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Montag, 30. Dezember 2024

13 Nächte - Die elfte Nacht

 

13 Nächte: 11. Nacht

Später Mond
Ich sah den Mond
Silbernetze flechten
aus Spinnenweben, taubeträuft -
die Tropfen hingen Perlen gleich
im Ried -
Aus jedem Tropfen schien
der Mond im Kleinen,
ein jeder wurde vom Monde
zum Leuchten gebracht,
und so gab es tausend Monde
in der Nacht.

(Dingefinder)

Musik: Verlah Wo, Klavier

Jakob Haringer: Gebet um Sünde - Ein Lied

 



Gebet um Sünde

O Gott! aus diesen lauen grauen Tagen
Glüh mich zur Sünde hin, weil mich so friert –
Eh daß mein Herz vereist in frommen Sagen,
Mach mich ein bißchen teuflisch und vertiert.

Ihr toten Tage ausgehöhlt entgöttert,
Wie ungewürzte Speise leer und schal,
Sauer wie Schweiß um blöd vertane Arbeit –
Ihr Toten – ach erstickt mich tausendmal;

Wie Wein, in den es jahrelang geregnet.
Auf euch ruht nimmer Gottes Mutterhand...
Behängt mit meinen nie geweinten Tränen,
Mit meiner letzten Wünsche Kindertand.

Wo ist der Engel, der da gut und weise
Euch wachsen ließ wie Veilchen aus dem Schnee?
Dies stille Frommsein ist ja gut für Greise –
Die Sünder tun einander nimmer weh.

O in der Sünde festlichem Gewimmel –
Ach, bloß die Laster machen gut und rein.
Ich bin so ungeeignet für den Himmel!
Laß lieber mich ein frommer Heide sein.

O laß mich lieber Dir mit Sünden danken...
Die Sünden weinen sich die Augen aus.
Die Heiligen mit ihren Löwenpranken
Zerschlagen ganz mein armes Blumenhaus.


„Lieber Gott! Du solltest wirklich deinen allerletzten Freund nicht so behandeln!... Weißt du, bloß Kleinigkeiten sind es nun einmal, die auf Erden uns armen Würmern die Wege erleichtern ... und selbst mit denen geizest du... Das Glück ist immer gegen die armen Leute. ... Weißt du, es ist schon hundsgemein, daß du nicht helfen magst! Du, schick sofort ein Wunder!! ... Ich habe nie gespart wie deine Braven, ich habe all deine schönen Dinge gekostet und genossen und verschenkt... Wenn deine andern endlich krepieren, liest man ja immer von ihrem edlen, großzügigen ‚Vermächtnis’ – allerdings habe ich noch nie gelesen und gehört, was sie zu Lebzeiten wahrhaft Gutes getan. Wie lieb ich all deine schönen Sachen: ein Amselruf im Morgenrot, ein Mädchenknie, eine Leberwurst, eine kleine süße Melodie, Frauenhüften, Gewürze, Duft der Parfüms, Zigarren, die liebe Einsamkeit, Stille, Hunger, mit einem guten Kameraden essen und trinken. Und wie schön hast du erst die Sünde, das gute Laster gemacht!“

Jakob Haringer (1898 - 1948)

„Die Größe Haringers ist sein urlyrisches Genie : zu sehen und Worte zu haben für das Gesehene. Eine Welt ging in ihn ein. Haringer, der Vagant, ein kranker, nicht mehr junger Mann, hungert in einem Asyl, einem Krankenhaus, in einer Höhle der Berge. Reißt ihn das Buch aus seiner Armut, dann werden seine Verse glätter, seine Gesichte aber blasser werden. Sein Buch ist wie ein Bergpfad, der in großer Höhe durch Kalkgestein führt : spitzes und abgebröckeltes Gestein — und dann wieder Ansiedlungen seltenster Pflanzen, wahre Fundgruben der Form. Es lohnt sich, in diesem Bande zu wühlen, um Oasen der Sprache aufzuwittern. Du findest dann am Wegrand eine Zeile wie diese:

In den Stunden des Glückes hast du Genossen und Frauen.
In den Gewittern des Narrens weinst du verzweifelt allein.


Otto Zarek (1898 – 1958)

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker Vom Schweigen befreit:

Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“


Gitarre und Gesang: Dingefinder

Samstag, 28. Dezember 2024

Zur Erinnerung an Julie Wolfthorn

 



Zur Erinnerung an Julie Wolfthorn (auch Wolf-Thorn, geborene Wolf oder Wolff, geboren am 8. Januar 1864 in Thorn, Westpreußen; gestorben am 29. Dezember 1944 im KZ Theresienstadt), Malerin, Zeichnerin und Grafikerin der Moderne. Als Jüdin wurde sie ein Opfer der Shoa. Bis auf wenige Bilder in den Depots deutscher Museen galt ihr umfangreiches Werk lange Zeit als verschollen und wurde erst Anfang 2000 wiederentdeckt.

1906 gründete sie mit Käthe Kollwitz die Ausstellungsgemeinschaft „Verbindung Bildender Künstlerinnen“. Im Jahre 1911 war sie Mitglied im Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen Wien. 1912 wurde sie mit Käthe Kollwitz in den Vorstand und die Jury der Secession gewählt. 1913 war sie Gründungsmitglied und Teil des Vorstandes im Frauenkunstverband. 1927 trat sie dem Hiddensoer Künstlerinnenbund bei. Künstlerinnen wurden zu dieser Zeit verächtlich als „Malweiber“ bezeichnet.

1933 in der Frühzeit des Nationalsozialismus wurde der Hiddensoer Künstlerinnenbund aufgelöst. 1933 wurde sie als Jüdin mit Fanny Remak, die nach England emigrierte, aus dem Vorstand der Secession ausgeschlossen. Sie blieb in Berlin und arbeitete mit dem Kulturbund Deutscher Juden zusammen, der 1941 verboten wurde. Die Mitarbeiter wurden verhaftet und das Vereinsvermögen beschlagnahmt.

Am 28. Oktober 1942 wurde Julie Wolfthorn im Alter von 78 Jahren zusammen mit ihrer Schwester Luise Wolf mit dem „68. Alterstransport“ in das von den Nationalsozialisten so genannte Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort zeichnete sie, soweit ihr das unter den Umständen möglich war. Sie überlebte hier zwei Jahre und verstarb wenige Tage vor ihrem 81. Geburtstag. (Wiki)

Ihr Bild „Mädchen mit blaugrünen Augen“ (1899) begeistert mich jedesmal, wenn ich es anschaue. Auch malte sie ein Portrait der Dichterin Hedwig Lachmann.

13 Nächte - Die neunte und die zehnte Nacht

 

13 Nächte: 9. und 10. Nacht

9. Nacht

Neige dich, du Baum-Geflüster!
Näher wehet schon der Wald.
Zwischen Wolken, Welt-Geschwister,
Sirius erhebt sich bald.

Feld gebreitet in der Aue,
Vogelflug am Horizont.
Über Teichen schwingt der blaue
unermeßlich ferne Mond.

(Aus: Walter Rheiner - Insel der Seligen - Ein Abendlied 1918)


Ich komm als müder Nachtlandpilger
an Deine Schwelle, Sonnenlicht -
Aus einem Labyrinth verschlungner Pfade
steig ich vor Dein Angesicht.

Die Augen wund von Schau der Sterne,
doch jenen Himmel unerreicht,
so steh ich vor Dir, Weltenauge,
indes der Morgennebel weicht.

Ich öffne mich jetzt Deiner Klarheit
und singe Dir ein Dankgebet.
So wohl geführt in neue Tage
ist der, der hier jetzt vor Dir steht.

(Dingefinder)


10. Nacht

Wie mich der Garten still umfing,
als die lange Nacht zu Ende war.
Beruhigend grün im Morgensonnenschein.
Ein leiser Wind fuhr durch mein Haar.

Blüten glänzend aus der Wildnis,
die sich wuchernd aus sich selbst gebar.
So übernahm ich das Vermächtnis,
während ich die Bäume lächeln sah.

(Dingefinder)

Musik: Antje Mc Inerney, Keltische Harfe, mit freundlicher Genehmigung

Zu Walter Rheiner: Eigentlich Walter Heinrich Schnorrenberg, geboren am 18. März 1895 in Köln; gestorben am 12. Juni 1925 in Berlin-Charlottenburg), Schriftsteller des Expressionismus.

Als er 1914 zum Kriegsdienst berufen wurde, nahm Walther Rheiner erstmals Rauschmittel – er gab damit vor, drogensüchtig zu sein, um der Wehrpflicht zu entgehen. Trotz dieses Umstands wurde er eingezogen und mit Beginn des Ersten Weltkrieges an die russische Front beordert. Eine Entziehungskur scheiterte, sein Täuschungsversuch kam 1917 ans Licht, worauf er vom Dienst suspendiert wurde und nach Berlin übersiedelte. Aus seinem anfänglich gemäßigten Drogenkonsum entwickelte sich jedoch mehr und mehr eine Sucht nach Kokain und Morphinen, die ihm letztendlich zum Verhängnis wurde. In einer armseligen Unterkunft in der Charlottenburger Kantstraße setzte er seinem Leben am 12. Juni 1925 im Alter von 30 Jahren mit einer Überdosis Morphin selbst ein Ende.

