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Dienstag, 7. März 2023

Die neue Jugend - Aus dem ersten Heft, März 1914

 


Im März 1914 kam die erste Ausgabe der Zeitschrift Die neue Jugend heraus, eine „Zeitschrift für moderne Kunst und jungem Geist“, herausgegeben von Heinz Barger und Friedrich Hollaender. Diese Ausgabe kam im Outfit einer Schülerzeitung daher, die Beiträge auf einer Schreibmaschine geschrieben und mit handgezeichneten Illustrationen.

Friedrich Hollaender (1896 - 1976) sollte später als als Revue- und Tonfilmkomponist Berühmtheit erlangen. Er sollte nur bis zum sechsten Heft an dem Projekt beteiligt sein. Schon ab dem siebten Heft übernahm der Schriftsteller und Verleger Wieland Herzfelde (1896 - 1988) die Schriftleitung.1916 erwarb er für 200 Mark die Rechte an der Zeitschrift. Unter seiner Ägide entwickelte sich Die Neue Jugend zu einer wichtigen Zeitschrift des Expressionismus in seiner pazifistischen Ausrichtung. Ab da arbeiteten Künstlerinnen und Künstler wie John Heartfield (der Bruder von Wieland Herzfelde), Else Lasker-Schüler, Georg Grosz, Albert Ehrenstein, Franz Jung und andere für die Zeitschrift. 

Ich habe hier einmal eine Auswahl von Texten aus dem ersten Heft der Zeitschrift zusammengestellt, als ein Zeitdokument des progressiven Teiles der Jugendbewegung.

Erstes Heft 1914

Vorwort

Jungen Literaten nicht nur, sondern vor allem denen, die moderne Kunst und junger Geist interessiert, denen die frei von Philisterie und Prüdheit sind, werden diese Hefte herausgegeben. All´ die Leiden und Wonnen, die die Jugend erfüllen, was sie bewegt und beruhigt, was ihr jedoch verständlich auszusprechen versagt blieb, soll hier durch ausdrucksfähige Vertreter Worte finden. - Jugend soll diese Werke nicht entschuldigen, soll vielmehr auf die Möglichkeit der geistigen Ausreifung hindeuten. -

Wir bemühen uns natürlich, in den Heften nichts zu veröffentlichen, was nicht zumindest den schlummernden Kern einer Persönlichkeit birgt. Insofern heben wir diese Zeitschrift auf das Niveau einer begründeten Notwendigkeit.

Eine Honorierung der uns eingesandten Beiträge findet im Prinzip nicht statt. -

Einen Rahmen kennt unsere Zeitschrift nicht - so wie wir auch keine Kampfzeitung bedeuten wollen.

Und doch gilt unser Kampf als ein heiliges - wenn anders das Abstreifen erstickender Tradition kämpfen heisst. -

Kommentarlos im Übrigen werfen wir unser erstes Buch aus.

Heinz Barger, Friedrich Hollaender, Berlin, im Februar 1914


Die „Neue Jugend“

1.

Als im Mai 1913 das erste Heft des „Anfang“, Zeitschrift für die Jugend, erschien, wurde die Allgemeinheit auf die Jugendbewegung aufmerksam und fiel über sie her. Zuerst wollte sie die Jugendbewegung leugnen; aber unbekümmert um des Publikums Gekläff schritt die Jugend auf ihrem Weg weiter. Großes hatte sich schon in diesem ersten Jahre des öffentlichen Arbeitens einer neuen Jugend ereignet: Größeres blieb noch, ist noch unabsehbar. -

2.

Die akademische Freischar, Wandervögel und neuzeitliche Landschulheime veranstalteten im Oktober 1913 den „Ersten freideutschen Jugendtag“ auf dem hohen Meißner. Wie vor hundert Jahren auf dem Wartburgfest die Burschenschaften für ein neues Deutschland eintraten, streben diese Jugendbünde nach einer „Lebensführung, die jugendlichem Wesen entspricht, die es ihr aber zugleich auch ermöglicht, sich selbst und ihr Tun ernst zu nehmen und sich als einen besonderen Faktor in die allgemeine Kulturarbeit einzugliedern.“ So hieß es in dem Aufruf zum freideutschen Jugendtag; und das ist auch das Ziel der heutigen Jugend. Eine Jugendkultur.

