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Montag, 22. Mai 2023

Hugo Sonnenschein: Die Legende vom weltverkommenen Sonka (III)

 


Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Der Zyklus "Die Legende vom weltverlommenen Sonka" wurde in Der neue Daimon, Heft 3 - 4, April 1919 veröffentlicht, herausgegeben im Genossenschaftsverlag, Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel.




DIES eine Bein, darauf das andre ruht,
gestellt auf niebebauten Boden irgendwo
und mit den müden Händen einen wunden Fuß umfassend,
sitz ich verkauert stumm auf einem morschen Stamm,
gekrümmten Rückens,
dass mein Knie, von meines Hauptes blinder Last bebürdet,
die kalte Schläfe mir durchbohrt.

Ich bin ein Samenkorn
vom Wetter hergetragen.
Was werde ich, wenn ich da Wurzel fasse,
in diesem Moder kraftverlassen?

Bin ein verirrter Block,
verwitternd.
Entspringt eine Quelle meinem Gestein?
Verwehen Stürme mich zu Staub,
dass mich die Erde begrabe?
Oder bin ich Felsen genug, zu versinken im Grund?

Bin eine Schraube,
losgelöst von ihrer Dampfmaschine,
die vorüberrollte zu den Städten.
O, ist der Riesin Leib geborsten ohne mich?
O, ward die Lücke ausgefüllt von einer stahlgetreuern Schwester?
Mein Wert, mein Schicksal: der neuen Maschine zu dienen?
wird man mich suchen? wer mich finden?


spielende Kinder - ein rostig Ding?

Ich bin ein Bund Telegraphendraht,
der von einem hastenden Motor verschleudert,
hier die Straßenböschung herabglitt.
Guter Draht, geglüht, zu verbinden,
der Erde brüderlich schmerzvollen Puls zu verkünden,
Bewegung erleidend zu klingen.

Ich werde zerfallen, Unkraut düngen,
Dasein wird mich überwuchern.

Ich sitz verkauert stumm auf einem morschen Stamm,
zusammenbrach ein Wanderer am Wege,
mit erdenschweren Händen ein Gebilde,
(Seele ward der Form,
die Seele meines längst verscharrten Meisters,
der Götter schuf aus Stein)
ein meisterhaft vollendet unvollkommen letztes Werk:
Mensch auf dem Weg zu Gott.

Stoff: mein Leib,
Gestalt: mein Blut,
o Gleichnis mein Blut,
es sei dein Traum, was er wolle:
einmal verschlingt dich die durstige Scholle,
schmilzt in kosmischer Glut -
und endlich mündet die Welt im Geist,
der meinem Ja sein Nein erweist.


ICH habe die Erde unbeschlafen gelassen,
unbefahren die Ringelspiele
der Menschheit an den Heeresstraßen.
Nie hab ich angelegt auf ruhmbemalte Ziele.

Wie lächelt die Quelle verliebt sich zu spiegeln
in mir, mich spiegelnd im Ferneblauen.
In dem Geheimnis mit den Sternensiegeln
wir selig zu Tode uns schauen.


AUS mir loht stets ein Feueraufblick der Bejahung:
je bleicher sich mein Haupt in einen Schädel wandelt,
je dünner meine Hände Spinnen gleichen.
Hekatomben ungesühnter Leichen
bebürden mir die kranke Menschenbrust.

Mein Aufblick
durchbricht die blutschwarze Erde der Welt,
versengt das Sterben,
entschwebt dem All.

Willenskraft,
die mir das Antlitz meißelt,
ist Dichtermacht von Seiner Macht.
Ich trag ein Kreuz von aller Welt verlacht
und doch von Aller Schmerz gegeißelt:
mein Dichterherz.

Seit Anbeginn
verhöhnt mich Wahn der Zeit.
Ich treibe zu dir hin
in deine Ewigkeit.

Und Sünde und Not
mein tägliches Brot,

weil ich Gottes bin.


MEIN Pfad
durchläuft die höllischen Schächte,
umkreist die Bahnen der Sonnen:
des Menschentums Gleichnis scheingesponnen
rot eingewebt in Tage und Nächte -
mein Pfad, der die Zeit verlassend,
Irre erleidet, Wahn und Wahrheit,
bis seine blutenden Augen, verblassend,
verwerden in Klarheit!



GOTT: ist die Ruh, Vollendung
in Nichts entwandelter Kraft;
Ist: bildlose Beendung
von Zeit und Tod und Wanderschaft.

Nach dem Widerstreit der Stunden
sind die Dinge blind verblendet.
Nichts wird, wenn sich Gott beendet,
mein beharrlich Leid bekunden.

Einmal werden meine Stimmen
stumm sein von der Ruhe Gnaden.
Wann wird endlich wer bestimmen,
mich zu allem Nichts zu laden?


BETTLER von Haus zu Haus, wo wohnst du?

