Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (X)
Gamayun
Traumbaum, blütenübersät, Wurzeln, die tief
in die Sterne greifen, in Milchstraßen reichen,
das Urweltgeflecht verwobenen Geästes nährend,
in dessen Gewebe der Spötter lebt,
ein Orpheusspötter, um ornitologisch genauer zu sein
Welche Geister wer auch rief,
keine Zeit wird der anderen gleichen,
nur Gamayun ist immerwährend,
die in ihre Nester die Lieder webt,
und sie gibt diese dem Sänger ein
Für Traumbaumwünsche ist es zu spät,
zu viele, die durcheinander schwätzen,
Kriege ausrufen, neue Zeitalter deklarieren,
verwirren, verirren, mit Sprache, mit Worten,
Gamyun verflog sich von Osten nach Westen
Inmitten - Ein rauherer Wind ist´s, der weht,
und viele sind da, nur zu verletzen,
viel Weihrauch um nichts, die Zukunft versetzen
für ein Linsengericht
- welches Lied hat noch Gewicht?
(Gamayun ist ein prophetischer Vogel aus der ostslawischen Folklore. Ähnlich wie Alkonost und Sirin wird sie als großer Vogel mit Kopf einer schönen Frau vorgestellt, die in der Nähe von Iriy lebt. Als Botin Gottes Veles verbreitete sie göttliche Botschaften und Prophezeiungen an alle, die sie hören konnten. Sie wusste alles über die Erschaffung von Himmel und Erde, Götter, Helden, Kreaturen, Tiere und Vögel. Wenn sie aus dem Osten fliegt, könnte sie tödliche Stürme bringen.)
Für C. M. (Falls er mich dort oben hört)
Du musst, lieber Freund,
erst einmal Narr werden.
Der Narr, die Karte ohne Zahl.
Wenn Du als Narr nichts Ernstes schreibst,
dann musst Du halt sehen,
wo Du bleibst.
(Im Himmel und auf Erden)
Der Dichter Herr von Pampelmus
gab seiner Liebsten einen Kuss.
Hand aufs Herz lud er sie ein:
Willst du meine Pampel-Muse sein?
Es wird nichts so heiß gegessen,
wie es gekocht wird.
Es wird sowieso nur das gegessen,
was gemocht wird
Wer lebt, hat Recht!
Kein Nein!
Kein Ja!
Keinen Kotau
Kein Schicksal
und kein Ungeschicktes
Kein Ja!
Kein Nein!
Kein Ungenau
Man blickt es
Oder knickt es
Geboren in der Zeit zwischen irgendwelchen Kriegen,
nach dem letzten großen, denn es ist immer irgendwo Krieg,
über den letzten großen wurde eine Decke des Schweigens gelegt,
ach so vieles wird immer verschwiegen:
Sie nannten es eine Art Frieden,
denn einer der Kriege war kalt,
ansonsten hatten sie alles vermieden,
das Gedenken an die letzten Schüsse war schnell verhallt
Oder anders: Schnell verdrängt,
dass das Habeviel
am Leben von Habenichtsen hängt,
fürs Leben nur ein Schnellgericht
aus der Tiefkühltruhe,
Körper satt, doch Seele nicht,
trotzdem: erst mal Ruhe,
das Leid der Welt findet irgendwie da draußen statt,
man hebt weder Hand noch Stimme, eben: satt
Es muss Verrückte wie uns geben,
damit die Welt bestehen kann.
Wir hüten unser aller Leben
mit einem Gegenbann
Es gibt Bilder, die machen nicht warm:
Ein Mann hält einen kleinen Hund im Arm,
sieht so nett aus, und trägt die Uniform der Töter
verstörender könnte es für mich nicht sein,
kuschelt mit dem Kleinen und später
schießt er in die Menge hinein
Es gibt ein Traurigsein, das wichtig ist,
und niemand rede mir dann ein,
dass etwas andres richtig ist,
oft braucht es eine Zeit allein
Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der zehnte Teil von insgesamt dreizehn.
Die Illustration „Gamayun - The prophetic bird“ (1897) ist von Viktor Vasnetsov (1848 - 1926)
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