Es gibt die einen und es gibt die anderen Seiten. In diesem Blog möchte ich als Dingefinder die anderen Seiten desselben publizieren. Denn diese machten sich auf ihre Art selbstständig. . .
Brecht nicht herein! Lasst die Bäume noch glücklich sein! Sie atmen, sesshaft in den Boden gestellt, Eine reine, klare, sittliche Welt! Nur wie ein Traum weht ihr Sehnen, Hinüber und herüber Aus tiefster Säfte getragener Traumesfieber! Alle Jahre! alle Jahre werden sie wieder Frisch! Voll Frühlingsbegeisterung! Und tausend Jahre sehen sie wieder jung! Alljährlich im frischen Knospensprung! So wachsen sie hinein in Ätherbläue Ohne Schuld und ohne Reue – – – Laßt die Bäume noch glücklich sein! Schöpfungsatmend! Lebensfeiernd! Menschenallein!
Elsa Asenijeff, geboren am 3. Januar 1867 in Wien, gestorben am 5. April 1941 in der „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ in Bräunsdorf, in die sie von den Nationalsozialisten „verbracht“ wurde, der Aktenlage nach an Lungenentzündung.
Einem zweijährigen Aufenthalt in der Heilanstalt Leipzig-Dösen, folgte 1926 die Überstellung nach Hubertusburg und schließlich als „nicht gemeingefährlich“ in das Versorgungshaus Colditz. 1933 siedelten die Nationalsozialisten diese Einrichtung als „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ nach Bräunsdorf bei Freiberg um.
Aus dieser Zeit, von ihr datiert 1938, stammt ein Manuskript mit über 200 Gedichten mit dem Titel „Bilanz der Moderne“. Diese Gedichte, inzwischen veröffentlicht, und auch Krankenakten belegen, dass sie nicht geisteskrank war. Bräunsdorf war auch keine Anstalt für Geisteskranke.
1922 meldet sie sich mit dem Buch "Aufschrei - Gedichte in freien Rhythmen" zu Wort: "Wie rett ich Dich, o Welt, vom Menschen;/ ohne ihn zu vernichten!/…./Wie halt ich Milliarden Hände!/ Die sich schändend an Dir vergehen/…/Welch ein Mund,/Ihnen zu verkünden: Das Paradies hat euch geboren,/Und die Hölle habt Ihr geboren!/ Laßt noch Sterne über ihren Dünsten leuchten,/Hell brennende Gold- und Edelsteine als Grund,/Blütenüberschütteter Boden dazwischen…." Sie appellierte an alle, sich für das Leben und den Fortbestand der Erde verantwortlich zu fühlen.
Von 1898 bis 1916 war sie Muse und Geliebte des Malers und Bildhauers Max Klinger (1857 - 1920), der sie häufig malte.
Das Bild „Stamm und Äste im Frühjahr“ (1930) ist von Leon Spillaert (1881 - 1946)
Strahlt nicht auf mitunter, so zu Zeiten Kunde her von unsern Ewigkeiten?
So urplötzlich und so blitzesschnelle Wie die blanke Spiegelung einer Welle?
Wie die ferne Spiegelung eines bunten Kleinen Scherbens an dem Kehricht drunten?
Wie die rasche Spiegelung einer blinden Fensterscheibe am Gehöft dahinten?
Die metall’ne Spiegelung einer blanken Pflugschar drüben an der Wiese Schranken?
Augenblicks mit Licht für dich übergießend, Augenblicklich in ein Nichts zerfließend?
Kannst du wissen?
Kannst du wissen, ob von deinem Hauche Nicht Atome sind am Rosenstrauche? Ob die Wonnen, die dahingezogen, Nicht als Röslein wieder angeflogen? Ob dein einstig Kindesatemholen Dich nicht grüßt im Duft der Nachtviolen?
Christian Friedrich Wagner, geboren am 5. August 1835 in Warmbronn, Baden-Württemberg; gestorben am 15. Februar 1918 ebenda, Kleinbauer und Dichter.
„... er fühlte die tiefe Zusammengehörigkeit zwischen Tier, Mensch und Pflanze, Stein und Stern. Und er liebte das alles. ... Er war dogmenlos fromm. ... Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß, 'Duliöh!' zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen. Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, daß wir ihn alle läsen und verehrten.“ (1919)
Kurt Tucholsky
Seine Stellung zur Kriegslyrik war eindeutig, wie aus einem Brief an Hermann Hesse hervorgeht: Nachdem er schon mehrfach „um Kriegslieder angegangen worden“ sei, schreibt er weiter: „das Heldentum des Nitroglyzerins erkennen wir [Dichter] nicht an!“ Als der befreundete Dichter und Kriegsdienstverweigerer Gusto Gräser aus Deutschland ausgewiesen werden sollte, setzte er sich für ihn ein. Der spätere Dadaist Johannes Baader besuchte ihn 1916 in Warmbronn und hielt daraufhin begeisterte Vorträge über Wagner.
Er leidet sehr unter dem fortgesetzten Kämpfen und Töten und wünscht sich, Eremit zu werden. „Ich beklage, dass es in Deutschland keine Wälder mehr gibt, wie im Mittelalter, zur Zeit der Eremiten, in die hinein ich mich verkriechen könnte, um dort nur noch mit frommen Tieren zu leben.“
„Lieber ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ“
Im Winter 1884 nutzte Wagner die freie Zeit zum Sichten seiner poetischen Versuche und stellte sein Manuskript Märchenerzähler, Bramine und Seher zusammen, das im Frühjahr 1885 in einem Stuttgarter Verlag erschien, nachdem er die Herstellungskosten des Buches übernommen hatte. In diesem Werk sah er sich selbst als Bramine, der „alles Lebendige schonend und achtend durch die Fluren wandelt“, er versicherte jedoch, nie buddhistische Schriften gelesen zu haben.
Anita Clara Rée, geboren am 9. Februar 1885 in Hamburg; gestorben am 12. Dezember 1933 in Kampen auf Sylt, Malerin der Avantgarde. Sie hatte in der Zeit der Weimarer Republik ihren künstlerischen Durchbruch. Gegen Ende der Weimarer Zeit begegnete sie vermehrt antijüdischer Hetze. Schon 1932 wurde von evangelischer Seite unter Vorwänden die Abnahme des fertigen Auftrages für ein Altartryptichon verweigert. Diese Ausgrenzung nahm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch erheblich zu. Im Dezember 1933 beging Anita Rée vereinsamt auf der Insel Sylt Suizid.
