Aus alten Märchen winkt es
Hervor mit weißer Hand,
Da singt es und da klingt es
Von einem Zauberland.
Wo große Blumen schmachten
Im goldnen Abendlicht
Und zärtlich sich betrachten
Mit bräutlichem Gesicht – – –
Bertha Pappenheim, aus: Der Wunderrabbi (1916)
Die Weihernixe
Der sonst belebteste Teil der Promenaden, welche die Stadt, wie mit einem freundlichen Rahmen einfassen, lag einsam und stille da im Dunkel einer trüben Februarnacht.
Leichter Wind strich über den Weiher am Wege und die weißen Schneewolken, die am Himmel jagten, spiegelten sich noch krauser in den bewegten Wellchen. Selten nur unterbrach der im Sande knirschende Schritt eines Vorübergehenden die Stille und deutlich tönten aus einem der gegenüber liegenden Häuser die Klänge einer Tanzweise. Plötzlich bewegte sich die Oberfläche des Wassers heftiger und auf derselben erschien das lauschende Gesicht eines Nixchen, das durch die Töne an die Oberfläche gelockt worden war. Scheu blickte sie um sich. Als sie gewahrte, daß der Kopf, der an einem Brunnen am Rande des Weihers in Stein gehauen war, sie heute noch boshafter angrinste als sonst, wenn sie es wagte, den dunklen Grund ihres Heims zu verlassen, da tauchte sie erschrocken wieder unter. Allein nicht für lange. Man hatte im Tanzsaale ein Fenster geöffnet. Verstärkt drangen die heiteren Weisen zum Weiher herüber, und mit unwiderstehlicher Gewalt zogen sie die kleine Nixe herbei.
Durch ein Büschel Schilf vor den Augen ihres steinernen Beobachters geschützt, richtete das Nixchen neugierig seine Blicke nach dem Hause, dessen beleuchtete Fenster und die an denselben vorbeischwebenden Gestalten keinen Zweifel darüber ließen, daß sich die Menschen dort dem Vergnügen des Tanzes hingaben.
Wie schön müßte es sein, dachte das Nixchen, einmal, wenn auch nur kurze Zeit, das kalte Element zu verlassen und im hell erleuchteten Saal, umrauscht von Musik, von warmer Hand geführt, dahin zu fliegen.
Sie vergaß, welch' harte Strafe daraufgesetzt war, wenn eine der Töchter das Nixenreich verließ und von den Menschen erkannt wurde.
Von ihrem Wunsche fast unbewußt bewegt, aber dennoch zögernd, näherte sich die Nixe dem Ufer und mit einem Male alles vergessend, nichts bedenkend, verließ sie ihr Reich und huschte einem Nebelreif gleich über die Straße zur Terrasse des Wintergartens, woher die Klänge kamen. Leise schlüpfte sie hinein, und, versteckt hinter einer Gruppe von Palmen und blühenden Camelien beobachtete sie das bunte Treiben im Saale.
Die Menschen wirbelten an ihr vorbei doppelt schön im Glanze heiterer Farben und der Festesfreude. Sie lächelten und nickten, sprachen, fächelten und winkten; unverständlich schien's und doch verstanden. Das Nixchen hatte lange unbemerkt in seinem Versteck gestanden. Die ungewohnte Atmosphäre, die Wärme, das Licht, der Blumenduft, dies alles hatte sie betäubt, unfähig gemacht, anderes zu denken, als den einen Wunsch, der sie nun ganz erfüllte: Wenn nur Jemand käme und mich zum Tanze führte!
Darüber vergaß sie ihr Fremdsein, ihre Schüchternheit und stand plötzlich in ihrem langen weißen Kleide, mit aufgelöstem Haar, darin noch Wassertropfen funkelten, in den Reihen der tanzlustigen Mädchen. Diese ließen sich in ihrer Lustbarkeit wenig stören. Bald war eine nach der andern mit ihrem Tänzer verschwunden und das Nixchen meinte schon allein bleiben und vor Scham darüber vergehen zu müssen, als sie mehr fühlte, als sah, daß sich ihr jemand näherte, um sie zum Tanze zu holen.