3.

Um aber positive Beiträge zur Kultur der Jugend zu bringen, sind wir auf die Zeitschriften angewiesen, die sich allein aus Beiträgen Jugendlicher zusammensetzen. So: Der „Anfang“, „Neubild“ und die „Neue Jugend“. In diesen Zeitschriften kann die Jugend unbevormundet zu Worte kommen, hier hat sie eine Stimme, um ihre Not und ihre Sorgen zu verkünden. Hier kann sie für sich eintreten, „sie versucht es unter der Devise: Durch die Jugend, für die Jugend“. (Barbizon)

4.

Die „Neue Jugend“ soll ein Blatt sein, das gänzlich unpolitisch die Interessen der Jugend vertritt. Hier wird die Jugend auch ihre Unbefriedigung hervorbringen können. Wir wollen für unsere Jugendlichkeit arbeiten.

5.

Wir sind die heutige Jugend! Da wir die Pflichten wollen, müssen wir die Rechte haben. - Siegfried Jacobsohn (1881 - 1926, Herausgeber der Zeitschrift Die Schaubühne 1905, ab 1918 Die Weltbühne): „Und spricht zu Dir von Tradition der ganze Wackelgreis Legion, glaub´ keinen Ton, glaub´ keinen Ton! Euer Weg ist der richtige. Ihr habt nicht bloß das Recht, Ihr habt die Pflicht mit Euren Augen von heute zu sehen.“ -

6.

Wir wollen nicht ziellos „Rechte“ haben, sondern wollen „Jugend“. Die Jugend, die so leicht irregeleitet wird, die uns so leicht verloren gehen muss bei der heutigen - und fast schon gestrigen - Stellung der Jugend. Wir wollen nicht „faulenzen“, uns „rumtreiben“, wir wollen eine natürliche Schule, die jugendlichem Wesen entspricht; wir wollen auch nichts unversucht lassen, um diese Schule zu erreichen! Wir bereiten den Späteren diese Schule vor; für sie auch unser Kampf.

7.

Wir wollen Freiheit: auch die „familiäre“. Nicht die Familie begleiten müssen; nicht altkluge Antworten geben müssen. Nicht ihre Erfahrungen brauchen wir! Wir wollen in unserer freien Zeit nicht von der Familie „abhängig“ sein: Genießen, Schönheit, Freiheit, Ideale! (Und hier setzte auch der Wandervogel ein, bevor er antisemitisch wurde und allerlei Anderes auf sich häufte!!)

Die „Neue Jugend“ wird in diesem Sinne wirken. Literarische, graphische und musikalische Beiträge sollen Zeugnis ablegen von dem Geiste, den eine Jugend-Kunst beseelt. Die „Neue Jugend“ soll ein weiterer Schritt vorwärts sein zur Erreichung unseres Zieles!

Fritz Taendler, Freienwalde

Vermutlich geboren am 17. Januar 1897 in Berlin, Gestorben („gefallen“?) am 29. September 1916.


Sommervormittag in Genf

Die Alp ragt wuchtig am Horizont.
In trägen Mittagsgluten sonnt
die Stadt im Tal mit dem Turm von St. Pierre,
mit dem schimmernden Quai der Menschheit Parterre.

Am Corso siehst Du die Menschen schlendern,
eine Guirlande aus Blumen und Bändern,
die wahllos man zusammengeknüpft,
mit Farbenflecken lebhaft getüpft,
Gewächse und Blüten aus allen Ländern,
ein Hin und Her, ein Spiel mit Pfändern - - -

Hast Du vom Pfänderspiel genug,
so tu einen tiefen Atemzug,
banne den Blick, den neubekehrten
hinauf zur Alp, zu Ewigkeitswerten.

