkronen. Ein Dingefinder findet immer den richtigen Weg. Der richtige Weg ist der, auf dem er das Richtige findet.

Wie wird jemand Dingefinder?

Dingefinder wird man nicht. Plötzlich ist man es. Du gehst des morgens sinnierend deine gewohnten Pfade. Zur Arbeit, Morgenspaziergang. Und da findest du zum Beispiel eine wundervoll gemaserte Kastanie frisch vom Baum. Dann findest du vier abgebrannte Streichhölzer. Schließlich noch zwei kleine, dicke Eicheln und vier Eichelhütchen. Und eh du dich versiehst, sitzt du am Wegesrand in der Sonne, zückst dein Taschenmesser und bastelst dir ein Fabeltier. Den Esel von den Bremer Stadtmusikanten. Das Mondenkalb. Und schon kommst du zu spät irgendwohin. Oder gar nicht. Deine Freiheit beginnt sich auszuweiten.

Nach einiger Zeit beginnst du damit, das Finden der kleinen Dinge zu kultivieren. Und siehe da: überall lauern kleine Mitbringsel auf dich: Sternchen in verschiedenen Größen und aus verschiedenen Materialien, Eichelhäherfedern, bunte Steine. Ich habe eine Zeit lang andauernd Fahrradklingeldeckel gefunden. Immer wieder Fahrradklingeldeckel. Bis ich mir ein Fahrradklingeldeckelxylophon bauen konnte.

Schließlich merkst du, dass das „ziellose“ Umherstreifen und Dingefinden gepflegt sein will. Dass du Zeit brauchst. Und du siehst immer mehr Tätigkeiten und Bindungen, die dir die Zeit nehmen. Wenn du dich der Zeithabe intensiv hingibst, wirst du irgendwann deine Zeithaberin finden, oder deinen Zeithaber. Je näher du deiner Zeithaberin kommst, um so mehr Dinge wirst du finden, die dir den Weg zu ihr zeigen. Wenn du deine Zeithaberin gefunden hast, seit ihr ein schönes Paar: der Dingefinder und die Zeithaberin. Es ist, als würdest du eine andere Welt betreten.

Ist es jeder und jedem möglich, Dingefinderin oder Dingefinder sein zu können?

Wie kann jemand etwas werden, das nie geworden sein kann? Kann eine Hyazinthe beschließen eine Hyazinthe zu werden? Der Ursprung der Menschheit ist das Dingefinden. Noch einmal: Ohne Zeithabe kein Dingefind. Eine Lebensentscheidung. (Mein Sohn ist in dieser Hinsicht der Meinung, man muss nur zum richtigen Zeitpunkt auf den Boden blicken, alles weitere wird sich finden).


Viel Spaß beim Finden des Zeithabers, der Zeithaberin und beim Dingefinden!

Samstag, 4. März 2023

Das Bunte Nichts

 


Als sie denn alle so beisammen saßen, der Dingefinder, der Sohn, die Zeithaberin, Lümmel-Ricke, all die Tiere, da sagten sie sich, wie man sich in Bremen so sagt: „Etwas besseres als den Tod findest du überall!“ Und sie schauten sich die Welt an, und die Welt schaute sie an, und da sagten sie: „Wohlan, die Schönste biste nicht!“

Gibt es nicht auch die acht lustigen Könige, die Morgenlandfahrer und Kuttel Daddeldu? Ist das denn nichts? Und bunt ist es dazu. So kam das Bunte Nichts zu ihnen. Und das Bunte Nichts fühlte sich wohl bei ihnen, denn es ist gerne da, wo es fröhlich ist. Und seitdem das Bunte Nichts bei ihnen ist, lächelt die Welt.

Du kannst glücklich sein,
solang Du nicht vergisst,
dass jedes Glück
ein Augenblicksglück ist.

Dingefinder & Sohn

P.s.: Wie das Bunte Nichts entstand: Mein Sohn war gerade acht Jahre alt. Ich hielt meinen Mittagsschlaf, hatte jedoch vergessen, meinen Computer auszustellen. So hatte sich mein Sohn des Grafikprogramms bemächtigt und malte still vor sich hin. Unter anderem die obige Grafik. Nachdem ich meinen Mittagsschlaf beendet hatte, schaute ich mir seine Werke an. Als ich fragte, was das Bild oben wäre, antwortete er „Das bunte Nichts“. Da machte ich mir dann einen Reim darauf. . . Später reimten wir auch zusammen über das Bunte Nichts. Doch das ist eine andere Geschichte.