Kurz bevor sie sich das Leben nahm, schrieb sie an ihre Schwester Emilie: „Ich kann mich in so einer Welt nicht mehr zurechtfinden und habe keinen einzigen anderen Wunsch, als sie, auf die ich nicht mehr gehöre, zu verlassen. Welchen Sinn hat es – ohne Familie und ohne die einst geliebte Kunst und ohne irgendwelche Menschen – in so einer unbeschreiblichen, dem Wahnsinn verfallenen Welt weiter einsam zu vegetieren … ?“
Zum Andenken an Peter Kropotkin (9. 12. 1842 - 8. 2. 1921)
Als Sohn eines Fürsten in Russland geboren, entwickelte er sich zu einem der einflussreichsten anarchistischen Schriftsteller. Zweimal wurde er zu fünf Jahren Gefängnishaft verurteilt. Das erste Mal 1874 wegen der Teilnahme an dem geheimen Diskussionskreis. Anarchistische Freunde sorgten für eine Verkürzung, indem sie ihm zur Flucht verhalfen. Das zweite Mal in Frankreich 1883 wegen Mitgliedschaft in der Internationale der Arbeiterbewegung. Für die Verkürzung dieser Strafe sorgten öffentliche Proteste renommierter Wissenschaftler.
„Ich hatte reichlich Gelegenheit, die Bauern, ihre Lebensweise und Gewohnheiten, im täglichen Leben zu beobachten, und noch mehr Gelegenheiten zu erkennen, wie wenig die staatliche Verwaltung, auch wenn sie von den besten Absichten beseelt war, ihnen zu bieten vermochte“
„In unserer Schule zielte alles darauf ab, uns zur Kriegsführung zu ertüchtigen. Wir würden aber mit derselben Begeisterung an das Trassieren einer Eisenbahn, oder Bestellen eines Feldes gegangen sein. Doch aller Drang unserer Jugend nach wirklicher Arbeit wurde mißachtet.“
Aus „Memoiren eines Revolutionärs“
Lenins Parole „Alle Macht den Räten“ war ganz im Sinne der Anarchisten. Aber Lenin vertrat sie nur aus taktischen Gründen. Tatsächlich bekämpfte er die russischen Anarchisten. In einer „Botschaft an die Arbeiter des Westens“ warnte Kropotkin:
„Ich bin der Ansicht, dass dieser Versuch, auf staatlich-zentralistischer Grundlage und unter dem eisernen Gesetz einer Parteidiktatur eine kommunistische Republik zu errichten, mit einem großen Fiasko enden wird. Russland lehrt uns, wie der Kommunismus sich nicht aufdrängen sollte.“
Die russische Übergangsregierung von 1917 will seine Popularität nutzen und bietet ihm den Posten des Bildungsministers an. Doch Kropotkin lehnt ab, weil er kein Staatsdiener sein will. Stattdessen macht er sich unter den aufstrebenden Bolschewiken unbeliebt. Er beklagt die Entwicklung des Kommunismus unter Lenin, prangert die Zentralisierung des Staates und das brutale Vorgehen gegen Dissidenten an.
Während zahlreiche seiner Mitstreiter in dieser Zeit politischen Säuberungen zum Opfer fallen, bleibt Kropotkin trotz seiner öffentlichen Kritik unbehelligt. Wahrscheinlich rettet ihm seine Beliebtheit in der Bevölkerung das Leben. So ist ihm ein natürlicher Tod vergönnt. Er stirbt am 8. Februar 1921 in Dmitrow bei Moskau im Alter von 78 Jahren.
Im Jahr 1892 erscheint „Die Eroberung des Brotes“, in dem er die Abschaffung des Staates und der Lohnarbeit fordert. Darin versucht er, die anarchistische Theorie nicht wirtschaftlich, sondern naturwissenschaftlich zu begründen. Die Grundlagen liefern ihm seine Beobachtungen unter den Einheimischen Sibiriens und deren Selbstorganisation. Seine zentrale Forderung lautet: „Wohlstand für alle!“
“Durch erhebliche Vorurteile, durch falsche Erziehung und Belehrung gewöhnt, überall nur die Regierung, die Gesetzgebung und die Magistratur zu sehen, sind wir zu dem Glauben gekommen, dass die Menschen sich wie wilde Tiere zerreißen würden, wo der Polizist nicht mehr sein Auge auf uns gerichtet hält, (…).Und doch stehen wir (…) tausend und abertausend menschlichen Gruppierungen gegenüber, die sich in freier Weise gebildet haben und bilden- OHNE die Intervention eines Gesetzes, und die unendlich viel Höheres vollbringen, als solche, die unter gouvernementale Oberherrschaft zu Stande kommen. (…)”
Aus: Die freie Vereinbarung (Aufsatz von 1892)
Im Jahr 1902 vollendet er sein wohl bedeutendstes Buch: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, seine Antwort auf den Sozialdarwinismus. Den damals weit verbreiteten Glauben an einen natürlich bedingten „Kampf ums Dasein“ sieht er als eine Drohung gegen Schwächere an. „Für die fortschrittliche Entwicklung der Art“, schreibt Kropotkin, sei die „gegenseitige Hilfe“ hingegen „weit wichtiger“.
„Die gegenseitige Hilfe ist ebensogut ein Naturgesetz wie der gegenseitige Kampf, für die progressive Entwicklung der Species (Art) ist er aber von viel größerer Wichtigkeit als der Kampf.“ Im Oktober 1902 erschien das Buch in London und wurde kurz nach der Publikation in verschiedene Sprachen übersetzt. 1904 wurde das Werk erstmals von Gustav Landauer ins Deutsche übersetzt. Ich selber habe es in meinem Bestand und lese immer wieder einmal darin. „Gegenseitige Hilfe“ als Motor der Evolution, was für ein freundlicher Gedanke. Obwohl das Buch nach seiner Publikation nur auf mäßiges Interesse in wissenschaftlichen Kreisen stieß, wurde es später bei der Reinterpretation von Darwins Thesen wiederentdeckt und beeinflusste moderne Naturwissenschaftler wie Imanishi Kinii, Ashley Montagu und Adolf Portmann. Nicht zuletzt in dem Bestseller „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“ von Rutger Bregman (die deutsche Übersetzung erschien 2020 bei Rowohlt) taucht er wieder auf.
Als er in der Dämmerung des Morgens die Sichel des beginnenden Mondes wieder sah, schmal und zäh wie ein scharfes Laubblatt der Seggen auf den struppigen Wiesen, da wusste er um das Ende der drei Nächte der Kalindi, welche ihn an den Scheitelpunkt des Sommers führten. Groß stand die Sichel der Göttin über den in Dunst gekleideten Silhouetten der Höhen.
So schlug er zurück jene Decke aus wärmender Wolle, gefärbt in den Farben der Erde, und er richtete sich auf von der rauhen Schlafstätte. So stand er im taufeuchten Morgen und gedachte des ersten Tages, gedachte der ersten Nacht. Der erste Tag auf dem Lager, des Sommers drückende Schwüle ringsum, so fremd ihm die Welt. Vielleicht war es ein Krankenlager, denn Schmerzen begleiteten ihn, Schmerzen in allem, was sein Inneres war. Kaum zu regen wagte er eines seiner Glieder, denn Schmerz war alles in ihm, und Lähmung. So tauchte er ein in die beginnende Nacht.
Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab. Es waren die Träume vom grausamen Krieg, es waren die Träume von grausamer Folter, die dunklen Kommandos, deren Krieger Totenköpfe am Revers führen, die dunklen Kommandos, sie zogen durch seine Träume, und bleich die verkrümmten Körper im aschfahlen Licht eines anderen Mondes, bleich all der Tod, welche die dunklen Kommandos hinter sich ließen. Und einjede Folter traf den eigenen Körper, denn dieser war schutzlos in der dräuenden Nacht. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.
„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der schwarz gefiederte Morgenvogel sein Lied:
„Nun beginnt deine Zeit. Sei Bewahrer des Lachens, bewahre des Lebens Heiterkeit.
Und bedenke auch dies: Es hat seine Gründe, dass die Stadt dich verstieß.“
Und er gedachte des zweiten Tages auf dem Lager, des Sommers drückende Schwüle ringsum, so fremd ihm die Welt. So ferne gerückt in den Schleiern des strömenden Regens. Drückender Dunst legte sich über sein Krankenlager, und die Schmerzen begleiteten ihn. Schwer lastete aller Schmerz auf ihm, regungslos sein Körper auf der Lagerstatt - „Schmerz, das macht, dir rückt die Welt ferne“, klangen die Worte der Jugend in ihm. So tauchte er ein in die beginnende Nacht. Und es war seine zweite Nacht.
Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab. Es waren die Träume vom grausamen Krieg, in dessen Bomben die Körper von Kindern zerbarsten unter blutrotem Himmel der kreischenden Raketen, der donnernden Sprengungen, in denen die heimeligen Häuser zerfielen, in denen alle Heimstatt und Heimat verging. Währendessen erstanden sie neu, die dunklen Kommandos, deren Krieger Totenköpfe am Revers führten, und die dunklen Kommandos, sie zogen durch seine Träume. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.
„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der grau gefiederte Morgenvogel sein Lied:
„Nun beginnt deine Zeit. Sei Bewahrer des Herdes, bewahre des Lebens Heiterkeit.
Und bedenke auch dies: Es hat seine Gründe, dass die Stadt dich verstieß.“
Und so begann ein weiterer Tag auf dem Lager, und es war der dritte Tag, der begann. Und er wollte lesen in den Seiten der uralten Bücher, doch verschwommen die Zeilen vor seinen Augen, und die Buchstaben begannen zu tanzen, und sie tanzten in die Nebel. Und sie tanzten in die Nacht, und es war seine dritte Nacht.
Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab, und so kreiste im Dunkel der dunkelste Stern aller, paradiesisch einst, nun Behausung der gefallenen Engel, und es wuchsen die düsteren Himmel, und es wuchsen die grauen Wüsten, der Staub des Zerfalles legte sich über all das pochende Grün. Und auch in ihm wuchsen sie, die düsteren Himmel, die grauen Wüsten, die Lagen des Staubs des Zerfalles, denn seine Seele war eins mit diesem Stern. Und es wuchsen die düsteren Ahnungen in seinen Träumen. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.
„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der weiß gefiederte Morgenvogel sein Lied:
„Nun beginnt deine Zeit. Sei Bewahrer der Gärten, bewahre des Lebens Heiterkeit.
Und bedenke auch dies: Es hat seine Gründe, dass die Stadt dich verstieß.“
Im Lichte der aufgehenden Sonne sah er: Die Brombeeren reiften heran.
Veröffentlicht in der Anthologie "TrümmerSeele" hrsg. von St. Mattner & Michael Pilath, illustriert von Peter Starcke, Sternenblick e. V. Berlin, Dezember 2015
Im Frieden der wilden Dinge
In manchen Nächten wächst eine große Trauer in mir, mich lässt der kleinste Laut vor den Fenstern aufschrecken, und die Sorge um unser aller Leben in dieser Welt nimmt überhand. Dann stehe ich auf von meiner Bettstatt und folge den Wegen in die nahegelegenen Wälder, wo die wilden Enten und die schweigsamen Reiher wohnen an den stillen Waldweihern. Wesen, die ihr Sein nicht in vorauseilender Trauer leben. Über mir das sanfte Blinzeln der Sterne in ruhender Nacht, besänftigend mit ihrem Licht. So ruhe ich eine Zeit in der Gnade einer älteren Erde, und befreit von der eben noch so übermächtigen Furcht lenke ich meine Wege wieder heimwärts.
Eine Nachdichtung eines Gedichtes von Wendell Barry. Ich schreibe mit Absicht Nachdichtung und nicht Übersetzung, denn ich bin der Meinung, dass sich der gesamte lyrische Gehalt eines Gedichtes nicht eins zu eins übersetzen lässt, allenfalls nachempfinden.
The Peace of Wild Things
When despair for the world grows in me and I wake in the night at the least sound in fear of what my life and my children´s lives may be, I go and lie down where the wood drake rests in his beauty on the water, and the great heron feeds. I come into the peace of wild things who do not tax their lives with forethought of grief. I come into the presence of still water. And I feel above me the day-blind stars waiting with their light. For a time I rest in the grace of the world, and I am free.
Aus: Wendell Berry - The Peace of Wild Things and other poems, Penguin 2018 Copyright by Wendell Berry 2012
Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa so:
Im Frieden der wilden Dinge Wenn die Verzweiflung um die Welt in mir wächst, und ich wache in der Nacht beim geringsten Laut auf, in Furcht davor, was aus meinem Leben und dem meiner Kinder werden mag, dann gehe ich, lasse mich dort nieder, wo die Brautente ruht in ihrer Schönheit auf dem Wasser, wo der Große Reiher sich labt. Ich komme in den Frieden der wilden Dinge, die ihr Sein nicht in vorauseilender Trauer leben. Ich komme in die Gegenwart von stillem Wasser und ich spüre über mir die tagblinden Sterne, wartend mit ihrem Licht. Eine Zeit lang ruhe ich in der Gnade der Welt, und ich bin frei.
Wendell Berry, geboren am 5. August 1934 in Henry County, Kentucky ist ein US-amerikanischer Essayist, Dichter, Romancier, Umweltaktivist und Landwirt. Ihn verbindet eine langjährige Brieffreundschaft mit dem Lyriker und Essayisten Gary Snyder. Wendell Berry engagiert sich für ökologischen Landbau und dafür, den Beitrag, den eine landwirtschaftliche Kultur mit kleinbäuerlichen Strukturen zur Kultur als Ganzer leisten kann, ins Bewusstsein zu rufen. Er ist ein dezidierter Gegner von agrarindustrieller Bodenbewirtschaftung, monokulturellem Anbau, Massentierhaltung und Atomindustrie.
Ick bin in Tempelhof jeboren Der Flieder wächst mich aus die Ohren. In meinem Maule grast die Kuh.
Ick geh zuweilen sehr und schwanger Auf einem Blumen-i-o-anger Mein Vater, was sagst Du dazu?
Wir gleichen sehr den Baletteusen, Pleureusen – Dösen – Schnösen – lösen. Gewollt zu haben – selig sein.
Verehrte Herrn, verehrte Damen, Die um mich hören herzu kamen Dies widmet der Gesangverein.
Und Jungfraun kamen wunderbar Geschmeide scheidegelb im Haar Mit schlankgestielten Lilien.
Der Kakagei und Papadu Die sahen auch dabei dazu Und kamen aus Brasilien.
Klarinetta Klaball (Hugo Ball)
Unter dem Pseudonym Klarinetta Klaball erschienen 1914 gemeinsame Gedichte von Hugo Ball (1886 - 1927), Klabund (Alfred Henschke 1890 - 1928) und Marietta di Monaco (Maria Kirndörfer 1893 - 1981), der Freundin von Walter Serner. Die drei trugen auch im Münchner Simpl ein Gemeinschaftsgedicht vor, mit ähnlichem Text:
Ich bin in Tempelhof geboren Der Flieder wächst mich aus die Ohren In meinem Munde grast die Kuh. . . O Edmund steck den Degen ein. Was denkst du dir denn dadabei´n Des Morgens um halb finfe? Er sagte nichts mehr dadarauf. Er stützt sich auf dem Degenknauf Und macht sich auf die Strümpfe.
Dieser Text wird von einigen als Vorgriff auf den Dada gewertet, Marietta von Monaco beteiligte sich 1916 auch an den Veranstaltungen im legendären Cabaret Voltaire in Zürich. Nach dieser Lesart wären „dadabei`n“ und „dadarauf“ die ersten Erwähnungen von Dada. Doch vielleicht war das doch nur einfach ein Ulk, was Dada in Zürich keineswegs sein wollte.
Das Bild ist von John Lavery-Hazel (1856 - 1941)
Hätte da noch eine Version von letzterem, gefunden im Projekt Gutenberg:
O, Großpapa, o Graspopo Wir sind bald wie, wir sind bald wo? Wir sind warum? Weswegen? Der Eduard zieht den Degen. O Eduard steck den Degen ein. Was denkst Du dir denn dadabei'n Des morgens um halb fünfe? Er sagte nichts mehr dadarauf. Er stützt sich auf den Degenknauf Und macht sich auf die Strümpfe.
Klarinetta Klaball
Marietta von Monaco über sich selber:
Eine Autobiographie
Manchmal weine ich keine Tränen. Ich berausche mich täglich. Gerne mache ich sündige Spiele. Ich bin ein Knäuel von Sinnlichkeit. Mein Kopf wird herumgeworfen. Meine guten Gefühle werden von brutalen Händen erdrückt. Ich schiele. Ich rezitiere lyrische Anthologie. Nachts tanze und schreie ich durch die Straßen. Mein Mund ist ein Strich. Meine Augen sind manchmal groß und leuchtend. Mein Nacken ist ausrasiert. Ich habe schlanke Beine. Jeder Briefträger ist mein Vater. In meinen Haaren beseitigt man den Schweiß der Hände – Aber in der Sonne sind sie fließendes Gold. Ich bin Marietta.
München, Frühling 1913
Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an! Und halt ihn fest mit deinem ganzen Herzen, Denn wer ihn nicht mehr halten kann, Der kann ihn auch verschmerzen. Verschmerzen kann er ihn jedoch Bei Pommern und in Pasing. Man fing ihn ein bei Biberoch Bei Velhagen und Klasing.
Klarinetta Klaball
O Marietta-Kripistika
O Marietta-Kripistika! Thronkanapee im Serail von Sevilla! Du bist wertvoller als die juchzende Säubande von Hosenträgern, Deren Rüssel An deinem Bauch Zu schnuppern Gewohnt sein pflegt.
Am 25. Januar 1904 wurde in München die Malerin Marie Luise Cohn, bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Luiko geboren.
Marie Luise Kohn studierte ab 1923 acht Semester an der Akademie der Bildenden Künste München und parallel dazu an der Münchner Kunstgewerbeschule, wo sie eine Zeitlang auch ihr Atelier hatte. 1924 hatte sie ihre erste Ausstellungsbeteiligung im Münchener Glaspalast, es folgten regelmäßig Beteiligungen bis zum Jahr 1931 und nach dem Brand des Glaspalastes 1931 bei den Münchener Juryfreien.
Marie Luise Kohn nahm den Künstlernamen Maria Luiko an und war vielfältig bildnerisch tätig. Sie war mit Zeichnungen, Aquarellen und Ölbildern und auch Scherenschnitten, Lithographien, Holzschnitten und Linoldrucken auf lokalen Ausstellungen vertreten. Außerdem schuf sie Buchillustrationen, so 1923 zu Ernst Tollers Hinkemann und zu Shalom Ben-Chorins 1934 gedrucktem Gedichtband Die Lieder des ewigen Brunnens.
Sie gehörte zum Künstlerkreis um den Theaterwissenschaftler Arthur Kutscher und war Mitglied mehrerer Künstlervereinigungen.
Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurden die Juden aus dem öffentlichen Kunstleben verdrängt und mit einem Ausstellungsverbot belegt. So wurde Maria Luiko aus dem Reichsverband bildender Künstler Deutschlands ausgeschlossen. Sie wirkte im Rahmen der eingeschränkten Möglichkeiten im Kulturprogramm des Jüdischen Kulturbundes, Ortsgruppe München, mit und stellte ihr Atelier für Ausstellungen und Theaterproben zur Verfügung. Mit eigenen Werken nahm sie an verschiedenen Ausstellungen teil, so an einer „Grafischen Ausstellung bayerischer jüdischer Künstler“ 1934 in München. 1935/36 entwarf sie das Bühnenbild für das Schauspiel „Sonkin und der Haupttreffer“ von Semen Juschkewitsch. Im April 1936 nahm sie an der „Reichsausstellung Jüdischer Künstler“ im Berliner Jüdischen Museum teil.
Zum 1. Januar 1936 wurde allen jüdischen Künstlern untersagt, einen Künstlernamen zu führen.
Luko versuchte ins Ausland zu reisen, um eine Emigration vorzubereiten, sie erhielt aber von den Behörden keinen Reisepass. Informationen über den weiteren Lebensweg fehlen. Luiko wurde am 20. November 1941 in einem NS-Deportationszug mit 998 weiteren als Juden verfolgten und gefangenen Personen von München aus, zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, „in den Osten“ deportiert. Der ursprünglich für Riga bestimmte Personenzug wurde von der SS nach Kowno (Kaunas) umgeleitet. Am 25. November 1941 wurden alle Insassen im Fort IX von Kaunas durch die dortige Einsatzgruppe ermordet. (Wiki)
Weihnachtsmarkt 1929
Menschengruppe vor der Deportation, Holzschnitt um 1938
Dort, wo die Ananas-, Mandel- und Rosinenberge stehen, Schokoladenflüsse unversiegbar quellen, Honig und Sirup sich in Riesenfässern türmen, dort, sollte man meinen, müßte es schön sein, zu leben, vielleicht sogar zu arbeiten.
Da sich das Schlaraffenland heutzutage nur in einer Schokoladenfabrik befinden kann, scheint die Sache auch gar nicht aussichtslos. Man geht durch das Tor eines Wolkenkratzers, fragt den Portier nach der Arbeiterannahmestelle, steht bescheiden vor dem Personalverwalter und bekommt nach einigem Warten einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem der künftige Arbeitsplatz verzeichnet ist. Kein Wort wird gefragt, man kann gleich anfangen zu arbeiten. Fein, daß man ins Schlaraffenland gelangen kann.
Ich bekomme von der »nurse«, halb Aufseherin, halb Pflegerin, die Uniform und einen Schrank zugewiesen. Sie sagt mir, es sei besser, die Uniform über die Kleider anzuziehen, dann friere man weniger.
Aber heute ist doch ein furchtbar heißer Tag, denke ich, doch man ist eben im Schlaraffenland, man soll sich über nichts wundern. Ich gehe die Treppe hinauf zu meinem Arbeitsplatz.
Ich betrete einen riesigen Arbeitssaal. Sofort bekomme ich kalte Füße. Eine ältere Dame, wie sich später herausstellte, die »forelady«, die Vorarbeiterin, flattert mir entgegen, in einem weißen Kleid mit einem Spitzenhäubchen angetan. Sie hat eine rote, erfrorene Nase und fragt mich nach meinen Personalien. Auch teilt sie mir die Arbeitsbedingungen mit, 24 Cent die Stunde. In der Saison kann man Überstunden machen.
Die Arbeiterinnen blicken gar nicht auf. Sie sind in Wolltücher, Wintermäntel, Sweaters gehüllt. Die Luft ist trotz der Kälte schlecht, die Fenster fest verschlossen.
Das kokette Spitzenhäubchen: »Wenn Sie eine Minute zu spät kommen, wird eine halbe Stunde abgezogen. Die Kontrollkarte muß viermal, immer im Arbeitssaal, abgestempelt werden. Morgens, bei Beginn und Ende der Mittagspause und abends, wenn man nach Hause geht.«
Ich glaube, ich habe auch schon eine rote Nase. Freilich, es muß kalt sein, damit die Bonbons nicht zerschmelzen. Daran hätte ich gleich denken müssen.
Ich werde an einen Tisch gesetzt. Plötzlich bin ich umgeben von Kartons, Seidenpapier, Stanniol. Immer neue Platten voll Bonbons werden vor mich hingeschoben. Ich muß packen. Das Spitzenhäubchen erklärt: »Jedes Stück umdrehen und genau prüfen. Die schlecht gelungenen müssen beiseite gelegt werden mit der Nummer, die auf jede Platte aufgeklebt ist. Die soll man nicht essen. Die Arbeit der Hersteller muß geprüft werden.«
Ich fange an, gehorsam zu drehen, zu prüfen, zu packen. »Nur mit den Fingerspitzen, nur mit den Fingerspitzen«, sagt noch das Spitzenhäubchen und entschwindet.
Hier mache ich die Bekanntschaft mit Nummer 68, die nicht etwa ich bin. Ich repräsentiere eine bedeutend höhere Nummer, bin Viervierzwodrei.
Bald stellte sich heraus, daß die Plattennummern immer besondere Individualitäten enthüllten. Da war z. B. die tadellose Nummer 23, die korrekte 25, es war ein Vergnügen, sie zu packen; da war die etwas zerfahrene Nummer 35 und dann also auch die Nummer 68.
Ich weiß nicht, ob ich deshalb Sympathien für sie empfand, weil ich fühlte, daß ich genau so schiefe, zerquollene Bonbons mit so fleckigem Guß herstellen würde, wenn mich das Schicksal noch ausersehen sollte, Pralinen zu machen. Jedenfalls versuchte ich, soweit es in meiner Macht stand, Nummer 68 zu retten. Ich aß die verdorbenen Stücke, sie waren schlecht, dafür aber verboten, ich verlor die Zettelchen mit der Nummer, ich schmuggelte sogar einige Stücke der tadellosen Nummer 23 und der korrekten Nummer 25 zu, denen das doch nichts schaden kann.
Am nächsten Tag, welches Wunder, übertrifft Nummer 68 an Korrektheit sogar die Nummern 23 und 25. Ich ahnte gleich Böses. Und wirklich, als ich mich nach Nummer 68 erkundigte, mußte ich mich von der Zwecklosigkeit jeder individuellen Hilfsaktion überzeugen. Denn man sagte mir: »Meinen Sie die alte oder die neue. Denn seit heute ist eine andere da. Die alte ist gestern Knall und Fall entlassen worden.«
Neben mir sitzt ein Mädchen, dem man auch anmerkt, daß es ein Neuling ist. In der ganzen Umgebung sind wir die einzigen, die sich für die Erzeugnisse Schlaraffenlands interessieren. Wir kosten alles, kritisieren, haben Vorlieben. Wenn das Spitzenhäubchen entschwindet, machen wir Rundgänge in unserem Arbeitssaal. Wir gehen an den Frauen vorbei, die Datteln entkernen, Nüsse öffnen, Ananas zerschneiden. Jedesmal, wenn wir vorbeigehen, langen wir in die Körbe und essen. Erschrocken sehen wir uns um, aber nichts geschieht. Es ist erlaubt. Die Frauen sehen uns augenzwinkernd nach. Sie scheinen sich über uns zu amüsieren.
Während ich packte, flog mir ein Stück saure Gurke zu. Eine Arbeiterin aus der alten Garde frühstückte. Ich lachte.
Aber am dritten Tag brachte ich mir Essigzwiebeln zum Frühstück mit. Meine Nachbarin schien sich zu freuen, als ich ihr auch welche anbot.
Am dritten Tag mußte ich meinen bequemen Platz, der mir allerdings erst später so bequem erschien, verlassen und wurde vom Spitzenhäubchen zu den Maschinenpackern kommandiert. Das Arbeitssystem ist hier ganz ähnlich wie das berühmte laufende Band. Quer durch den Saal laufen die Maschinen, vor denen die Arbeiterinnen packen. Eine Glaswand, mit je einer Öffnung vor jeder Maschine, trennt uns von den Pralinenherstellern. Hier gibt es kein gemütliches Schlendern mehr, die Maschinen schreiben die Bewegungen der Packerinnen wie der Bonbonhersteller vor.
Man steht hier in der eisigen Kälte acht oder manchmal auch neun Stunden lang, ohne einen Augenblick sich auszuruhen oder sitzen zu können. Das Spitzenhäubchen erscheint immerfort, umkreist uns und schreit uns ständig wie ein Phonograph in die Ohren: »Mädels, eure Hände müssen flinker werden, Mädels, eure Hände müssen flinker werden«, immer ohne Unterlaß. So sieht es aus im Schlaraffenland.
Und trotzdem geht es vor unserer Maschine sehr lebhaft, ja lustig zu. Da ist zum Beispiel Giulietta, die schöne Italienerin. Sie kann nicht nur schnell packen, sondern gleichzeitig auch Charleston tanzen und singen: »Yes Sir, she is my baby.«
Dann sind die beiden Freundinnen da, die sich ständig zanken und sich gegenseitig, zur allgemeinen Freude, alte Sünden vorwerfen. Und dann haben wir Boccaccio hier, freilich einen weiblichen Boccaccio, und schon das allein muß die Arbeit unter den Maschinenpackern erträglicher machen.
Denn Boccaccio ist eine Nummer ganz für sich. Von ungewöhnlicher Reizlosigkeit. Trägt eine Brille auf einer spitzen Nase, und hinter dieser Brille schielen farblose Augen. Die Haut ist fleckig, die Haare strähnig. Doch welche üppige, strotzende Phantasie verbirgt dieses trockene Äußere.
Boccaccio ist natürlich italienischer Abstammung, wohnhaft und aufgewachsen in der Mulberry Street, dem schmutzigsten, dichtestbewohnten Teil des italienischen Viertels. Dort, wo die Nachbarn keine Geheimnisse voreinander haben können, wo die Wände überhaupt nur aus Ohren bestehen, wo mehrere Familien in einem Zimmer wohnen.
Und Boccaccio hat immer alles gesehen und gehört. Und Boccaccio erzählt, fast ohne Unterlaß, ohne daß man darum bitten muß. In einem trockenen, dozierenden Ton berichtet sie von unwahrscheinlichsten Familienschicksalen, haarsträubenden Liebesgeschichten, Großmütter und Kinder, Chinesen und Neger kommen da vor, oft ist auch Boccaccio selbst die Heldin. Die Mädchen biegen sich vor Lachen.
Nur eine lacht nie, spricht wenig. Die Bleiche. Sie stöhnt ständig: »Ach, wie meine Hände frieren«, »Oh, mein Rücken.«
Die Schokolade strömt aus der Maschine ohne Unterlaß. Immer die gleichen Bewegungen. Wenn eine neue Art Schokolade aus der Maschine kommt, seufzt die Bleiche: »Ach, schrecklich, diese ewige Abwechslung.«
»Will jemand ›dipper‹ werden?«
»Wollen Sie, girl«, fragt mich das Spitzenhäubchen, und ich nicke freudig ja. Die »dipper« arbeiten sitzend. Sie überziehen Pralinen mit Schokolade.
»Sie werden jetzt ein ›trade‹ (Handwerk) lernen«, sagt mir die Dicke, die mich unterweisen soll.
»Yes, m'am«, flüstere ich ehrfürchtig, denn ich weiß, daß ein »trade« Karriere bedeutet.
Meine Nachbarin teilt mir mit, daß diese Woche achtundzwanzig Dollar in ihrem Lohnumschlag waren. »Das ist was anderes als die zehn Dollar der Packer.«
Als die Dicke weggeht, frage ich meine Nachbarin, seit wann sie »dipper« ist.
»Seit acht Jahren. Ja, in der ersten Zeit kann man das auch nicht verdienen.«
Ich sitze nun vor einem großen Kessel voll Schokolade, halte eine Holzkelle in der Hand und rühre fleißig. Wenn die Dicke nicht wäre, könnte ich mich jetzt Kindheitserinnerungen hingeben und denken: Schlaraffenland.
Aber die Dicke erinnert mich mit allem Nachdruck an den Ernst des Lebens. »Immer aufpassen, daß die Schokolade schön flüssig bleibt, wenn sich kleine, harte Stücke bilden, müssen sie sofort herausgenommen werden.«
Aber wieso gefriert nicht die Schokolade sofort in dem kalten Raum? Wie wird sie überhaupt flüssig erhalten?
Auf eine sehr einfache und sinnreiche Art. Unter jedem Schokoladenkessel ist eine stark isolierte elektrische Leitung, die nach Bedarf eingeschaltet werden kann. Sobald die Schokolade ihren gleichmäßigen Glanz zu verlieren beginnt, wird die elektrische Heizung unter dem Kessel angeknipst, muß aber dann immer wieder ausgeschaltet werden, denn die Schokolade darf nicht heiß werden.
Die »dipper« sitzen mit aufgestülpten Ärmeln vor den Kesseln, die Arme mit einem Schokoladenguß überzogen, und tauchen Cremefüllungen, Datteln, Ananas in die Schokolade. Jede Sorte muß auf eine besondere Art gedreht werden, muß eine besondere Größe und Form haben.
Gerade um die Zeit, wenn wir die Fabrik verlassen, paradiert vor uns der Autobus einer anderen großen Schokoladenfabrik, mit den verlockendsten Aufschriften: »Wir machen die beste Schokolade der Welt«, »Wir stellen Arbeiterinnen unter den besten Bedingungen ein«, »Wir befördern unsere Arbeiterinnen frei im Auto zur Arbeitsstelle« (merkwürdig nur, daß nie jemand in diesem Autobus sitzt).
Aber Giulietta weiß etwas Besseres. »Habt ihr denn nicht das Auto der Würfelzucker-Gesellschaft gesehen, mit dem Jazz-Orchester. Das scheint ein lustiges Haus zu sein.«
Und schon tanzt sie wieder Charleston und singt: »No Sir, don't say may be.«
Die Bleiche aber sagt: »Ich hasse jede Abwechslung. Dann sieht man erst, wie schrecklich gleich alles ist.«
Aus: Eine Frau reist durch die Welt. Erstauflage. Agis, Berlin / Wien 1932
Maria Leitner, geboren am 19. Januar 1892 in Varaždin, Österreich-Ungarn; gestorben am 14. März 1942 in Marseille, deutschsprachige ungarische Journalistin und Schriftstellerin.
Sie studierte danach in Wien und Berlin Kunstgeschichte und absolvierte ein Praktikum in der Berliner Galerie von Paul Cassirer, Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges berichtete sie unter anderem als Korrespondentin für Budapester Zeitungen aus Stockholm.
Während des Krieges schlossen sich große Teile der revolutionär gesinnten ungarischen Jugend der antimilitaristischen Bewegung an. Maria Leitner und ihre Brüder Johann (auch: János Lékai / John Lassen. 1895–1925) und Max / Maximilian (auch: Miksa 1892–1942?), beteiligten sich aktiv beim sozialistisch-pazifistisch ausgerichteten Galilei-Zirkel.
1925 reiste sie im Auftrag des Ullstein Verlages in die USA. Drei Jahre lang durchquerte sie den amerikanischen Kontinent von New York über Massachusetts, Pennsylvania, Virginia, Georgia, Alabama, Florida, bis hin zu Venezuela, Britisch- und Französisch-Guayana und den karibischen Inseln Haïti, Curaçao, sowie Aruba. Sie nahm 80 verschiedene Stellen an, um aus eigener Erfahrung über die Arbeitsbedingungen der Menschen zu berichten. Sie arbeitete als Dienstmädchen und Zigarrendreherin, besuchte Zuchthäuser und südamerikanische Diamantenminen. Im Mittelpunkt ihrer sozialkritischen Reportagen stand das Amerika der kleinen Leute auf der Kehrseite des American Dream.
1930 erschien ihr erster sozialkritischer Roman Hotel Amerika im Neuen Deutschen Verlag. Eingebettet in eine Kriminalhandlung, wird die Geschichte des irischen Wäschemädchens Shirley O’Brien thematisiert, parallel zu den sozialen Missständen, unter denen die Arbeiterinnen und Arbeiter in einem New Yorker Luxushotel litten.
Im Rahmen antifaschistischer Aktionen ging Maria Leitner 1932 auf Entdeckungsfahrt durch Deutschland und berichtete für die Welt am Abend und die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung über die soziale und politische Situation in kleinen Städten und Dörfern, in denen bereits die Nationalsozialisten die Politik bestimmten.
Im Mai 1940 wurde Maria Leitner von den französischen Behörden zusammen mit anderen deutschen Exilanten im Lager Camp de Gurs in den französischen Pyrenäen interniert. Ihr gelang die Flucht über Toulouse nach Marseille, wo sie in extrem ärmlichen Verhältnissen im Untergrund lebte. Sie versuchte vergeblich, durch Vermittlung der Hilfsorganisationen „American Guild for German Cultural Freedom“, des Emergency Rescue Committees (ERC) von Varian Fry sowie des amerikanischen Schriftstellers Theodore Dreiser ein Visum für die Vereinigten Staaten zu erlangen. Am 4. März 1941 schrieb sie ihren vermutlich letzten Hilferuf. Im Frühjahr 1941 wurde sie noch einmal von Luise Kraushaar in Toulouse sowie von Anna Seghers und Alexander Abusch in Marseille gesehen. Jetzt ist belegbar, dass die Mitarbeiter des Emergency Rescue Committee und der American Guild for Cultural Freedom bis zuletzt bemüht waren, ein Visum für sie zu beschaffen. Sie starb am 14. März 1942 in Marseille in der Psychiatrie am Hungertod. (Wiki)
In des Abends samtnen Hafen lenken hin die Häuser-Schiffe. Siehe! Mond und Sterne trafen
sich in unsrer Stirnen Spiegel! Wiese breitete die Schwingen, Wald hob auf den dunklen Flügel.
Leise Wege um uns singen. Unser Herz in nahen Gärten leuchtete. Der Nacht Syringen
schlingen sich um uns, die warten - warten, daß sich uns die Räume füllen mit verwehten, zarten
Farben unsrer wachen Träume, die sich magisch offenbarten.
Das sechste Abendlied
Wie wir in die Wiesen sinken, segelt Mond, das ferne Schiff, leise um des Waldes dunkles Riff.
Von der Stirn dir will ich trinken Abendschein, der dich betaut, und den nahen Himmel, der unermeßlich tief erblaut.
Leise regt sich das Geflüster naher Sterne. Milde wandern Wolken, die im Osten landen.
Schwinden wir? . . . Schon düster schwingt sich Weg den Bergen zu. Bist du hier? . . . Am Horizont stehst in Firmamenten du!
Walter Rheiner, aus: Insel der Seligen - Ein Abendlied 1918
Traum
Ich bin so vielfach in den Nächten. Ich steige aus den dunklen Schächten. Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein.
So selbstverloren in dem Grunde, Nachtwache ich, bin Traumesrunde und Wunder aus dem Heiligenschrein.