Cilly Stöckel

Erwähnt: Cilly Stöckel - Gesang (Prevosti) Faltblatt 1917 / 18 in Stern´sches Konservatorium, Jüdische private Musikschule Hollaender Berlin, als Schülerin an der Musikschule


Zwei Gedichte

Farben

In einem Traume habe ich gefunden
Was Grübeln mir und Denken nicht erwarben:
Ein jedes Wort hat seine eignen Farben,
An seinem Stamm durch ein Gesetz gebunden.

Grün ist die Kette unsrer Lebensstunden
Das Flötenspiel, die Wünsche, welche darben,
Und rot die Seufzer derer, die jung starben,
Das Lachen und die Schwermut auf den Sunden.

Sprecht ihr vom Schweigen abendlicher Weiten
So ist es blau, und auch der Frauen schreiten
Der Wind, der Flug der Vögel, das Parfüm.

Weiß will bei Nacht das Regenrauschen scheinen,
Auch Kinderstimmen, welche angstvoll weinen,
Und jäher Tod und Greisenungestüm.


Venedig am Abend

Auf den türkisgrünen Wasserzeilen
Schimmert perlenfarbener Abendschein -
Glockenläuten hüllt die Häuserfirsten
Und die blauen Dome ein.

Um die Türme, die sich aus dem goldnen
Aether heben, wunderbar gezackt,
Schweben Vögel, ihre schlanken Hälse
Wiegend zu der Glocken Takt - - -

Schwankend zieht die schwarzverhängte Gondel
Durch den lohenden Canal die Bahn,
Neben rosafarbenen Fassaden
Mit vergitterten Altan.

Jean le Hogh


Entwicklungsverse

von M. G.

Kopf an Kopf
Das Blut fliegt in den Schläfen
Durch zwei Körper zuckt ein still Gewahren
Wilder Takt wiegt kurze Leidenschaften
Und ein Hauch von Dir fließt ein in mich.
Ich und Du fühlen eins:
Ein Mensch, ein Glück
Wie wenn die Stunde höchster Reinheit wäre.
Das biegt und gibt und singt
Schönheit ist das Leben,
Stunden erhabner Heiligkeit
Hab´ ich geatmet.

Mit Genehmigung des Neubild Verlages, Fritz Taendler, Freienwalde an der Oder


Stimmung

Wenn ich auf Bergen wandere, in Tälern,
Da schlägt das Herz so gern zum Himmel auf;
Der Abendsonne warme Dämmerstrahlen
Vergolden rings die liebliche Natur:
Und in der Seele quillt ein selig Fühlen
Von allem, was die Welt uns Schönes beut.
Wie tiefer Frieden atmet uns entgegen,
Wenn Feierabendglocken fern erklingen,
Wenn durch die dunklen Wälder wehmutsvoll
Ein Rauschen zittert wie ein Abschiedsgruß.
An diesem Tag, der schön war wie der letzte.
Und sieh, es küsst der Abendsonne Strahl
Den stillen Berg in liebevollem Sehnen.
So sendet sie den letzten Liebesgruß
Der dämmernden Natur - und flieht hinunter.
Die Welt ist himmlisch schön, wir sehen´s wohl
Doch fühlen´s nur die seltnen Feierstunden.

H. Paul


Aus dem zweiten Heft ein Gedicht von Friedrich Hollaender:

Adja

Über alles Denken bist Du
mir gewesen. -
Wie Herbstnacht auf duftnasser
Wiese. Nur ich
kam Dir so fremd.
Weißt Du mich noch? -
Wie Syrinxgesang und fernes Getön -
doch lieb, wie unendlich
verschwistert,
flossest Du mir entgegen.
Nur ich - verloren und dunkel -
nahm Dich, emporgeboren
aus Weh und Weh,
ratlos - fremd
in mich auf. -


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