Freitag, 27. Dezember 2024

13 Nächte - Die achte Nacht

 

13 Nächte: 8. Nacht

Am Ende der Nacht stellte ich selber die letzte Frage:
„Was ist das für ein Lied, welches du singst?“
Sie öffnete die Tür dem beginnenden Tage:
„Es duftet nach Rosen“, sagte die Sphinx.

(Dingefinder)

Musik: "Rosenzeit" (Auszug) von Verlah Wo, Keyboard

Es sind Bilder aus unserem Rosengarten unterhalb der Klosterkirche Fredelsloh im Video mit verwendet worden.

Das Vorschaubild des Videos zeigt eine Blüte der "Hundertjährigen Rose", wie sie in Fredelsloh genannt wird. Sie wächst in einem Vorgarten nahe der Klosterkirche. 

Bereits die Griechen und Römer der Antike kultivierten die Alba-Rose (Rosa alba) in ihren Gärten. Sie entstand aus einer Kreuzung von Rosa canina var. Froebelii und Rosa damascena. Albertus Magnus erwähnte die Alba-Rose um 1250 im Vorstellungsraum des heutigen Deutschland. Da das Kloster Fredelsloh im 12. Jahrhundert gegründet wurde, und sicher einen Klostergarten hatte, ist anzunehmen, dass dort auch Alba-Rosen kultiviert wurden. 

Das Exemplar im besagten Vorgarten hat die Eigenschaft, sortenechte Ausläufer zu treiben, die sich leicht weitervermehren lassen. Heutzutage werden Rosen, auch die Albarosen, okuliert, das heißt veredelt. Für mich ein Beleg, dass die Pflanze durchaus ein stattliches Alter hat, und der Gedanke berührt mich, dass sie vielleicht ein Nachfahre der von den Nonnen kultivierten Rosen ist. 

Albarosen sind mit einem starken, reinen Rosenduft gesegnet. "Eines der schönsten Heilmittel ist die Rose", sagte schon Hildegard von Bingen. In ihrem historischen, naturheilkundlichen Werk „Physica“ schreibt sie über die Rose:

die Rose ist auch gut zu Tränken und Salben und zu allen Heilmitteln, wenn sie ihnen beigefügt wird; und sie sind um so besser, wenn ihnen etwas von der Rose beigefügt wird, wenn auch wenig, das heißt von ihren guten Kräften…“Physica, 1.Buch, Cap.22

Da die Albarosen, als alte Sorte, nur einmal im Jahr blühen (dafür jedoch überreich), werden sie heutzutage nicht mehr viel gepflanzt. 

 

Donnerstag, 26. Dezember 2024

13 Nächte - Die siebente Nacht

 

13 Nächte: 7. Nacht

Eine Vision

Am müden Himmel sah ich ein Gesicht,
Wie drei Gestirne miteinander rangen:
Die Sonne sank, der Mond war aufgegangen,
Der Abendstern ergoss sein bleiches Licht.

Es hielten alle drei das Gleichgewicht.
Schon wollte sie die blinde Nacht umfangen,
Da sah ein Weib ich nach den Sternen langen,
Ein Weib, dem Grab entsteigen zum Gericht.

Ich sah das Weib sich in den Himmel recken
Und mit den Armen Stern und Mond bedecken;
Ihr Atem löschte aus der Sonne Licht.

Doch statt des Monds, des Sternes und der Sonne,
Erstrahlte mild ihr holdes Angesicht:
Es gab dem Weltall Wärme, Licht und Wonne!

Nikolai Maximowitsch Minski (1855 - 1937), übersetzt von Alexander Eliasberg, (1878 -1924)

Musik: Verlah Wo, Klavier / Frederike Herrlich, Gesang; Dingefinder, Querflöte; aufgenommen in der Klosterkirche Fredelsloh

13 Nächte - Die sechste Nacht

 



13 Nächte: 6. Nacht

Sehnen des Südens

Lachend vergass ich der weisheit schätze
Leiden und träume erfüllten den sinn.
Wob um die welt einst demantene netze,
Träume zu seligen ufern jetzt hin.

Schaue in blüten ein ewiges walten,
Folge dem gott auf verbotener spur.
Wenn dann die wogen gelinde erkalten,
Zieht mich mein schwan auf der wogenden flur.

Heilige frauen auf heiliger reise,
Traurige lieder traurig und hehr!
Neige mein haupt und lache ich leise.
Wie lacht es sich leise am dunkelnden meer!

(Richard Perls 1873 - 1898)

Musik: Verlah Wo, Klavier; Dingefinder, Loop-Programm, Samples, Querflöte "Auf dem Pfade" (Ausschnitt)

13 Nächte - Die erste bis fünfte Nacht

 

Für die Rauhnächte: Die Rauhnächte sind einige Nächte um den Jahreswechsel, denen im europäischen Brauchtum eine besondere Bedeutung zugemessen wird. Meist handelt es sich um die Zwölf Nächte vom Weihnachtstag (25. Dezember) bis zum Fest der Erscheinung des Herrn (6. Januar), gelegentlich um andere Zeiträume, beispielsweise jenen zwischen dem Thomastag (21. Dezember) und Neujahr. In manchen Gebieten wird die Thomasnacht nicht hinzugezählt.
Es gibt jedoch auch andere Zählweisen, zum Beispiel 13 Nächte (vom 21. Dezember, der Wintersonnenwende und längsten Nacht im Jahr, bis zum 3. Januar), diese richtet sich nach den 13 Mondmonaten eines Sonnenjahres von 365 Tagen. Ein Mondmonat sind ca. 27/28 Tage, die der Mond. oder in anderer Lesart die Mondin braucht, um die Erde zu umrunden. Das sind aufs Sonnenjahr gesehen ca. 352 Tage. So dienen die 13 Rauhnächte auch dazu, den Mond- und den Sonnenkalender in Deckung zu bringen.
Letzteres ist die Zählweise, die ich bevorzuge. Zur Begleitung durch die 13 Nächte habe ich für jede dieser Nächte ein kleines Video gebastelt, zu denen ich eigene und fremde Texte eingesprochen habe, jeweils mindestens einen für die jeweilige Nacht, mit Musik und Bildern dazu, so dass ich für jede der 13 Nächte eines einstellen kann. Viel Spaß damit.
p. s.: Lesenswert zu den 13 Monden ist das Buch „Mond Tanz Magie“ von Luisa Francia, 1986 im Verlag Frauenoffensive (München) erschienen.
p. p. s: Es ist weder ein christliches Weihnachtsdingens noch ein heidnisches Wintersonnenwende-Ding geworden, eher sehr persönliche Reflektionen um das Thema Nacht.

13 Nächte
"Kehre in die Stille schweigend ein:
So fällt das Wort ins unverletzte Sein."
Dreizehn ist die Zahl der Monde. Meine Seele ist uralt.
Wenn ich schweigend gehe, bin ich Du, dann bin ich Wald!
Schweigen. Es gibt Zeiten, da ist jedes Wort das Wort zu viel.
Im Schweigen erlöse die Räume von der Worte unbeugsamen Spiel.
Dreizehn Nächte, in denen alle Zeiten stille stehn,
Wanderungen, zwischen den Zeiten zeitlos schweigend gehn.
Nur im Schweigen nähren wir den Klang,
nur im Schweigen lauschen wir kaum hörbarem Gesang.
Ich lasse zu, dass mich Dunkelheit umfängt.
Und Kälte. Stille. Alles zu lösen, woran die Seele hängt,
um dieses Nachtland furchtlos mit sanftem Fuße zu betreten.
Nachtland, Klüfte, windgezauste Bäume, Erdental.
Fuß auf Fuß gesetzt am Pfad, Wegekreuze, weise Wahl:
Nur wer dreizehn Nächte ohne Furcht, wird hier herein gebeten.
(Dingefinder)

1. Mond
Aller heilen Seelen Neumond, Tanz in Dunkelheit,
Dunkles Blut, in Farbe von Holundersaft,
ein Ort zum Tanze überall, und Wölfe, wild und frei,
und sterben und gebären, geboren werden, wie nah
das beieinander liegt. Und Alt wird wieder neu,
und Nacht erhellt vom Flammentanz, himmelwärts befreit.
(Dingefinder)

Kreislauf
Alles ist nur Weg zu dir:
Winterfrühen voll Vertrauen,
Zärtliches an Plänen bauen,
Staunendes gefangen stehn
Vor dem Blaß der Orchideen.
Schau nach weißen Wolkenballen,
Die erhellt in Blicke fallen,
Losgelöstheit schlanker Hand,
Reinern Ländern zugewandt.
O Erfülltheit, strenges Wirken
Klar in herrschenden Bezirken,
Himmel tief und weit in mir -
Alles ist nur Weg zu dir . . .
(Elisabeth Janstein 1893 - 1944)

Elisabeth Janstein, geboren als Elisabeth Jenny Janeczek am 19. Oktober 1893 in Iglau, Österreich-Ungarn; starb am 31. Dezember 1944 in Winchcombe, Borough of Tewkesbury, England im Exil. Sie war eine böhmisch-österreichische Dichterin und Journalistin.
Musik: Verlah Wo Klavier; Ute C. Geige; Frederike Herrlich Gesang; Dingefinder Gitarre





13 Nächte - Die zweite Nacht
Trost der Nacht
Weiche Hände hat die Nacht,
Und sie reicht sie mir ins Bette;
Fürchtend, daß ich Tränen hätte,
Streicht sie meine Augen sacht.
Dann verläßt sie das Gemach;
Rauschen hör´ ich, sanft und seiden;
Und den Dornenzweig der Leiden
Zieht sie mit der Schleppe nach.
Ludwig Jacobowski (1868 - 1900)

Musik: Dingefinder, Gitarre und Glockenspiel



           


13 Nächte: 3. Nacht

Ein Wanderer in der Nacht

Stille ist -
des Sommers Singen
verloderte im Kalt.
Nur Schritte hör ich,
meine,
auf nächtlichem Asphalt.

Die Wege führen heimwärts
in den Winter,
kühl streicht ein Wind mir
durch das Haar.
Ich seh nur Nacht,
kein Licht dahinter,
und Äste raunen klirrend
von Gefahr. . .

Stille ist -
des Sommers Singen
verloderte im Kalt.
Keinen Schritt mehr höre ich -
Nur Eis glänzt auf Asphalt. . .

(Dieses Gedicht schrieb ich im zarten Alter von 18 Jahren)

Musik: Erd Ling Judith: Didgeridoo; Dingefinder: Gitarre, Stimme; aufgenommen in der Klosterkirche Fredelsloh





13 Nächte: 4. Nacht

Nun gleiten wir schon ungezählte Jahre
Und sehn noch endlos sich die Wasser breiten.
Von Charons Ruder in die dunkel-klare,
Bewegte Flut sehn wir die Tropfen gleiten
Und sehn sie werden und ins dunkelklare
Und leis bewegte Wasser niedergleiten.
Und dieses ist das große, wunderbare
Mysterium des Tods: wir gleiten, gleiten. . .

(Hugo Salus 1866 - 1929, aus: Acherontische Sizilianen)

Musik: Verlah Wo Klavier, Ute C. Geige, Dingefinder Gitarre, Keys




13 Nächte: 5. Nacht
Schatten wächst in unsren Herzen.
Waldsaum schwankt in Gold, zerrinnt.
Silbern fährt das Nachtgestirn
über Schlummer-Dorfes Kerzen.
Salamander, deine Hand
ruht in Büschen, wachsam hell.
In der Hunde Traum-Gebell
mischt sich dunkler dein Gesang.
Stirn, verlorner Mond im Moos,
neigt sich über dein Gesicht.
In den Bäumen, wesenlos,
brennt ein wunderbares Licht.
- Nacht entschreitet riesengroß
über uns und sieht uns nicht.
(Das siebente Abendlied aus: Walter Rheiner - Insel der Seligen - Ein Abendlied 1918)
Musik "Mandala" (Auszug) von Verlah Wo, Klavier

Mittwoch, 25. Dezember 2024

Victor Hadwiger: An stillen Nachmittagen. . .

 

                                                    Es geht ein Lied vom Sommerhauch getragen,
                                                    ein Lied aus fernen Fernen geht umher.
                                                    Hörst du die Blumen fragen?
                                                    Er ist ein Wanderer. . .



An stillen Nachmittagen. . .

An stillen Nachmittagen sang ich’s in die blauen Lichter,
Wenn meine Mutter murrte, weil ich müßig war,
Ich sang es in den Hohn der Bösewichter
Und blieb ein Dichter und ein Narr.

Es gingen viele stille Nachmittage
An meinem großen Schmerz vorbei,
Da wurde es zu einer frommen Frage,
Ein braver Spruch und bald ein stolzer Schrei.

Ich lernte es von einem Spielmann rasch und froh,
Wie man es singt und nimmermehr vergisst,
Von einem Spielmann, der in einem alten Volkslied wo
An einem Frühlingstraum gestorben ist.

Du lege deinen Kopf in meine Hände,
Es dämmert die Dezembernacht,
Und sing es in der Dunkelheit zu Ende,
Was ich im Lichte mir erdacht.

Ich will mit dir in deine Länder fahren
Und deine leisen Engel sehn;
Dir meine Seele offenbaren,
In deiner Seele untergehn.

Victor Hadwiger, 1878 - 1911

1899 begann er ein Studium der Literaturgeschichte und Philosophie in Prag. Daneben verkehrte er im neoromantischen Literaturzirkel „Jung-Prag“, wo er u. a. mit Paul Leppin und Hugo Wiener, aber auch mit dem zehn Jahre älteren Bürgerschreck Gustav Meyrink nähere Bekanntschaft schloss und bald zu einer der markantesten Figuren der künstlerischen Bohème avancierte. „Leppin und Hadwiger erschienen meist zwillingsbrüderhaft gemeinsam. Sie waren beide sehr groß und trugen enorme Hüte, fielen auch auf der Straße auf. Beide sehr blaß, bunte Künstlerkrawatten flatterten um ihren Hals“, erinnerte sich rückblickend Max Brod in seinen Aufzeichnungen über den „Prager Kreis“. Im Frühjahr 1903 zog er nach Berlin, um sich dort durch die Mitarbeit an der „Vossischen Zeitung“ und eigene literarische Arbeiten seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sein im gleichen Jahr erscheinender Lyrikband Ich bin verhalf ihm hier zu einem viel beachteten Einstand. 1911 erschienen Victor Hadwigers Novelle „Der Empfangstag“ sowie die beiden Liebesgeschichten „Blanche“ und „Des Affen Jogo Liebe und Hochzeit“. Eine sich nun langsam abzeichnende erfolgreiche Schriftstellerkarriere beendete jedoch sein plötzlicher Tod am 4. Oktober 1911.


Musik: Verlah Wo, Keyboard: Sprecher: Dingefinder Jörg Krüger

Freitag, 20. Dezember 2024

Zur Erinnerung an Anita Augspurg

 



Zur Erinnerung an Anita Augspurg

„Vor allen Dingen wird eine gebildete Frau, die in ihrer Bildung die Waffen findet, sich auf eigenen Füßen in der Welt behaupten, nicht blindlings jede Ehe eingehen, nur weil es ihr von anderen eingeredet wird, sie müsse heirathen.“

Zum Andenken an Anita Augsburg, Frauenrechtlerin und Pazifistin, die am 20. 12. 1943, im Alter von 86 Jahren in ihrem Schweizer Exil starb.

Kompromisslos hat Anita Augspurg ihre Meinung vertreten –-zum Beispiel, wenn sie das politische Stimmrecht forderte, das man den Frauen im Deutschen Kaiserreich hartnäckig verweigerte. 1893 wechselte sie zum Jurastudium nach Zürich, weil Frauen in Deutschland auch der Zugang zur Universität verschlossen war. In die Heimat zurückgekehrt nahm Augspurg als promovierte Juristin das veraltete Ehe- und Familienrecht ins Visier. „Für eine Frau von Selbstachtung, welche die gesetzlichen Wirkungen der bürgerlichen Eheschließung kennt, ist es nach meiner Überzeugung unmöglich, eine legitime Heirat einzugehen: ihr Selbsterhaltungstrieb, ihre Achtung vor sich selbst und ihr Anspruch auf die Achtung ihres Mannes lässt ihr nur die Möglichkeit einer freien Ehe offen.“

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges intensivierte Augspurg ihr pazifistisches Engagement. Sie war eine der Initiatorinnen des Haager Frauenfriedenskongresses von 1915, einer Zusammenkunft internationaler Stimmrechtlerinnen, die Frauenrechte und Rechtsstaatlichkeit nicht nur innerhalb nationaler Grenzen verwirklichen wollten, sondern auch auf internationaler Ebene. Die Frauen von Haag plädierten nicht nur für einen sofortigen Frieden ohne Bedingungen, sondern auch für nachhaltigen Friedenserhalt mithilfe von internationalen Organisationen und Schiedsgerichten. Das, was nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Uno verwirklicht werden sollte, war in Den Haag bereits angedacht worden.


Öffentliche Resonanz konnte Augspurg mit diesen pazifistischen Forderungen jedoch kaum erzielen – zumindest nicht in Deutschland. Sie erhielt kurz nach dem Haager Frauenfriedenskongress ein Publikations- und Betätigungsverbot, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Kraft blieb.

Auch Hitlers Gefährlichkeit war ihr bewusst, als sie Anfang 1923, das heißt Monate vor dem Hitler-Putsch im November 1923, seine Ausweisung nach Österreich forderte.

1933 war Deutschland für Augspurg als dezidierte Gegnerin des Nationalsozialismus kein sicheres Land mehr. Sie emigrierte 76-jährig mit ihrer Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann. In Zürich lebten die beiden Freundinnen äußerst bescheiden, nachdem man ihre Vermögen in Deutschland eingezogen hatte und sie auf Zuwendungen von Freunden und Freundinnen angewiesen waren. Augspurg starb 1943 ein paar Monate nach ihrer Lebensgefährtin im Schweizer Exil.

Sonntag, 15. Dezember 2024

Traumspur - Zweiter Teil: Unelma, Leftherte, Kalindi

 

Unelma, Leftherte, Kalindi

Wir haben ein Jahrhundert überlebt,
und ein paar Jahrtausende dazu.
Wir sind nicht bestrebt
weiterhin einfach nur zu überleben,
es wird doch einfach Leben geben,
und Sonnenschein, und Waldesruh.