Es war ein großer, schöner Mann; ein langer Bart umrahmte sein Gesicht, und tief dunkelblaue Augen sprachen aus demselben von Liebe und Güte. Sie blickte nicht auf. Er umfaßte sie, und dahin rasten sie nach den Weisen und Tönen, die ihrem Ohr berauschender und berückender klangen denn je. Ob er wohl wußte, mit wem er tanzte?! Ob er wußte, daß sie dem kalten unnahbaren Elemente angehöre, das sie nicht straflos verlassen durfte!?
Sie hatten lange getanzt, wortlos geruht, sich immer neuerdings in den Reigen gestürzt, bis die Zahl der Paare sich verringerte, und die Musik endlich verstummte.
Als das Nixchen wieder in der Nähe des Wintergartens war, da wollte es sich ein Herz fassen und seinem Tänzer danken. Sie blickte auf zu ihm, während sie schüchterne Worte sagen wollte – da sah er, daß sie grüne Augen hatte, Augen so grün, wie das Schilf am Weiher. Da fuhr ein Schaudern durch den Mann, und er wandte sich ab, denn er wußte, mit wem er getanzt hatte, und das Nixchen wußte, nun war es vorbei!
Sie floh, um eilend dahin zu kehren, woher sie gekommen war – – dem Weiher zu.
Doch was mußte sie erfahren: sie hatte sich länger als sie vermutet, bei den Menschen aufgehalten, – stundenlang. Indessen hatte der Nordwind gewütet, der Frost hatte eine starre Decke über das Wasser gelegt und das Nixchen konnte nicht zurück in ihr Heim. Hei, wie da der Kopf am Brunnen höhnisch lachte, als er sie verzweifelt am Ufer irren sah.
Müde war sie; der Sturm wühlte in ihren Haaren und Gewändern und dichter und dichter wurde die Eisdecke, die sie von ihren Schwestern trennte. Der Morgen graute, es fing an zu schneien, und das Nixchen setze sich endlich erschöpft an den Boden, den Kopf gegen einen Stein gelehnt. Leise, leise wirbelten die Schneeflocken nieder, alles bedeckend, wie in mildem Erbarmen auch die kleine Nixe.
Frost und Kälte dauerten lange. Als nach Wochen endlich die Sonne Kraft gewann, und die Schneedecke fortschmolz, da sah der steinerne Kopf am Brunnen ein zartes Pflänzchen, das bei dem Stein am Weiher hervorgrünte: ein Schneeglöckchen.
(um 1888)
Bertha Pappenheim, geboren am 27. Februar 1859 in Wien, gestorben am 28. Mai 1936 in Neu-Isenburg, Schriftstellerin, Publizistin und Frauenrechtlerin. Sie war die Patientin Anna O. Die von Josef Breuer zusammen mit Sigmund Freud in den Studien über Hysterie veröffentlichte Fallgeschichte war für Freud Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Theorie der Hysterie und damit der Psychoanalyse. Die wahre Identität der Anna O. wurde erst 1953 bekannt.
Nach ihrem Umzug nach Frankfurt im Jahre 1888, der Heimatstadt ihrer Mutter, veröffentlichte sie verschiedene Kinderbücher und begann ihre soziale Arbeit. 1895 wurde sie Heimleiterin im jüdischen Mädchen-Waisenhaus, gründete 1902 den Israelitischen Mädchenclub und 1904 den Jüdischen Frauenbund. 1907 wurde das Heim in Neu-Isenburg bei Frankfurt eröffnet. Sie unternahm Reisen nach Galizien und Nahost, auf denen sie sich über die dortige Lage der jüdischen Bevölkerung informierte und darüber Berichte veröffentlichte. Ganz besonders interessierte sie sich überall für die Situation der Frauen. Schon 1901 hatte sie an einer Konferenz zum Thema Mädchenhandel teilgenommen, und 1923 wandte sich der Jüdische Frauenbund im Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution sogar an den Völkerbund.
Am 16. April 1936 folgte Bertha Pappenheim, schon von tödlicher Krankheit gezeichnet, einer Vorladung der Gestapo nach Offenbach. Zwar konnte sie alle Beschuldigungen widerlegen, aber nach ihrer Rückkehr nach Isenburg verließ sie ihr Bett nicht mehr und starb am 28. Mai 1936. Der Jüdische Frauenbund wurde 1938 zwangsweise aufgelöst, die Heime in Neu-Isenburg 1942 geschlossen und die darin Wohnenden in die Vernichtungslager deportiert.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen