Novalis
– Aus: Die Lehrlinge zu Sais
Mannigfache
Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird
wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen
Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln,
Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in
Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der
Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des
Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas,
in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen
des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser
Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung will
sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer
Schlüssel werden zu wollen. Ein Alkahest scheint über die Sinne der
Menschen ausgegossen zu sein. Nur augenblicklich scheinen ihre
Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre
Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher,
vor ihren Blicken.
Von
weitem hört ich sagen: die Unverständlichkeit sei Folge nur des
Unverstandes; dieser suche, was er habe, und also niemals weiter
finden könne. Man verstehe die Sprache nicht, weil sich die Sprache
selber nicht verstehe, nicht verstehen wolle; die echte Sanskrit
spräche, um zu sprechen, weil Sprechen ihre Lust und ihr Wesen
sei.
Nicht lange darauf sprach einer: »Keiner Erklärung bedarf
die heilige Schrift. Wer wahrhaft spricht, ist des ewigen Lebens
voll, und wunderbar verwandt mit echten Geheimnissen dünkt uns seine
Schrift, denn sie ist ein Akkord aus des Weltalls Symphonie.«
Von
unserm Lehrer sprach gewiss die Stimme, denn er versteht die Züge zu
versammeln, die überall zerstreut sind. Ein eignes Licht entzündet
sich in seinen Blicken, wenn vor uns nun die hohe Rune liegt, und er
in unsern Augen späht, ob auch in uns aufgegangen ist das Gestirn,
das die Figur sichtbar und verständlich macht. Sieht er uns traurig,
daß die Nacht nicht weicht, so tröstet er uns, und verheißt dem
emsigen, treuen Seher künftiges Glück. Oft hat er uns erzählt, wie
ihm als Kind der Trieb die Sinne zu üben, zu beschäftigen und zu
erfüllen, keine Ruhe ließ. Den Sternen sah er zu und ahmte ihre
Züge, ihre Stellungen im Sande nach. Ins Luftmeer sah er ohne Rast,
und ward nicht müde seine Klarheit, seine Bewegungen, seine Wolken,
seine Lichter zu betrachten. Er sammelte sich Steine, Blumen, Käfer
aller Art, und legte sie auf mannigfache Weise sich in Reihen. Auf
Menschen und auf Tiere gab er acht, am Strand des Meeres saß er,
suchte Muscheln. Auf sein Gemüt und seine Gedanken lauschte er
sorgsam. Er wusste nicht, wohin ihn seine Sehnsucht trieb. Wie er
größer ward, strich er umher, besah sich andre Länder, andre
Meere, neue Lüfte, fremde Sterne, unbekannte Pflanzen, Tiere,
Menschen, stieg in Höhlen, sah wie in Bänken und in bunten
Schichten der Erde Bau vollführt war, und drückte Ton in sonderbare
Felsenbilder. Nun fand er überall Bekanntes wieder, nur wunderlich
gemischt, gepaart, und also ordneten sich selbst in ihm oft seltsame
Dinge. Er merkte bald auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen,
Zusammentreffungen. Nun sah er bald nichts mehr allein. – In große
bunte Bilder drängten sich die Wahrnehmungen seiner Sinne: er hörte,
sah, tastete und dachte zugleich. Er freute sich, Fremdlinge
zusammenzubringen. Bald waren ihm die Sterne Menschen, bald die
Menschen Sterne, die Steine Tiere, die Wolken Pflanzen, er spielte
mit den Kräften und Erscheinungen, er wusste wo und wie er dies und
jenes finden, und erscheinen lassen konnte, und griff so selbst in
den Saiten nach Tönen und Gängen umher.
Was
nun seitdem aus ihm geworden ist, tut er nicht kund. Er sagt uns, daß
wir selbst, von ihm und eigner Lust geführt, entdecken würden, was
mit ihm vorgegangen sei. Mehrere von uns sind von ihm gewichen. Sie
kehrten zu ihren Eltern zurück und lernten ein Gewerbe treiben.
Einige sind von ihm ausgesendet worden, wir wissen nicht wohin; er
suchte sie aus. Von ihnen waren einige nur kurze Zeit erst da, die
andern länger. Eins war ein Kind noch, es war kaum da, so wollte er
ihm den Unterricht übergeben. Es hatte große dunkle Augen mit
himmelblauem Grunde, wie Lilien glänzte seine Haut, und seine Locken
wie lichte Wölkchen, wenn der Abend kommt. Die Stimme drang uns
allen durch das Herz, wir hätten gern ihm unsere Blumen, Steine,
Federn alles gern geschenkt. Es lächelte unendlich ernst, und uns
ward seltsam wohl mit ihm zumute. »Einst wird es wiederkommen«,
sagte der Lehrer, »und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden
auf.« – Einen schickte er mit ihm fort, der hat uns oft gedauert.
Immer traurig sah er aus, lange Jahre war er hier, ihm glückte
nichts, er fand nicht leicht, wenn wir Kristalle suchten oder Blumen.
In die Ferne sah er schlecht, bunte Reihen gut zu legen wusste er
nicht. Er zerbrach alles so leicht. Doch hatte keiner einen solchen
Trieb und solche Lust am Sehn und Hören. Seit einer Zeit, – vorher
eh jenes Kind in unsern Kreis trat, – ward er auf einmal heiter und
geschickt. Eines Tages war er traurig ausgegangen, er kam nicht
wieder und die Nacht brach ein. Wir waren seinetwegen sehr in Sorgen;
auf einmal, wie des Morgens Dämmerung kam, hörten wir in einem
nahen Haine seine Stimme. Er sang ein hohes, frohes Lied; wir
wunderten uns alle; der Lehrer sah mit einem Blick nach Morgen, wie
ich ihn wohl nie wieder sehen werde. In unsre Mitte trat er bald, und
brachte, mit unaussprechlicher Seligkeit im Antlitz, ein
unscheinbares Steinchen von seltsamer Gestalt. Der Lehrer nahm es in
die Hand, und küsste ihn lange, dann sah er uns mit nassen Augen an
und legte dieses Steinchen auf einen leeren Platz, der mitten unter
andern Steinen lag, gerade wo wie Strahlen viele Reihen sich
berührten.
* * *
Wenn
nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller
Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die
Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und
in die Welt wird zurück begeben,
Wenn sich wieder Licht und
Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen
und Gedichten
Erkennt die ew´gen Weltgeschichten,
Dann fliegt
vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis
(1772 - 1801)
Das
Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)