Eiland, Karuna, Glanz im Nebelmeer,
Vergänglichkeit ist - - - ich schrieb es hin. . .
Hatten sogenannten Frieden siebzig Jahr und mehr,
und vermeinen, dass das lange währte,
nur weil der Krieg woanders war,
währenddessen unser Reichtum sich vermehrte.

Manchmal noch lauschen wir den Wogen,
unser aller Herkunft ist das Meer,
gesegnet noch wer Speis und Trank hat,
Dächer, Wärme, Menschen, freundlich, um sich her.


Unelma

Manchmal ist es einfach an der Zeit,
in die Wälder zu gehen.
Nicht wie auf den alten Gemälden:
Die Frauen nackt, die Männer gerüstet,
das ist nicht das, wonach mir gelüstet,
ich möchte einfach nach den Feen sehen.

Ich möchte etwas bewahren,
die Zeit nicht rechnen in Jahren,
es gibt seit Ewigkeiten immer ein „davor“,
das Chaos selbst ist das Tor,
durch das wir geboren werden,
und Nyx geleitet uns auf Erden.

Der Schnee fällt leise vor sich hin, so ungestört,
ich trauer nicht wegen der scheidenden Zeit,
war sie denn wirklich so schön? Sind die Leiden schon verjährt?
Mehr als dreitausend Jahre Krieg, getarnt als Heldenherrlichkeit,
von Hymnendichtern absurd ins Göttliche verklärt,
als die Dichter noch und nur den Fürsten dienten,
und sie verschlossen unsere Herkunft
mit ihren dummen Heldengesängen,
die Geschichte ein Feld, dass sie verminten,
und ordneten alles unter in ihrem engen
„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“.
Es ist Zeit, dass ich ein anderes Lied singe.

In immer wieder jungen Jahren
mit den Schwänen
im Ballon gefahren
durch die blauen lauen Lüfte
hochgemut und zukunftstreu,
auf Eulen durch die Nacht geritten,
unter unsren Händen
enden die Legenden,
all die Heldensagen,
und dem Baume des Vergessens
übergeben wir die Waffen und die Plagen.


Lefherte

Ich wohne im Mondenschatten,
im Glanze der Silberweiden,
an den verschwiegenen Weihern,
wo zwischen den Teichmummeln
die Lurche wohnen, dort
ist meine Wohnstatt.

Illuminiert in den Nächten
von den tanzenden Sternen
den Irrlichtern der Johanniskäferchen,
strahlende Glanzblumenkränze im Haar
so singe ich Dir in Deine Träume
die Lieder der Sehnsucht.

Unterhalb einer Quelle liegt
mein Weiher, und in ihrem Murmeln
singe ich Dir zu.


Kalindi, die Nachtweberin

Sagte Kalindi, mehr zu sich selbst, denn zu dem siebenäugigen Wesen dort in der Ecke: "Es ist an der Zeit, die Netze zu knüpfen."

"Denn siehe, die Fasern der Nesseln halten, und im Kessel dort der Sud, die Farben des Himmels darin, er ist sämig und wohlriechend!"

"Und wenn ich in den besternten Himmel schaue, mondlos, tief in allem, dann weisen unzählige Bilder die Wege!"

Sagte Kalindi, mehr zu sich selbst, denn zu dem zahnschnabeligen Wesen dort in der Ecke: "Es ist an der Zeit, die Winde zu lösen."

"Denn siehe, die Brücken, sie tragen, und die Farben des Himmels, die duftenden, nardelieblichen, wiegen im Wägen der Zeit, so sei es, dass alles seinen Ort finde!"

"Und schau der Sterne freundliches Antlitz, diademstrahlend das Himmelgewölbe, die Augenbrauen der schwarzen Göttin, funkelnd das Antlitz der Erde beträufend!"

Sagte Kalindi, mehr zu sich selbst, denn zu dem spaltzüngigen Wesen dort in der Ecke: "Es ist an der Zeit, die Stürme zu säen!"

"Denn siehe, die Windsbraut, die herrliche, gewandet in den Farben des Himmels, trunken des Weines der Gnade, der Liebe, der Lust. Wer sollte sie nicht freien?"

"Löscht die Lampen, die aufdringlichen, löscht Licht um Licht auf der Erde, das Dunkel zu feiern unter flimmernden Firmament!"

Und während Kalindi so mit sich selbst sprach, lächelte das schwarzflügelige Wesen dort in der Ecke.

Anmerkungen: 

Unelma kommt aus dem Finnischen und ist in etwa mit Wunsch oder Traum zu übersetzen. Wird dort gerne als Frauenname gewählt, oft auch als Zweitname.

Leftherte, der Name taucht nur in einem Gedicht von Hans Schiebelhuth auf, darin heißt es unter anderem: 

Für Lefherte

Ich habe für dich gedämpfte Hymnen erdacht, Worte
Wirr, nie noch gesagt, nie noch gewagt; nun wachend
Warte ich, bis du aus meinen Augen die Anklage,
Bis du von meinen Lippen das entzückende Lied nimmst.

Seit du gingst, kam vieler Herbst überheid. Blumen
Schickten sich an zu sterben. Bald wird der Bach
Still sein. Aber wer stark ist wie ich,
Den tötet kein Tod. Sehnsucht erhält ihn ewig.

Bleiblütig bin ich über der Welt. Einsam
Über verwaister Stadt, Grambart und bekümmerter Hände.
Dennoch in Hoffnung, daß ein Marienwind
Kommt, die verstörte Stirn der Straße zu glätten.

Du aber wohnst im Grün verschütteter Sommertage. Deinen
Fenstern lacht Lenz. Sorglose Springbrunnen
Silbern Kronen auf über bunten Beeten.
Möwen, Möwen kommen, Grüße vom Meer.

Kalindi die Nachtweberin hat nichts mit der hinduistischen Göttin Yamuna gemein, die in der späteren Literatur so genannt wird. Eines spiegelt sich vielleicht in der Namensgleichheit wieder, nämlich dass der Zwillingsbruder von ihr Yama, der Gott des Todes, ist.


Texte und Stimme: Dingefinder

Musik: Derselbe, Kantele, Rahmentrommel, Blockflöte, Glockenspiel, Zymbeln, Gong, Xylophon, Querflöte

LyRa steht für LyrikRadio, die Collage aus Bildern habe ich beigefügt, da YouTube nun einmal auch ein visuelles Medium ist. Hier danke ich Anka Röhr, dass ich einige ihrer Bilder verwenden durfte. Der link zu ihrem FaceBook - Profil.

Auch habe ich Bilder der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch verwendet, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin.

Die Texte dazu sind nachzulesen auf meinem Blog Die anderen Seiten, auch dazu ein link in der Kommentarspalte.

Weder mein Youtube-Kanal noch mein Blog sind monetarisiert.


Mittwoch, 11. Dezember 2024

Traumspur - Erster Teil: Beginn und Ankunft

 



„Ideale sind wie Sterne, sie lassen sich nicht erreichen,
doch sie weisen uns den Weg“; wer zu allem immer nur nickt
wird vom Schicksal ins Schicksal geschickt;
und des weitren lässt sich streichen dieses ewige Vergleichen.

Wir Nornen ziehen Fäden aus den Hirngespinsten,
auch auf Spinnwebfäden lässt sich Seiltanz üben,
bist du leicht genug, kommst du unbesorgt nach drüben,
die Gedanken- und die Goldbeschwerten stürzen oft am schlimmsten.

Die Welt, die schuf sich einfach aus sich selbst heraus,
ohne großes Getöse, Vorstellung und Wille,
sie ging in die Unendlichkeit, weitete sich aus,

Vogel Phönix verließ das Weltenei als eine Hülle,
flocht im Baum des Lebens Nest und Haus,
und sank zurück in Traum und Stille.


Tiefsamtene Schwärze des Weltenalls, mit glimmernden Sternen bestickt. Des Raumes unendliche Stille, nur selten erklangen die fernen Laute, Sphärengesang. Dann wieder . . . Stille. . . All das umhüllte mich. Und ich erriet Kalindi, die Nachtweberiin. Sie war es, die mir diese ferne Reise gebot. Ich war der Weltenwanderer

Es zog mich eine Welt in ihren Orbit, in ihren Bann. Eine so fremde Welt, in Bläue wolkenumhüllt, gesegnet mit dem Reichtum des Lebens, und ich verließ die tiefsamtene Schwärze, ich begab mich in meine schützende Hülle, Kalindi zerschnitt die silbernen Fäden. Ich sank, ich versank, in die Bläue, wolkenumhüllt, ich sank in die wallenden Nebel, ich versank in das pochende Grün.

Hier denn endeten meine Erinnerungen. . .

Als ich erwachte, wies der Stämme rissige Borke in das falbe Laub, das geheimnisvolle Grün der Föhren in die fahle Bläue des Himmels, aus dem ich wohl kam. Um mich das Märchenland des fremden Waldes, die im leisen Winde flüsternden Fichten. . . Wie fremd war mir das alles, wie nah, wie vertraut. . .

Mir näherte sich eine Welt

Mir näherte sich eine Nacht

Es war Kalindi, die mich begleitete in diese Nacht, Kalindi, die Nachtweberin. Und sie wob die Fäden in meine Gedanken, und alles das wob sie hinein: Die Erinnerungen, die Bilder, die Töne, die Klänge, die Ahnungen. Dann blickte sie mich an mit ihren tiefschwarzen Nachtaugen, Kalindi, die Nachtweberin und fragte stimmlos: "Wann ist eine Geschichte eine wahre Geschichte?"