Das Bunte Nichts

Das Nichts ging einsam
durch die Stadt.
Was nicht verwundert,
da das Nichts ja gar nichts hat.
Und niemand sah es einsam gehen.
Auch das ist einfach zu verstehen.
Das Nichts ist weniger als irgendwas,
es ist halt nichts, nicht dies, nicht das.
Nur ein Kind stand da,
mit offnem Mund.
Als einziges sah es das Nichts,
und es sah:
Das Nichts ist bunt.


Kartenspielen

Das Nichts, der Raum und auch die Zeit,
die saßen so zu dritt beim Weine.
Der Raum erging sich da in Langeweile
und schlug deshalb ein Skatspiel vor.
Die Zeit trieb es darauf davon, in großer Eile.
Mit den Worten: „Skat ist nur ein Zeitvertreib,
darum spielt mal schön alleine!“

Das Nichts und auch der Raum,
die nahmen es damit nicht so genau,
und spielten trotzdem Karten,
zwar nicht Skat, aber Maumau.


Die Erschaffung des Nicht-Nichts

Als Gott das Nichts erschuf
(denn erschaffen, das ist sein Beruf),
da sagte er sich: Das ist zwar schön,
so von der einen Seite aus gesehn,
doch aus Gründen der Polarität,
die als Prinzip der Welt besteht,
müsste noch ein Nicht-Nichts entstehn.

Die Muttergottes sagte: Wohlgetan!
Doch wie? Doch wie? fängt man das an?
Du hast zwar (auch aus Polarität)
den Deubel geschaffen, doch wie entsteht
ein Nicht-Nichts
aus Nichts?

Angesichts
dessen, dass es dieses Nicht-Nichts nicht gab
schaffte Gott sich einfach selber ab.

Jedoch war nun das Nichts betrübt,
gewohnt, dass es den Schöpfer gibt,
fühlte es sich doch allein.
(So ein Nicht-Nichts war da kein Ersatz)

Es klagte,
sagte:
So ein Nicht-Nichts ist ja nett,
doch ich hätt´
gern
zurück den alten Herrn.

Dieser ist ein barmherziger Mann,
deshalb schaffte er sich selbst wieder an.
Und ich denke, es ist gut,
daran zu denken, dass sein Hiersein
damit letztlich auf dem Nichts beruht.

Freitag, 3. März 2023

Vom Beschneiden der Flügel

 



Vom Beschneiden der Flügel

Wir beschneiden dir die Flügel, Pegasus,
so wie wir es gelernt haben,
so wie wir beschneiden die Flügel
bei unseren Hühnern, denn
freilaufend sind sie, das ist jetzt
die Mode, wir beschneiden die Flügel,
so wie wir es gelernt haben:
Den einen beschneiden wir etwas,
den anderen noch kürzer, das
nennt man asymetrisch, das ist
modern, so fliegen sie im Kreis,
Pegasus, so wie wir es gelernt haben.

Das Beschneiden der Flügel, Pegasus,
so wie wir es gelernt, Pegasus, dann
laufen sie frei, die Hühner, und fliegen
im Kreise, asymetrisch, das Beschneiden
der Flügel, so wie wir es gelernt,
das haben wir verinnerlicht, das ist
uns zweite Natur, so laufen wir frei, denn
wir wollen, dass du anders bist,
denn jeder Mensch ist anders, das haben
wir gelernt, denn so laufen wir frei, gelernt
ist gelernt, jeder Mensch ist anders,
sagen wir, gelernt ist gelernt, jeder
hat ein Recht auf anders.

Wir beschneiden die Flügel, Pegasus,
denn so laufen wir frei, und fliegen im Kreise,
asymetrisch, so nennt man das,
das ist jetzt die Mode, denn
so anders anders, das ist nicht anders,
Pegasus, wir beschneiden
die Flügel, das haben wir gelernt,
das fliegt nur im Kreise, der eine kurz,
der andere noch kürzer,
Pegasus, denn wer die Lehrbücher liest,
der ist ein Wissender, das haben wir gelernt,
so anders, wir nennen es asymetrisch,
denn dann laufen wir frei, und sei einmal
ehrlich mit dir: Wo schon gibt es ein Pferd
mit Flügeln in der Natur. Nichts davon steht
in unseren Lehrbüchern, so anders anders.
Gelernt ist gelernt.

