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Montag, 20. März 2023

Maisblatt

 


Eine meiner Schwestern schenkt mir, ich glaube zu meinem elften Geburtstag, ein Buch mit dem Titel „Blauvogel - Wahlsohn der Irokesen“ von Anna Jürgen.

Es handelt von Georg Ruster, dem Blauvogel, welcher in Anna Jürgens gleichnamigen Buch im Jahre 1755 zu Zeiten des Krieges der Engländer und Franzosen um den nordamerikanischen Kontinent von den Irokesen als Neunjähriger erst gefangen und dann an Sohnes statt angenommen wird. Die Autorin schildert sehr einfühlsam das Hineinwachsen des Zöglings in die so andere Kultur der Irokesen, verglichen mit der der weißen Siedler, eine Kultur, in der zum Beispiel Kinder niemals gezüchtigt und geschlagen wurden, etwas das bei den Siedlern gang und gäbe war. Georg Ruster lebt sich mit der Zeit als Blauvogel ganz in diese Kultur ein. Ich las dieses Buch mit Begeisterung, ich las es, und ich fand mich darin wieder. Und obwohl es ein Jugendbuch ist, nehme ich es auch heute noch gerne zur Hand, um darin zu lesen.

Es gibt viele Eindrücke aus diesem Buch, welche mich prägten. Doch eine der Szenen, die mich mit am nachhaltigsten prägten, ist die folgende:

„Die Lenape sagen, wir müssten uns mit den Franzosen zusammentun und gemeinsam mit ihnen die Engländer verjagen. Glaubst du, dass wir im Bunde mit den Franzosen die Rotröcke besiegen können?“

„Ich weiß nicht, mein Onkel. Aber der Vater meint, die Franzosen wären ebenso schlimm wie die anderen Weißen.“

„Die Lenape sagen, mit ihnen wäre besser auszukommen. Wenn wir mit ihrer Hilfe die Engländer vertrieben hätten, würde es für uns leichter werden.“

Hartnäckig kehrte der Rauchige Tag zu diesem Gedanken zurück; er klammerte sich an diese Vorstellung wie an eine letzte Hoffnung.

. . .

Der Häuptling erhob sich von seiner Matte, winkte Blauvogel und half ihm zum Dachboden hinauf. Der Junge musste eine alte, abgewetzte Ledertasche hervorkramen, die ziemlich weit hinten lag. Der Vater nahm die Tasche, setzte sich wieder zum Rauchigen Tag, öffnete die Klappe und holte eine Schere hervor. Dieses Gerät war irgendwann einmal hierhergeraten und auf den Boden gewandert, weil sich niemand an dieses sonderbare Klappmesser gewöhnen konnte.

Der Onkel hatte solch ein Ding überhaupt noch nicht gesehen und verbarg kaum sein Erstaunen. Mit beiden Händen öffnete der Vater die Schere: „Du siehst hier zwei Messer, die sich gegeneinander bewegen wie zwei Krieger. Man glaubt zuerst, sie treffen aufeinander und vernichten sich gegenseitig, aber“ - Kleinbär schloss die Schere - „sie reiben sich nur; dann gehen sie aneinander vorbei und tun sich gar nichts. Sobald man aber etwas dazwischensteckt, zerschneiden sie es in kleine Stücke.“

Der Vater legte ein Maisblatt zwischen die geöffneten Schneiden, klappte die Schere zu und ließ die getrennten Hälften in den Schoß des Onkels fallen. Der Rauchige Tag griff nach dem zerteilten Blatt, setzte es zusammen, nahm es wieder auseinander, prüfte die scharfen Schnittränder und schüttelte den Kopf. Er bat sich die Schere aus und zerschnitt die Blattfetzen noch einmal. Stumm reichte er das Gerät zurück.

Da nahm der Vater wieder das Wort: „Die beiden Messer sind die Engländer und Franzosen. Sie wenden sich gegeneinander, doch sie vernichten sich nicht. Sie zerschneiden nur das Maisblatt, das zwischen sie gerät, und das Maisblatt sind wir, die roten Stämme. Wir werden zwischen den beiden Parteien der Weißen zerschnitten. . . .“

Anna Jürgen ist das Pseudonym der Schriftstellerin Anna Müller-Tannewitz geb. Tannewitz (* 18. August 1899 in Immekeppel; † 1988 oder 1989 in Bad Urach) Blauvogel ist das einzige Buch von ihr, welches unter diesem Pseudonym veröffentlicht wurde.

Das Foto zeigt das Innere des Langhauses - Iroquoian Village, Ontario, Kanada. Das Irokesendorf aus dem 15. Jahrhundert wurde an seinem ursprünglichen Standort rekonstruiert. Dieses Dorf liegt an der traditionellen Grenze zwischen den Wendat (Huron) im 13., 14. und 15. Jahrhundert und den Attiwandaron (Neutralen) im 15., 16. und 17. Jahrhundert. Gemäß den archäologischen Fakten wurde dieses Gebiet von Vorfahren dieser beiden Nationen zu verschiedenen Zeiten bewohnt.

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