Und in mir woben die Fäden, und in mir wob das Verstricken, und in mir wob die Ahnung, welche von den Ahnen kam, und in mir wob das Wissen, dass es keine Möglichkeit gab, nicht in die Verstrickung zu gehen, und dass ich nur die Möglichkeit hätte, zwischen den Verstrickungen zu wählen, welche an Vielzahl die Sterne übertrafen. Da blickte sie mich an mit ihren tiefschwarzen Nachtaugen, Kalinidi, die Nachtweberin und fragte stimmlos: "Wann ist die Geschichte eine wahre Geschichte?"

Und im Zögern des Gehens, im Zögern der Schritte, im Zögern auf der Schwelle noch, wo die Nachtkräuter schweren Duft verströmen, hörte ich die stimmlose Frage: "Folge deinem Herzen! Welchem deiner drei Herzen möchtest du folgen?" Und ich lauschte dem ersten Herz, dem unermüdlichen Trommler, und ich lauschte, und die Trommel trug mich in die Gefilde der Kindheit, in die Türme der Nacht, in den Keller der Einsamkeit, und ich wusste, wenn sich die Tür wieder öffnet, dann kommen die Schläge. . .

Und im Zögern des Gehens, im Zögern der Schritte, im Zögern auf der Schwelle noch, wo im Dunkel die Wesen wispern, hörte ich die stimmlose Frage: "Folge deinem Herzen! Welchem deiner drei Herzen möchtest du folgen?" Und ich lauschte dem zweiten Herz, dem Wärmestern, und ich fühlte die Wärme, das Rosa aller Sehnsucht in mir, und ich wusste, wenn sich die Tür wieder öffnet, dann kommt das unendliche Bleiben. ..

Und im Zögern des Gehens, im Zögern der Schritte, im Zögern auf der Schwelle noch, wo das Dunkel samten greifbar wurde, hörte ich die stimmlose Frage: "Folge deinem Herzen! Welchem deiner drei Herzen möchtest du folgen?" Und ich lauschte dem dritten Herz, und es war das schwere Herz, dem ich lauschte, und es war keine Hand da, mir das schwere Herz zu tragen. . .

Es war Kalindi, die mich begleitete diese Nacht, Kalindi, die Nachtweberin. Und sie wob die Fäden meiner Gedanken, und alles das wob sie hinein: Die Erinnerungen, die Bilder, die Töne, die Klänge, die Ahnungen. Dann blickte sie mich an mit ihren tiefschwarzen Nachtaugen, Kalindi, die Nachtweberin und fragte stimmlos: "Wann ist eine Geschichte eine wahre Geschichte?"

Und ich fasste mein Herz und übertrat die Schwelle.

Anmerkung: Kalindi die Nachtweberin hat nichts mit der hinduistischen Göttin Yamuna gemein, die in der späteren Literatur so genannt wird. Eines spiegelt sich vielleicht in der Namensgleichheit wieder, nämlich dass der Zwillingsbruder von ihr Yama, der Gott des Todes, ist.


Texte und Stimme: Dingefinder

Musik: Derselbe, Kantele, Handharmonium, Keyboard, Querflöte, Xylophon

LyRa steht für LyrikRadio, die Collage aus Bildern habe ich beigefügt, da YouTube nun einmal auch ein visuelles Medium ist. Hier danke ich Anka Röhr, dass ich einige ihrer Bilder verwenden durfte. Der link zu ihrem Facebook-Profil

Auch habe ich Bilder der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch verwendet, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin.


Weder mein Youtube-Kanal noch mein Blog sind monetarisiert.

Freitag, 29. November 2024

Christian Morgenstern: Die Heldin

 



Die Heldin

Muhme Kunkel geht voraus
wo´s ein Tier zu schützen gilt.
Tapfer hält sie ihren Schild
vor die kleinste Ackermaus.

Ihre Dienstmagd Lulu Hammer,
welche Fleisch frißt wie ein Wolf
sperrt sie, samt dem Kälblein Rolf
eines Tags in ihre Kammer.

Legt ein Beilchen ihr parat,
spricht: Wofern dir Fleisch tut not
schlag denn dieses Fleisch selbst tot -
oder aber iß Salat.

Lulu, ganz in sich gewandelt
fühlt, wie grauslich ihre Gier,
bittet ab dem Bruder Tier.
Ja, noch mehr, sie hat gehandelt

wie sonst nur des Helden Weise:
Nämlich gab, fürwahr, sie tat es,
Rolf die Köpfe des Salates
und verblieb selbst ohne Speise.

Schließlich ruft sie nach der Muhme. . .
Diese läßt die Zwei heraus.
Lulu lebt seither im Haus
reinerer Moral zum Ruhme.

Christian Morgenstern, geboren am 6. 5. 1871 in München, gestorben am 31. 3. 1914 in Untermais, Tirol, aus dem Nachlass


Das Video The Three Stooges - Malice in the palace (1949), Auszug, zeigt die für mich schönsten Szenen aus diesem Film, nicht nur für Vegetarier empfehlenswert. Zusammenschnitt von mir. 

Andrea Rausch: Plutonium in allen Farben und Geschmacksrichtungen - Teil 1

 



In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2017 starb die Künstlerin Andrea Rausch in ihrer Wohnung in Fredelsloh. Dieses Jahr wurde ich wieder an sie erinnert, ich bekam eine CD von ihr ausgehändigt, es hieß, darauf wären Bilder von ihr gespeichert. Das erwies sich jedoch als nicht ganz richtig. Sicher, es waren auch Bilder von ihr darauf, jedoch eingebettet in von der Künstlerin geschriebenen Geschichten.

Diesen Geschichten war ein Brief angefügt mit folgendem Inhalt: „Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit übersende ich Ihnen einige Buchmanuskripte, Textauszüge und mehrere bebilderte Kurzgeschichten zur Ansicht. Einen ersten umfassenden Eindruck bekommen Sie, wenn Sie die Geschichte „Phantastische Atomgeschichten“ lesen.

Gerne sende ich auf Anfrage weitere Manuskripte und bebildere diese.

Wenn Sie an der Veröffentlichung meiner Arbeiten, weiteren Texten Interesse haben, wenden Sie sich bitte an mich.“
Datiert war der Brief nicht.

Dazu gab es als PDF verschiedene Manuskripte, zwei davon umfänglicher und bebildert: „Plutonium zum Frühstück - Oder: Wo Fliegen die Spinnen um die Ecke treten“ (73 Seiten) und „Plutonium in allen Farben und Geschmacksrichtungen“ (109 Seiten).

Zu einer Veröffentlichung kam es nicht, doch ich möchte die eine oder andere Geschichte, mit dazugehörigen Bildern der Künstlerin hier auf meinem Blog einstellen. Ich habe die Texte nicht verändert, außer wo sichtlich Flüchtigkeitsfehler waren, und ich habe ihre doch sehr eigenwillige Interpunktion etwas gemäßigt, zugunsten der Lesbarkeit der Texte. Der Nachlass der Künstlerin wird verwaltet von der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh.

Hier nun der erste Teil des Manuskriptes "Plutonium in allen Farben und Geschmacksrichtungen":

Guten Appetit!

Dies hier ist der Einblick in eine andere Welt. Mit Dingen, scheinbar so vertraut wie unsere eigenen, und mit Dingen und Begebenheiten, die so ganz anders sind! Wo also eine Vogelspinne auch grün oder blau sein kann, mit nur vier, aber auch zehn Beinen! Und der Pfirsichbaum mag dort dunkelrote Blätter haben mit hellgrünen Blüten, und seine Pfirsiche schmecken nach Vanilleeis. Natürlich haben dort die Dinge ihren eigenen Namen. Ich habe allen den entsprechenden deutschen Namen gegeben. Des Einheimischen Babboshluck ist so nichts anderes als unser Plutonium. Mit dem Unterschied, dass es dort als Nahrungsmittel fungiert, und auf jener anderen Welt die unglaublichsten Realitäten ermöglicht! Oder: Wie wo anders im All der All -Tag so aussieht!



Die Personen:

Wacko Blatscho – Familienoberhaupt und Leiter des Terraform-Projektes.

„Plutschiko“ Bukschella – seine Frau.

Bukscho – älterer Sohn, zehn Jahre alt, 6. Klasse, ein Jahr vor dem Plutoniumdiplom. In Mathe und Kernphysik Klassenbester. Hat eine große Zukunft vor sich.

Yaa – kleine Schwester, Anfang fünf, wird demnächst eingeschult. Ist ebenfalls gut in der Schule.

Frau Lange – Bukscho’s Klassenlehrerin.

Herr Pitnomulu – Yaa’s Klassenlehrer.

Kullo Kackscha – Schüler mit Vogelspinne in Yaa’s Klasse. Leider sitzen geblieben.

Plippo Ruckscha – Bukscho’s Fachlehrer in Mathematik, Physik und Kernphysik. Von heiterem Gemüt, hilfreich, kann aber auch streng durchgreifen, wenn es sein muss.

Zwillu Fromspeck – schüchterne Schülerin eine Klasse tiefer als Bukscho.

Krocklo Tschack – Mitschüler von Zwillu Frommspeck. Frech, sehr schlechtes Benehmen.