Das Bild „Pegasus“ ist von Jerzy Hulewicz Dziewczyna (1886 - 1941), im von den Deutschen besetzten Warschau gab er im Untergrund Zeitschriften heraus. Er starb unerwartet in Warschau. Die meisten seiner Werke fielen während des Warschauer Aufstandes 1944 den Flammen zum Opfer.

Donnerstag, 2. März 2023

Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche: Igitt! Prinzipien!

 


Igitt! Prinzipien!


„Das sind meine Prinzipien.
 Wenn sie ihnen nicht passen,
 ich habe auch andere.“

Groucho Marx

Wir sagen Igitt! wenn wir ´Oh Gott!´ nicht aussprechen wollen.“ Auf diesen kleinen Satz, den ich ungefähr wiedergebe, stieß ich beim Durchblättern eines Buches am Morgen. Es war dieses flüchtige Durchblättern, ziellos, und es war ein Buch aus einem Stapel anderer, ich suchte mir eine Lektüre für einige ruhige Stunden an diesem Morgen. Etwas zum Entspannen, die Zeit zu überbrücken. Es war ein Montagmorgen, und ich kam einmal wieder nicht in den Tag und in die Woche hinein. In solchen Situationen versuche ich ruhig zu bleiben und mir etwas Ablenkung zu verschaffen, sofern es meine Zeit zulässt. An diesem Morgen war nichts wirklich Dringliches auf dem Plan. Der Besuch bei einer nahen Baumschule wurde aus verschiedenen Gründen auf den Folgetag verschoben, und dass noch eine Kiste Biopfirsiche, welche ich geschenkt bekam, neben anderen Früchten der Verarbeitung harrten, war auch nicht von der Notwendigkeit, dass es sofort geschehen müsste.

So durchblätterte ich Buch um Buch, aus einer Bücherkiste hier im Haus, auf der Suche nach etwas, das mich reizte. Doch ich sollte an diesem Morgen unlesend bleiben. Aus dem ganzen Bücherstapel blieb als einziges die Erinnerung an diesen Satz hängen.

Es gab Zeiten, da hätte ich in Zeiten der Motivationslosigkeit immer etwas gefunden, dass ich mir vor Augen hätte halten können, entweder ein Buch, oder eine Illustrierte, oder das Umherschweifen in den Weiten des Internets. Doch es ist wohl so, Gewohnheiten ändern sich. Nichts davon sprach mich an diesem Montagmorgen an, so, wie es schon oft geschehen war in den letzten Wochen und Monaten.

Was nicht heißt, dass ich weniger gerne lese als früher. Ich lese nur einfach anders. Schon aus dem Grunde, dass mich weniger Lektüre zu fesseln vermag. An diesem Morgen blieb mir dann doch nichts anderes übrig, als dass ich mich dem Abwasch und dem Kochen von Wildbirnengelee (mit Ingwer) widmen durfte. Alles andere war langweiliger als die Langeweile selbst. Und wie das meist so ist, hat man erst einmal begonnen mit dem Tagewerk, dann kommt der Spaß auf dem Fuße.

In der blauen Waschschüssel hockte einmal wieder eine große schwarzbraune Wolfsspinne, ein stattliches Exemplar, weiß der Deubel, wie die dort hinein gekommen ist. „Igitt“ dachte ich und komplementierte das Tierchen aus dem geöffneten Küchenfenster in den Garten. Da hatte ich dann etwas zum Nachdenken bei den einfachen manuellen Tätigkeiten. Hallte doch der im Buch erblätterte Spruch in meinem Inneren nach: „Igitt“ sagt, wer „Oh Gott!“ nicht auszusprechen mag. Dieses Wort kommt aus einer Zeit, in dem das Wort „Gott“ noch einen heiligen Namen markierte, etwas dass nur sakral und nicht unbedacht ausgesprochen werden durfte. In dieser Scheu lag ein Prinzip, und wie das oft ist mit Prinzipien, wenn sie etwas Instinktives unterdrücken sollen, dann suchen sie sich Wege, um doch noch dem Instinkt seinen Ausdruck finden zu lassen.