Und öffnen sich mir alle Pforten, bin ich nicht da, bin ich nicht dorten? Bin ich entstiegen einem Märchenbuch?
Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten. Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten, ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch.
Emmy Hennings, aus: Deutsche Gedichte. Von Hildegard von Bingen bis Ingeborg Bachmann, hrsg. v. Elisabeth Borchers, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1987
In Villa Blanca
Ich will die stillen Stunden nicht entbehren Die träume fliehen wie gepeitscht vom winde. Ich soll die brüder lieder singen lehren und reigen tanzen unter fahler linde.
Die Seele weint in ängstlichen gefühlen. Ich kann die worte nicht zu klängen finden, kann die gedanken nicht zu kränzen winden Um roter wunde heißen brand zu kühlen.
Ich fliehe licht und schließe meine lider. Ich sehne lippen und begehre wonne. Mit kühlem gift durchdringet müde glieder Ein traum, gewebt aus traurigkeit und sonne.
Ich jauchze auf in tönendem frohlocken. Das heilige steht zu freiem eingang offen - Die königin hat mich ins herz getroffen Ich höre harfenton und kirchenglocken.
Richard Perls, aus: Blätter für die Kunst 1899
Syrinxliedchen
Die Palmenblätter schnellen wie Viperzungen
In die Kelche der roten Gladiolen,
Und die Mondsichel lacht
Wie ein Faunsaug’ verstohlen.
Die Welt hält das Leben umschlungen
Im Strahl des Saturn
Und durch das Träumen der Nacht
Sprüht es purpurn.
Jüx! Wollen uns im Schilfrohr
Mit Binsen aneinander binden
Und mit der Morgenröte Frühlicht
Den Süden unserer Liebe ergründen!
Else Lasker-Schüler, aus: Styx. Gedichte, 1902
Walter Rheiner: Als er 1914 zum Kriegsdienst berufen wurde, nahm Walter Rheiner erstmals Rauschmittel – er gab damit vor, drogensüchtig zu sein, um der Wehrpflicht zu entgehen. Trotz dieses Umstands wurde er eingezogen und mit Beginn des Ersten Weltkrieges an die russische Front beordert. Eine Entziehungskur scheiterte, sein Täuschungsversuch kam 1917 ans Licht, worauf er vom Dienst suspendiert wurde und nach Berlin übersiedelte. Aus seinem anfänglich gemäßigten Drogenkonsum entwickelte sich jedoch mehr und mehr eine Sucht nach Kokain und Morphinen, die ihm letztendlich zum Verhängnis wurde. In einer armseligen Unterkunft in der Charlottenburger Kantstraße setzte er seinem Leben am 12. Juni 1925 im Alter von 30 Jahren mit einer Überdosis Morphin selbst ein Ende.
Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, Dichterin, Heilige und Hure, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich. „Ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zu viele Leute entzückt davon.“
„Niemals hat die Dichterin auf der Sonnenseite gelebt und es leicht gehabt, vielleicht hat sie es auch niemals ernstlich sich gewünscht. Sie lebt lieber unter den Kämpfenden, Armen, Bedrückten, sie liebt die Leidenden, sie fühlt für die Verfolgten und Rechtlosen. Sie bejaht das Leben auch in seiner Härte und Grausamkeit und liebt die Menschen bis in alle Verirrung und Not hinein.“
Hermann Hesse über Emmy Hennings
Richard Perls (1873 – 1898), der früh verstorbene Dichter gehörte zum George-Kreis.
Else Lasker-Schüler, geboren am 11. Februar 1869, gestorben am 22. Januar 1945 in Jerusalem. Eine der mittlerweile bekanntesten deutschen Dichterinnen.
Sprecher und Gitarre: Dingefinder Klavier: Verlah Voh Geige: Ute C. Perkussion: Erd Ling Judith Keltische Harfe: Antje McInerney Panflöte: Klaus der Geiger
Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen, die Heimat klang in meiner Melodie, ihr Leben war in meinem Lied zu lesen, das mit ihr welkte und mit ihr gedieh.
Die Heimat hat mir Treue nicht gehalten, sie gab sich ganz den bösen Trieben hin, so kann ich nur ihr Traumbild noch gestalten, der ich ihr trotzdem treu geblieben bin.
In fremder Ferne mal ich ihre Züge zärtlich gedenkend mir mit Worten nah, die Abendgiebel und die Schwalbenflüge und alles Glück, das einst mir dort geschah.
Doch hier wird niemand meine Verse lesen, ist nichts, was meiner Seele Sprache spricht; ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen, jetzt ist mein Leben Spuk wie mein Gedicht.
Max Herrmann-Neiße, (* 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; † 8. April 1941 in London), Deutscher Dichter, von den Nazis ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.
Das Portrait des Dichters malte 1921 Erich Büttner (1889 - 1926)
Ich möcht in Häusern ein- und ausgehen können, begleitet von warmen Worten beim Empfang. Ich möcht die Freuden jeden Tages dann benennen, und sie erklingen lassen als Gesang.
Dann im Staunen jedes Herz erreichen, welches mir entgegenschlägt. Jedes Wort mit einem Lachen anzureichern, so, dass es jedes Herz bewegt.
Selbst das Weiterziehen wird begleitet von einem Lied, gesungen klar in Dur, dass es mir den Weg froh vorbereitet, Weg in mein eignes Herz, zu meiner eigenen Natur.
Ach, da war keine Vorsicht im Schlafenden; schlafend, aber träumend, aber in Fiebern: wie er sich ein-ließ. Er, der Neue, Scheuende, wie er verstrickt war, mit des innern Geschehns weiterschlagenden Ranken schon zu Mustern verschlungen, zu würgendem Wachstum, zu tierhaft jagenden Formen. Wie er sich hingab -. Liebte. Liebte sein Inneres, seines Inneren Wildnis, diesen Urwald in ihm, auf dessen stummem Gestürztsein lichtgrün sein Herz stand. Liebte. Verließ es, ging die eigenen Wurzeln hinaus in gewaltigen Ursprung, wo seine kleine Geburt schon überlebt war. Liebend stieg er hinab in das ältere Blut, in die Schluchten, wo das Furchtbare lag, noch satt von den Vätern. Und jedes Schreckliche kannte ihn, blinzelte, war wie verständigt. Ja, das Entsetzliche lächelte . . .
Aus der Dritten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke
Musik: "Rilke" vom Dingefinder, Querflöte, Loopprogramm, Samples