Backo Blacklack – Mitschüler aus Bukscho’s Klasse. Mittelmäßig in der Leistung, eher schlecht im Betragen.

Luschel Schrompf – Boss des Suchteams für Schulschwänzer, aber auch echte Notfälle.

Eusebius Schmaldach – Kullo’s neuer Klassenlehrer.

Kocko Zluckkluck – spleeniger, verrückter Typ. Obstbaumexperte. Leider auch Experte von Alkohol und Haschisch. Paradebeispiel dafür, was Alkohol und Drogen so anrichten können!

Rufina Weitpfiff – energische Dame im Terraform-Team, unter anderem Expertin für Blumen und Insekten.

Klopus Kahlhaus – Tierexperte in der Terraform-Gruppe.

Agatha Großraumer – Beste Cargo-Lifterin. Rettet ganze Stadt vorm Abriss.

Slapzock Unterdurch – Entdecker einer riesigen Uranmine.

Schlopplop Wuffo – Fertigt Stahlcontainer für den Getreidetransport an.

Dopellina Wuffo – Seine Frau. Stellt Plutoniumzigaretten her.

Babette Wuffo – Tochter der Beiden, etwa in Yaa’s Alter. Mit Yaa dick befreundet.

Rüsseldraußen – Anführerin von Yaa’s Fliegengang.

Bissgurke – Mitglied von Yaa’s Fliegengang. Später Anführerin einer eigenen Gang.

Stutzflügler – Großes, stahlblaues Fliegenmännchen. Boss von Babettes Fliegengang. Hatte ein erfolgreiches Schäferstündchen mit Rüsseldraußen.

Es war ein Tag wie die meisten anderen Tage hier auch. Es dämmerte, und der Horizont im Osten verfärbte sich grünlich. Die große gelbe Sonne tauchte zuerst über den Horizont. Zehn Minuten später die zwei kleinen, leicht bläulichen Sonnen, die ein Paar waren. Eine leichte Brise versetzte das hohe, rosarote Gras in leichte, wellenförmige Bewegungen, jenseits der Wiese rauschten die rotviolettfarbenen Bäume ganz leise. Der Tag begann ganz sanft und ruhig – ja, bis auf einmal lautes Geschrei aus dem kleinen runden Haus zwischen den großen, alten Bäumen ertönte: “Heh, dieser verdammte Wecker ist stehen geblieben! Los! – Ruf’ sofort die Zeitansage an! – Hast gestern vergessen, den Wecker aufzuziehen, mal wieder klar! Heute ist doch Einschulungsfest für Yaa! Und Bukscho muss doch dringend fürs Plutoniumdiplom büffeln, das er in einem Jahr ablegen muss!“ Bukschella schimpfte laut.

Wacko Blatscho seufzte. Als Familienoberhaupt machte man was mit! Wenigstens war er gestern Abend – nach der Sitzung des Terraform – Ausschusses für den äußeren Nachbarplaneten Plutschiko – noch im Supermarkt einkaufen gewesen: Zwei Liter angereicherte Milch, ein Laib angereichertes Brot, Äpfel und Tomaten, angereicherte Wurst, Käse und Butter für die Kinder, die ja das ``Plutonium – Diplom´´ noch nicht hatten – und ein Kilo Plutonium für sich und seine Frau Bukschella.

Laut Zeitansage war es schon kurz nach neun. Wacko seufzte, zog mit einem Gedankengang den Wecker auf. Die Zeiger verstellten sich wie von Geisteshand in die richtige Position. Bukscho hätte schon seit acht Uhr in der Schule sein müssen, Yaa’s Einschulungstermin war erst um elf. Und da Bukscho heute keine Kernphysik und keine Mathematik auf dem Stundenplan hatte – sondern nur Sprachlehre, Geschichte und Megaturnen, war das Ganze nicht so schlimm. Wacko dachte sich ein Entschuldigungsschreiben für Bukscho aus, das darauf einfach auf einem leeren Blatt Papier entstand. Das bekäme dann Frau Lange, seine Klassenlehrerin, wenn sie dann alle zusammen kurz nach zehn Uhr los fliegen würden zu Yaa’s Einschulungstermin.

Yaa hatte schon seit Tagen ihre Schulmappe fix und fertig gehabt, anbei ein kleines Notfallhandy und ein winziges Fliegenhaus, das an einer kurzen Schnur an der Schulmappe herunterbaumelte. Das kleine Handy hing um Yaa’s Hals, es wurde mit einer Atombatterie betrieben, klein wie ein Streichholzkopf und zehn Jahre haltbar – mindestens. Das kleine Mobiltelefon enthielt neben zwei von den Eltern eingegebenen Rufnummern, die der Eltern und des Schulsuchdienstes für vermisste Kinder noch die rote Taste der fest installierten Nummer für den so genannten Plutoniumnotruf. Er hatte die 94 und diente auch bei Feuer, Überfall, Unfall oder anderen gefahrvollen Notfällen. Aber hauptsächlich, wenn einem mitten im Fluge das Plutonium ausging, weil man nicht rechtzeitig vorgesorgt hatte, und weit und breit nur die Wildnis war. Drei Satelliten in Zusammenarbeit stellten dann die Koordinaten des betreffenden Handys fest und übermittelten diese automatisch an die nächste Notrufzentrale, die dann sofort jemanden losschickten mit genug Plutonium dabei – und einer Ermahnung, in Zukunft besser aufzupassen!
Das kleine Fliegenhaus war nicht größer als Yaa’s geballte vierfingrige Faust, und ein kleines, kunstvolles Gebilde aus Glas und Metall. Halb wie ein winziger Vogelkäfig, halb wie ein winziges Haus, und wie viele der Häuser hier in der Gegend auch nach oben hin kuppelförmig rund.

Es diente den Hausfliegen, wenn sie Yaa mal dereinst mit zur Schule begleiten würden, als Unterschlupf, falls sie mal keine Lust zum Umherfliegen hätten, oder schlechtes Wetter käme, und Yaa in ihren jungen Jahren mit ihren Gedanken mal woanders wäre – und einen Schutzschirm gegen Regen um sich herum vergessen würde!

Jedenfalls hatte die ganze Familie, inklusive der dort anwesenden zahmen Stubenfliegen, nun genug Zeit für ein ausgiebiges Frühstück: Angereichertes Brot nebst angereicherter Butter, angereichertem Käse, Wurst oder Marmelade. Und natürlich: Angereichertes Fliegenfutter für die Hausfliegen, pardon! – Was „angereicherte Nahrung“ ist? – Ja, wie angereichertes Uran, sozusagen, - und sogar wortwörtlich zu nehmen! Extra für all die Schüler hergestellt, die noch nicht das Plutoniumdiplom hatten – aber doch so weit bis zu ihrer Schule fliegen mussten! Gewöhnliches Brot tat’s da nicht. Man reicherte es also schon fabrikmäßig mit ein paar Milligramm reinem Uran oder Plutonium an – was auch für Kleinkinder erlaubt war. Trempokolo – ihre Heimatwelt – war an vielen Stellen nur dünn besiedelt, und ein Flugweg zur Schule von 500 Kilometer oder mehr (!) waren da keineswegs selten! Internate andererseits aber unüblich, die Kinder, zumal die kleinen, sollten daheim in ihrer Familie weilen. So wurde also eben geflogen. Pro hundert Kilometer etwa zwei Minuten. Natürlich nur mit gehaltvoller, sprich, angereicherter Nahrung möglich!


Für die Erwachsenen und alle, die erfolgreich das Plutoniumdiplom bestanden hatten, nach durchschnittlich vier Semester Kernphysik in der Schule, war dies eh kein Thema. Plutonium und gutes Uran gab’s ja überall. Wo es halt so Lebensmittel zu kaufen gab: In Supermärkten und in Kaufhäusern, in Gaststätten sowieso, auch in Apotheken und Drogerien, und sogar in Reisebüros. Selbstverständlich auch in den großen, Strom erzeugenden Kernkraftwerken des Planeten – und in sämtlichen Plutonium- und Atomfabriken sowieso. Die nächste war aber mehr als 1300 Kilometer Luftlinie weit weg! Der Supermarkt aber nur 504 Kilometer – an der anderen Seite jenes kleinen Ortes gelegen, zu dem auch die Schule gehörte – vom Haus der Blatschos aus gesehen.

