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Donnerstag, 1. Juni 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (IX)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (IX)


Vergänglichkeit ist. . .   -  Ich schrieb es hin

I

Regen rinnt, Träne rinnt,
und ich werde wieder Kind,
allein, allein, im Krankenhaus,
Eltern, Schwestern fuhren raus,
Ferien in Österreichens Bergen,
bei Schneewittchen und den Zwergen,

Regen rinnt, Träne rinnt,
und ich werde wieder Kind,
allein, allein im Krankenhaus,
zwei Finger knacken eine Laus,
Ende der Geschichte, aus


II

Freiheit als Blume,
blau, leuchtend, schön,
da hindurch

lassen sich
die Sphären sehn,
da hindurch
lassen sich die Sphären schauen,
in die Weiten,
in die weiten Himmel,
die blauen

Kein Sehnsuchtsort,
in meiner Jugend mir real,
noch konnte ich sie treffen,
und ich traf die Wahl,
wählte die Wälder,
die Gärten,
die Auen,
wählte Reime
und die Blumen,
die blauen

Wählte Wanderschaft,
und Heimkehr wieder,
wählte Gesang,
sang die neuen Lieder,
wählte Einsamkeit,
und Gemeinschaft auch,
wählte alten und neuesten Brauch,
werde noch mancherlei Wunder
im Alter sehn -
Freiheit als Blume,
blau, leuchtend, schön

(„Freiheit als Blume / blau, leuchtend, schön“, so begann ein Gedicht das ich als Sechzehnjähriger schrieb. Leider ist es verschollen, und nur die Anfangszeilen sind mir geläufig. Also schrieb ich es im Alter noch einmal neu.)


Wortfindungen

sardonisch

lakonisch

levkojisch

sardonisch -
auch wenn ich des öfteren Frohnatur bin
lasse ich mich nicht verleiten
zu einem gehässigen Lachen
in mich hinein,
genausowenig wie
ich mich von Spottgelächter
anstecken lasse

das sage ich lakonisch:
ich wähle die Worte, die steten,
in levkojisch hellen Beeten

(„Du sprichst. Dein Blut erduftet den Armen in levkojischen hellen Beeten“, heißt es in einem Gedicht von Ludwig Rubiner)


Trinke die Neigen
etwas
bleibt immer über

singe im Chor
die verblichenen
Lieder

lenke dein Boot
in die sorgsam verminten
Häfen

nur
verschweige es,
du hattest

oft genug
"Nein" gesagt.
Trinke die Neigen


Ainialem

Hirngespinste
in der Petrischale der Spezialisten
Fahrverbot wird erteilt
auf dem Holzweg
verloren
in den Weiten
der Milchstraßen
als Gabe Gottes
der Wachmann beginnt zu schlafen
hinter den geschlossenen Lidern
öffnet Tore das Schlaraffenland
als wäre weit zu fliegen
eine Lösung
dem Pulverrauch zu entkommen
Augen senken sich über
die Petrischale
ist die Sezession
der Seele geglückt?

(Ainialem ist ein finnischer weiblicher Vorname und bedeutet „Auge der Welt“)

Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der neunte Teil.

Die Illustration ist von Ivan Bilibin (1876 - 1942)

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