Es ist in etwa so, wie mit dem Rabbi, der einkaufen ging: „Ich hätte gerne etwas von dem Fisch dort!“ - „Das ist kein Fisch, das ist Schinken!“ - „Ich wollte nicht den Namen von dem Fisch wissen, ich wollte ihn kaufen!“

Wie ist das denn so mit meinen Prinzipien? Immer, wenn ich welche für mich selber postulieren wollte, sei es im Bereich der Ernährung, sei es im Planen der Tages- und Arbeitsabläufe, sei es in Bezug auf das Rauchen, nun ja, letztlich brachen sich die liebgewordenen Gewohnheiten doch wieder Bahn. „Igitt!“ Solange, bis ich damit auf hörte, mich selber unter Druck zu setzen. Und siehe da: Statt zum Buch, zu irgendeinem Buch, nur um irgendwelche kleinen schwarzen Buchstaben vor Augen zu haben, greife ich zum Putzschwamm und zum Kochlöffel. Wie einfach das doch letztlich ist, so ohne Prinzipien.

Geschrieben September 2014. Da war ich gerade einmal vier Monate in meiner neuen Wahlheimat Fredelsloh. Ich bekam damals auch einen Kommentar, bezogen auf die Spinne: Bei der "Wolfsspinne" handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine "Hausspinne", Tegenaria atrica, die zur Gattung der Winkelspinnen gehört. Sie werden ziemlich groß, sehen zwar erschreckend aus, tun uns jedoch reineweg sonst gar nichts. Man nähere sich ihnen schön langsam in Zeitlupe mit einem Glas, das man dann schnell und gezielt über sie stülpt, schiebt ein Stück festes Papier drunter und kann sie dann in aller Ruhe im Geländer aus dem Haus befördern.“ (Kleine Bärin)


Mittwoch, 1. März 2023

Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche: Der Stuhl zwischen allem

 


Der Stuhl zwischen allem

Morgenspaziergang. Am Wegrand ein Ahorn mit sieben Stämmen. Er wäre mir vielleicht nie in dieser Deutlichkeit aufgefallen, wenn nicht irgendwer einen Stuhl, mit blauer Sitzfläche und blau gepolsterter Lehne, zwischen diese Stämme drapiert hätte.

Als ich mich nun in Gedanken auf diesen blauen Stuhl nieder ließ, sprach der erste der sieben Stämme, der kräftigste, zu mir mit seiner stimmlosen Stimme: "Die Welt ist alt genug, sie weiß, wie sie sich rettet".

Und der zweite der Stämme flüsterte zu mir: "Sterben tust Du sowieso".

Der dritte der Stämme rief mir zu: "Deine Kinder werden ihren Weg gehen. Zur Not auch mit Deinen guten Ratschlägen."

Der vierte darauf: "Dir ward gegeben, Dir ward genommen. Was gibst Du? Was nimmst Du?"

Der fünfte, wie Blätterrauschen: "Rufe den Wind, und er wird wehen. Rufe die Sonne, und sie wird scheinen. Rufe die Nacht, und die Finsternis erblüht. Rufe die Engel, und sie werden sprechen. Rufe den Tag und er wird kommen. Möge Dein Ruf ein großer Gesang sein!"

Der sechste darauf brach in schallendes Gelächter aus und rief: "Geh mir aus der Sonne, auch wenn es der Mond ist!"

Und der siebente endlich, welcher der feinste und zarteste war: "Trage den Gürtel der Nacht, wenn Du zur Liebsten gehst!"

So hatte ich genügend zu bedenken an diesem Tag.


Novalis - Aus: Die Lehrlinge zu Sais

 


Novalis – Aus: Die Lehrlinge zu Sais

Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alkahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu sein. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher, vor ihren Blicken.

Von weitem hört ich sagen: die Unverständlichkeit sei Folge nur des Unverstandes; dieser suche, was er habe, und also niemals weiter finden könne. Man verstehe die Sprache nicht, weil sich die Sprache selber nicht verstehe, nicht verstehen wolle; die echte Sanskrit spräche, um zu sprechen, weil Sprechen ihre Lust und ihr Wesen sei.

Nicht lange darauf sprach einer: »Keiner Erklärung bedarf die heilige Schrift. Wer wahrhaft spricht, ist des ewigen Lebens voll, und wunderbar verwandt mit echten Geheimnissen dünkt uns seine Schrift, denn sie ist ein Akkord aus des Weltalls Symphonie.«

Von unserm Lehrer sprach gewiss die Stimme, denn er versteht die Züge zu versammeln, die überall zerstreut sind. Ein eignes Licht entzündet sich in seinen Blicken, wenn vor uns nun die hohe Rune liegt, und er in unsern Augen späht, ob auch in uns aufgegangen ist das Gestirn, das die Figur sichtbar und verständlich macht. Sieht er uns traurig, daß die Nacht nicht weicht, so tröstet er uns, und verheißt dem emsigen, treuen Seher künftiges Glück. Oft hat er uns erzählt, wie ihm als Kind der Trieb die Sinne zu üben, zu beschäftigen und zu erfüllen, keine Ruhe ließ. Den Sternen sah er zu und ahmte ihre Züge, ihre Stellungen im Sande nach. Ins Luftmeer sah er ohne Rast, und ward nicht müde seine Klarheit, seine Bewegungen, seine Wolken, seine Lichter zu betrachten. Er sammelte sich Steine, Blumen, Käfer aller Art, und legte sie auf mannigfache Weise sich in Reihen. Auf Menschen und auf Tiere gab er acht, am Strand des Meeres saß er, suchte Muscheln. Auf sein Gemüt und seine Gedanken lauschte er sorgsam. Er wusste nicht, wohin ihn seine Sehnsucht trieb. Wie er größer ward, strich er umher, besah sich andre Länder, andre Meere, neue Lüfte, fremde Sterne, unbekannte Pflanzen, Tiere, Menschen, stieg in Höhlen, sah wie in Bänken und in bunten Schichten der Erde Bau vollführt war, und drückte Ton in sonderbare Felsenbilder. Nun fand er überall Bekanntes wieder, nur wunderlich gemischt, gepaart, und also ordneten sich selbst in ihm oft seltsame Dinge. Er merkte bald auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen, Zusammentreffungen. Nun sah er bald nichts mehr allein. – In große bunte Bilder drängten sich die Wahrnehmungen seiner Sinne: er hörte, sah, tastete und dachte zugleich. Er freute sich, Fremdlinge zusammenzubringen. Bald waren ihm die Sterne Menschen, bald die Menschen Sterne, die Steine Tiere, die Wolken Pflanzen, er spielte mit den Kräften und Erscheinungen, er wusste wo und wie er dies und jenes finden, und erscheinen lassen konnte, und griff so selbst in den Saiten nach Tönen und Gängen umher.

Was nun seitdem aus ihm geworden ist, tut er nicht kund. Er sagt uns, daß wir selbst, von ihm und eigner Lust geführt, entdecken würden, was mit ihm vorgegangen sei. Mehrere von uns sind von ihm gewichen. Sie kehrten zu ihren Eltern zurück und lernten ein Gewerbe treiben. Einige sind von ihm ausgesendet worden, wir wissen nicht wohin; er suchte sie aus. Von ihnen waren einige nur kurze Zeit erst da, die andern länger. Eins war ein Kind noch, es war kaum da, so wollte er ihm den Unterricht übergeben. Es hatte große dunkle Augen mit himmelblauem Grunde, wie Lilien glänzte seine Haut, und seine Locken wie lichte Wölkchen, wenn der Abend kommt. Die Stimme drang uns allen durch das Herz, wir hätten gern ihm unsere Blumen, Steine, Federn alles gern geschenkt. Es lächelte unendlich ernst, und uns ward seltsam wohl mit ihm zumute. »Einst wird es wiederkommen«, sagte der Lehrer, »und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden auf.« – Einen schickte er mit ihm fort, der hat uns oft gedauert. Immer traurig sah er aus, lange Jahre war er hier, ihm glückte nichts, er fand nicht leicht, wenn wir Kristalle suchten oder Blumen. In die Ferne sah er schlecht, bunte Reihen gut zu legen wusste er nicht. Er zerbrach alles so leicht. Doch hatte keiner einen solchen Trieb und solche Lust am Sehn und Hören. Seit einer Zeit, – vorher eh jenes Kind in unsern Kreis trat, – ward er auf einmal heiter und geschickt. Eines Tages war er traurig ausgegangen, er kam nicht wieder und die Nacht brach ein. Wir waren seinetwegen sehr in Sorgen; auf einmal, wie des Morgens Dämmerung kam, hörten wir in einem nahen Haine seine Stimme. Er sang ein hohes, frohes Lied; wir wunderten uns alle; der Lehrer sah mit einem Blick nach Morgen, wie ich ihn wohl nie wieder sehen werde. In unsre Mitte trat er bald, und brachte, mit unaussprechlicher Seligkeit im Antlitz, ein unscheinbares Steinchen von seltsamer Gestalt. Der Lehrer nahm es in die Hand, und küsste ihn lange, dann sah er uns mit nassen Augen an und legte dieses Steinchen auf einen leeren Platz, der mitten unter andern Steinen lag, gerade wo wie Strahlen viele Reihen sich berührten.

* * * 

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew´gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Novalis (1772 - 1801)

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)