Als alle fertig gegessen hatten, hob die ganze Familie ab: Ein Gedanke genügte dazu schon. Weitere Hilfsmittel dazu, wie Teppiche, Reisigbesen, große geflügelte Reittiere oder gar Flugzeuge waren dafür unnötig. Ein Energiefeld, das man während des Fluges produzierte, reichte völlig. Mit dem gleichen Energiefeld konnten die Trempokolonen auch berührungslos Dinge bewegen oder verändern. Diese psychokinetische Fähigkeit war ihnen angeboren. Ob der Einzelne aber lediglich einen kleinen Kiesel, oder einen gewaltigen Berg auf diese Weise zu bewegen vermochte, hing nicht von seinem Können ab, und war auch keine Frage der Anspannung oder der Konzentration – sondern nur der Energie geschuldet, die der Betreffende vor diesem Akt zu sich genommen hatte, um damit sein Energiefeld aufzubauen. Es ging mit allem, was Energie enthielt: Sahnetorte oder Stroh, Kartoffeln oder Kohle, sowohl mit Karpfen als auch mit Kerosin, mit Döner wie mit Diesel, mit Heringen wie mit Holz – oder mit Pizza und mit Plutonium! Aber dies war, außer dem Letzteren, nur bescheiden, und zum Teil nicht besonders schmackhaft. Uran und Plutonium, in der üblichen metallischen Kugelform, roch und schmeckte wie eine Stahlkugel oder Glasmurmel: Nach nichts. Vom schönen Kitzeln seiner intensiven Strahlung mal abgesehen. Doch als Energieträger mehr als eine Millionen Mal so stark wie jedes andere Nahrungsmittel auf Trempokolo!
Die Familie hatte genügend Zeit, so flogen sie ganz gemütlich und ohne jegliche Hektik zu besagter Schule am Rande des kleinen Städtchens namens Plinotumu. Auf ihrer langen Strecke überflogen sie das hohe, schroffe Zackenfelsgebirge, das vom Teufelsfluss durchzogen wurde, ein wild brausendes Gewässer. Wehe dem, der hier hinein fiel, weil ihm jegliche Energie ausgegangen war, vor allem in Höhe der berüchtigten Teufelsschlucht, über die die vier – nebst 25 Hausfliegen im Schlepptau – hinweg flogen. Sanft bewaldete Hügel folgten nun, und in der Ferne, im Tal, lag der verträumte Ort Plinotumu. Und vorn war auch schon die Schule sichtbar!

Die Schüler hatten wohl gerade Pause. Es sah aus, als würde ein Schwarm sehr, sehr seltsamer grüner Vögel über der Schule kreisen – obgleich beim näheren Hinsehen davon nicht viel Ähnlichkeit blieb: Der Trempokolone mochte einem Erdenmenschen im Durchschnitt nur bis zur Schulter reichen und war meist mager, jedenfalls bis vor der Atomära. Seine Haut war hellgrün mit dunkelgrünen kleineren und größeren Flecken. Er hatte zwei Beine und zwei Arme wie ein Mensch, die Füße aber nur zwei Zehen und nur je vier Finger an einer Hand: Drei Finger und der Daumen.

Am Kopf waren die großen, oben zweigeteilten Ohren weit oben angebracht, und die extrem lange Nase in der Gesichtsmitte lief in zwei separate Enden aus, je ein Loch in jedem Ende, und einzeln voll beweglich, fast so wie die Finger. Fürwahr ein skurriler Anblick, wenn auch nicht vogelähnlich. Flügel hatten sie keine, dafür in der Steißbeingegend einen Stummelschwanz. Haare besaßen sie nicht, selbst ihre Augenbrauen über den großen, ausdrucksstarken gelbgrünen Augen waren nur dicke, bewegliche Hautwülste. Dafür gab es einen dunkelgrünen Zackenkamm um den Hals.

Genitalien und Brüste gab es ebenfalls nicht. Wurde Sex gewünscht, konnten sich die betreffenden Personen mal so auf die Schnelle Genitalien wachsen lassen, eine Minutensache, die hernach wieder verschwanden. Wobei die Art des Genitales auch nicht geschlechtsspezifisch war. Oft schliefen die Trempokolonen auch nicht miteinander, sondern lieber mit einem speziellen, dafür extra konstruierten Atomreaktor, der dafür ein passendes Loch in der Mitte hatte. Da alle Trempokolonen Radioaktivität wahrnehmen konnten in Form eines sehr lustvollen Kitzelns und Prickelns quer durch den ganzen Körper hindurch, war dies natürlich eine gute Alternative, und auch für die Privatsphäre des Betreffenden, wenn der sonst keinen Wunsch hatte, eine Partnerschaft einzugehen.

Die Familie setzte vor dem großen Tor des Hauptgebäudes zur Landung an. In dem Schulbüro zur Rechten wurden die Anmeldeformalitäten für Yaa erledigt. Die Einschulungsfeier würde in knapp einer halben Stunde in der großen Aula geradeaus stattfinden.

Herr Blatscho fragte noch nach Frau Lange, Bukschos Klassenlehrerin. Ob sie im Lehrerzimmer sei? – Nein, Pausenaufsicht. Werd’ sie mal rufen lassen.


Im Büro wurde ein Knopf dreimal kurz, viermal lang gedrückt. Der Neutronen-Morsecode für Frau Lange. Sie selbst in dem umeinander fliegenden Schülerhaufen zu suchen, hätte zu lange gedauert. Eine Minute später schwebte sie heran. Herr Blatscho händigte ihr das Entschuldigungsschreiben für Bukscho aus nebst der Bitte, dass Bukscho beim Einschulungsfest seiner kleinen Schwester anwesend sein dürfe. Das wurde selbstverständlich gewährt. Da ``klingelte´´ es erneut – in Form eines einzelnen, lang gezogenen Neutronenstrahles, der das ganze Areal über der Schule und um die Schule herum erreichte. Pause Ende. Während alle übrigen Schüler nebst ihrer Lehrer zurück in ihre Unterrichtsräume schwebten, begaben sich alle zukünftigen Erstklässler, ihre Eltern, Geschwister, teilweise sogar Großeltern und ihrer zukünftigen Klassenlehrer in die Aula. Das Ganze mutete wie ein Schwarm merkwürdiger Fische an, die in einem viel zu engen Aquarium gehalten würden! Alles wieselte und wuselte durcheinander, vom Boden bis hoch zur Decke in über sechs Metern Höhe. Immerhin waren 52 Schüler anwesend – dazu noch 255 Eltern, Großeltern, Geschwister und vier Klassenlehrer, vier Fachlehrer, zwei Aushilfslehrer und der Rektor. Macht summa summarum 318 Personen mit grünen Flecken. Die vielen Stubenfliegen, die fröhlich zwischen ihnen herumsummten, nicht mitgerechnet, ebenso nicht die zahme Vogelspinne von Kullo Kackscha, der ebenfalls ein zukünftiger ABC -Schütze an dieser Schule sein würde.
Der Rektor, der vorn über dem erhöhten Podest schwebte, bat alle Leute, sich zu setzen und begrüßte sie anschließend. Aber kaum war ein bisschen Ruhe eingekehrt, und alles saß – sogar auf richtigen Stühlen, und nicht bloß so in der Luft – ging der Tumult erst richtig los! Der Rektor hatte gerade das erste Blatt für seine Rede genommen und das Mikrofon etwas nachjustiert, da gab es weiter hinten in der großen Aula ein lautes Geschrei! Ein Getümmel von mehreren Schülern und einer großen Fliegentraube bahnte sich da an. „Ja, um Plutoniums Willen, was ist denn da hinten los?!“ rief er laut in sein Mikro. Keine Wirkung. Er aktivierte den an der Vorderseite seines Katheders angebrachten Gammastrahler: Drei derbe, harte Strahlenstöße quer durch die große Halle, auf den Tumult gerichtet. Endlich! Dashalf! Laut schimpfend flog der Rektor – mit ungefähr dem Tempo eines Düsenjets! – nach hinten, um nach dem Rechten zu sehen.

Kullo Kackscha schrie aus Leibeskräften und wedelte wild mit beiden Händen in der Luft herum. Ein ganzer, wütender Fliegenschwarm griff ihn an, wieder und wieder! Nein – nicht ihn! – Sondern seine zahme Vogelspinne in ihrem kleinen Käfig, der schon ganz demoliert war! Die Spinne, mehr als zehnmal so groß als selbst die größte anwesende Fliege, versuchte sich in einer Ecke ihres verbeulten Käfigs zu verkriechen und zitterte vor Angst.

„Heh, ruft mal Eure Fliegen zur Ordnung!“ schimpfte da der Rektor. „Die Spinne hat niemandem was getan, und wir sind doch hier nicht beim Raubüberfall in einem gruseligen Krimi!“

Nun, wie bändigte man wild gewordene Fliegen, wenn diese gerade beim Anblick ihres natürlichen Feindes einen Tobsuchtsanfall bekommen hatten? – Nun, Yaa hatte immer für ihre Lieblinge ein Döschen Erdbeermarmelade dabei, andere Schüler und deren Eltern auch Schokoladencreme oder neues, schmackhaftes Fliegenfutter mit Fischaroma! Dafür ließen die Fliegen – zumindest für den Moment – jede Spinne links liegen.

So kehrte erst einmal wieder Ordnung ein. Den Fliegen wurden von den jeweiligen Schülern oder deren Eltern die Leviten gelesen. Auch Yaa schimpfte per Fingersprache mit ihren Fliegen, vor allem der Anführerin des ihrigen Fliegenclans, eine große, grün schillernde Fliege mit ziegelroten Augen, ein stattlicher Brummer von über zwei Zentimeter Größe. Sie war die intelligenteste Fliege der ganzen Clique und konnte am besten sprechen. Sie hörte auf den Namen ``Rüsseldraußen´´. Rüsseldraußen hatte Yaa sie deshalb genannt, weil sie besonders verfressen war und einen großen, sehr langen Saugrüssel hatte, der bei ihr immer draußen war, um flugs in der Erdbeermarmelade oder in anderem Naschwerk zu verschwinden. Sie war die einzige in ihrem Fliegenclan, die ihn sogar als „Waffe“ benutzte: Wenn Rüsseldraußen sich besonders stark fühlte, vollgefressen mit plutoniumhaltigen Fliegenfutter, ja – dann haute sie ihren langen Rüssel ihren ehemaligen Fressfeinden, wie Spinnen zum Beispiel, schon mal rechts und links um die Ohren! Was Yaa bezeugen kann – dabei haben doch Spinnen keine Ohren! Zumindest im menschlichen Sinne nicht, auch wenn diese „Menschen“ grün gefleckt waren. . . 

Jedenfalls ging es nicht an, Kullo’s Spinne zu vermöbeln!

Die Hausfliegen waren auf Trempokolo so etwas wie kleine, geflügelte Familienmitglieder, und rangierten hier weit vor Hunden, Katzen, Meerschweinchen oder auch Pferden. (Von Spinnen mal ganz zu schweigen!) Anders als auf der Erde waren die hier Einheimischen weit davon entfernt, in den Hausfliegen bloß lästiges Ungeziefer zu sehen, das man aus Leibeskräften mit allen möglichen Gemeinheiten bekämpfen musste wie Fliegenspray, Giftköder oder Leimfallen mit süßem Honigduft. . . 

Hier, auf Trempokolo, wurden die Fliegen gehegt und gepflegt und von den Hausbewohnern verwöhnt. Sie bekamen sogar extra Fliegenfutter, und die raffinierteren von den Fliegen versorgten sich auch schon mal gern in der nächsten Plutoniumfabrik selbstständig mit Atomfliegenfutter. In den Atomfabriken wusste man das. Dort gab es stets ein kleines Fliegenfenster in der Wand, wo die Fliegen nach Herzenslust ein- und ausfliegen durften, um sich selbst mit der leckeren Plutoniumzutat zu versorgen. Dienst am Kunden halt, und die Fliegen machten davon auch reichlich Gebrauch. . . 

Anschließend streiften sie oft in der Gegend herum und machten die umliegenden Parks, Wälder und Wiesen unsicher, ehe sie zu ihren Häusern zurückflogen. Es gab dort regelrechte Fliegengangs, in jedem Haus, in dem Fliegen gehalten wurden, bildete normalerweise eine solche. Und jede Gang hatte eine Anführerfliege, das war die größte, stärkste und klügste Fliege. Das Geschlecht war dabei egal. Die Fliegengang des Hauses Blatscho, besser Yaa’s Gang, weil die Fliegen öfter mit ihr als den anderen zusammen waren und sie nun auch oft zur Schule begleiten würden, bestand derzeit aus 25 Fliegen.

Neben der Anführerfliege ´´Rüsseldraußen`` waren die anderen Fliegen, nur halb so groß, schon direkt klein zu nennen. Da gab es die golden schillernde Pullipulli, Eulalia war stahlblau, und Plutonia glänzte wie poliertes Silber. ´´Bissgurke`` hieß nicht umsonst so. Sie war schwarzgrau und ging besonders gern an Verletzungen, was unangenehm zwickte. Und sie war auch die Unbelehrbarste von allen, musste am meisten von Yaa – wie auch von Rüsseldraußen – ermahnt und zurechtgewiesen werden, etwas störrisch halt, was bei Fliegen aber durchaus des Öfteren vorkam. „Schlabberliesel“ war eine reinweiße Albinofliege mit Augen, so schön wie Rubine. Sie trug ihren Namen zu Recht, weil sie so verfressen war. Kein Erdbeermarmeladentopf war vor ihr sicher, keine Honigstulle, keine Sahnetorte. Auf Plutonium stand sie aber – seltsamerweise – nicht so sehr, was für eine Fliege ja nicht ungefährlich war: Wie sollte sie sich – so nackt und ohne – ihrer übermächtigen Fressfeinde im Notfalle erwehren?

Die schnellste Fliege war braun gefleckt und hieß „Wiesel“. Schnell wie ein Wiesel halt. So gab es noch verschiedene andere Fliegen, bis herunter zur Kleinsten, die den zärtlichen Kosenamen „Tierchen“ oder auch bloß „Tierle“ von Yaa erhalten hatte.

Jede einzelne Fliege hörte auf ihren Namen. Alle miteinander waren intelligent genug, die Fingerfliegensprache der Zweibeiner zu sprechen, also zu verstehen und zu erwidern. Rüsseldraußen, der Boss des Clans, obgleich ein Weibchen, war darin natürlich am gewitztesten. Sie konnte mit den anderen Fliegen – und auch den Grüngefleckten natürlich – Witze austauschen und sogar flunkern, was aber bei Fliegen auch nicht so sehr selten vorkam. . . . Die Fingersprache erwiderten die Fliegen mit ihren Beinchen, manche Ausdrücke auch mit Haltung und Stellung ihrer Flügel. Sie konnten auch die Lippenbewegungen der Trempokolonen ablesen, wenn diese deutlich genug erfolgten. Über den Schall war dies unmöglich, da die Fliegen nur Ultraschall wahrnehmen konnten. Den aber konnten unsere Alienfreunde mit normalem, untrainiertem Gehör nur teilweise hören. Mit einer intensiven Gehörschulung ging das zwar ganz gut, Fliegen konnten dennoch nicht sprechen, da sie keine Stimmbänder besaßen. Bei Gefahr stießen sie lediglich leise Warnpfiffe aus.


Sonntag, 24. November 2024

Hugo Ball: Hymnus 1

 




Hymnus I

Zu sagen ist nichts mehr. Vielleicht, daß etwas noch gesungen werden kann. „Du magisch Quadrat, jetzt ist es zu spat“ So spricht einer, der zu schweigen versteht. „Ambrosianischer Stier“: gemeint ist der ambrosianische Lobgesang. Eine Hinwendung zur Kirche zeigt sich an in Vokabeln und Vokalen. Der Hymnus beginnt mit militärischen Reminiszenzen und schließt mit einer Anrufung Salomons, jenes großen Magiers, der sich tröstete, indem er die ägyptische Königstochter an sein Herz zog. Die ägyptische Königstochter ist die Magie.

Du Herr der Vögel, Hunde und Katzen, der Geister und Leiber, Gespenster und Fratzen.
Du Oben und Unten, Rechtsum und Linksum, Geradeaus, Kehrteuch und Haltwerda,
Der Geist ist in dir und du bist in ihm, und ihr seid in euch und wir sind in uns.
Der Auferstandene bist du, der überwunden war.
Der Entfesselte, der seine Ketten zerriß,
Der Allmächtige bist du, Allnächtige, Prächtige, mit einem brennenden Topf auf dem Kopf.
In alle Sprachen und Windrichtungen ist dir der Donner im Kasten zersprungen.
In Vernunft und Unvernunft, im toten und lebenden Reiche raget dein Blechhals und saust
deine Speiche.
Mit großem Brüllen kamst du, Sturmhaube der Rebellion, Krähtrompete, Völkersohn.
In Feuerschlünden und Kugelsaat, in Sterbegewinsel und endlosem Fluche,
In Blasphemien sonder Zahl, in Schwaden von Druckerschwärze, Oblaten und Kuchen.
So sahen wir dich, so hielten wir dich, in Gesichterregen, geschnitzt aus Achat.
Auf umgestürzten Thronen, zerspellten Kanonen, auf Zeitungsfetzen, Devisen und Akten,
Bunt aufgeputzte Puppe, hobst du das Richtschwert über die Vertrackten.
Du Gott der Verwünschungen und der Kloaken, Dämonenfürst, Gott der Besessenen.
Du Mannequin mit Veilchen, Strumpfbändern, Parfums und einem Hurenkopfe bemalt.
Deine sieben Jungen blecken die Zungen, deine Großtanten werden zuschanden, eine rote Kugel ist deine Gugel.
Du Fürst der Krankheiten und Medikamente, Vater der Bulbo und Tenderende,
Der Arsenike und Salvarsäne, der Revolver, eingeseiften Stricke und Gashähne,
Du Löser aller Bindungen, Kasuist aller Windungen,
Du Gott der Lampen und der Laternen, du nährst dich von Lichtkegeln, Dreieck und Sternen.
Du Folterrad, russische Schaukel der Qual, Homozentaurus, in Flügelhosen schwebend
durch den Krankensaal,
Du Holz, Kupfer, Bronze, Turm, Zinke und Blei, als Eisengockel schwirrst du geölt vorbei.
Du magisch Quadrat, jetzt ist es zu spat, du mystisch Quartier, ambrosianischer Stier,
Herr unserer Entblößung, deine fünf Finger sind das Fundament der Erlösung.
Herr unseres Jäger- und Küchenlateins, Lemantotrommel unseres Daseins, Äthernist,
Kommunist, Antichrist, oh! Hochweisige Weisheit des Salomo!

Text: Hugo Ball (1886 – 1927)


Aus: "Tenderenda der Phantast", Wallstein Verlag, Göttingen 2015, das Buch wurde zwischen 1914 und 1920 geschrieben, jedoch erst 1967 das erste Mal veröffentlicht


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Gesprochen und klanglich illuminiert von Dingefinder Jörg Krüger

Es wurden Filmschnipsel verwendet, in etwa aus der Zeit, hauptsächlich aus Filmen von Germaine Dulac (1882 - 1942) („La coquille et le clergyman“, 1927; „Themes et variations“, 1928; „Danses espangnoles“, 1930) und aus Metropolis von Fritz Lang von 1927.