Auf der Menschheitsgaleere, geschmiedet an die Zeiger der Lüge,
Geflochten ans Urrad, ans Uhrrad der Zeit,
Hausen die Nächsten, Besitzer der Höhlen und der Paläste,
Hassen die Armut, die sie furchtsam lästern
Und mästen Gewissen verbittert mit Wahn. -

Aber du?

Blaudunkel flutet dein Blick:
Doch die Nacht kennt dich nicht,
Du bist unter Schatten nicht zu erblicken,
Dich beherbergt kein Grab.

Dein Antlitz ausgemergelt von Sonne -
Und ich begegne dir nie,
Wie du des Sommers wanderst im Staub der Straßen
Oder wie du wanderst am weißen Strand vor den Toren,
Und ich find dich nicht schlafen am Wiesenrain
Und ertapp dich nie
Abbeerend die Sträucher am Weinberg.
Die Gräser blühen nichts von deinem leichten Gang,
Die Wipfel rauschen nichts von deinem sich wiegendem Haupt,
Der Winde Atmen hat dein Odem nie verspürt.

Nicht kündet spiegelnd dich der Glanz der herben Jahreszeiten:
Schnee oder Blüte,
Die Männer wissen dich nicht,
Die Frauen: niemals hat solch ein Mensch hier gebettelt.

Und ich erschau dich doch allemal, Bettler von Haus zu Haus,
Am hellen Mittag und zur Mitternacht
Unbekümmert schreiten von Haus zu Haus
In Bettlertracht
Mit deinem Bettelsack
Und deiner Schnapsflasche:
Wo luderst du dein Tagwerk hin?
Was ist dein Wesen, was dein Sinn?
Wo ruhst du aus?

Zeitgeläute, raumatmend, Werden tönt nur Klageruf,
Sonka nennt mich die Erde.
Sich tötete der Mensch, der liebend mir den Namen schuf,
Geist, dass er ewig, und nicht mehr werde.
Beseelt war der Anfang, entleibt das Ende -
Tod ist vollendetes Immer.

Und wiedergeboren bricht aus tagdurchflossenem Sein
Widerhall seiner Stille
- Erstritten erlitten auf Erden einmal -
Das Wort und der Laut:
Ein Mal, mir geworden, ein Name,
Liebe und Sterben, in Ewigkeit da sein
Bedeutet dem Dulder,
Verwirklicht den Dichter,
Leitet im Wesen der Welt des Sehens heimgeheiligten Pfad,
Schmerzerhellte Beziehung zum Geist:

Stoff gestaltet den Schein der Legende,
Endlich verklingen, endlich geläutert von meines Ursinns Berührung
Verklingen die Dinge Sonka.

Gleichnis verwirrt und Bild verführt,
Da ist des Wortes Irresein,
Da ist der Traumgesichte Schein.
Ich schreite gleite unberührt,
Ein jeder geht den Weg allein.
Stein wie Stein, Staub wird Stein,
Weg beleibt, was der Weg gebiert,
Spur nur, was der Fuß verliert.
Aber jenseits von Weg und Spur und Staub -
Ist Sein Gott.

Gleichnis haucht das Tote nicht lebendig,
Bild schlägt, was lebendig wurde, tot.
Aus meinem leeren Bettelsack verschenk ich ewig Brot
Und meiner Flasche Nichts, das ich verspreng, ist wahnlos, nichts,
Beständig.




Hier erinnert mich Hugo Sonnenschein an Walther von der Vogelweide, gerade die Verse "Das eine Bein / darauf das andre ruht", und auch der weitere Verlauf dieses Monologes, ich denke, dass sie sich direkt auf das bekannteste Werk des Minnesängers beziehen:

Ich saz ûf eime steine
und dahte bein mit beine,
dar ûf satzt ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
mîn kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wes man zer welte solte leben;
deheinen rât kunde ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der deheinez niht verdurbe.
diu zwei sind êre und varnde guot,
daz dicke ein ander schaden tuot;
das dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolte ich gerne in einen schrîn.
jâ leider, des enmac niht sîn,
daz guot und weltlîch êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîge und wege sint in benomen;
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze,
fride unde reht sint sêre wunt.
diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt.


Ich saß auf einem Steine
und deckte Bein mit Beine,
darauf der Ellenbogen stand;
es schmiegte sich in meine Hand
das Kinn und eine Wange.
Da dachte ich sorglich lange,
dem Weltlauf nach und irdischem Heil;
doch wurde mir kein Rat zuteil,
wie man drei Ding’ erwürbe,
dass ihrer keins verdürbe.
Zwei Ding’ sind Ehr’ und zeitlich Gut,
das oft einander Schaden tut,
das dritte Gottes Segen,
den beiden überlegen.
Die hätt ich gern in einem Schrein.
Doch mag es leider nimmer sein,
dass Gottes Gnade kehre
mit Reichtum und mit Ehre
zusammen ein ins gleiche Herz.
Sie finden Hemmungen allerwärts;
Untreue liegt im Hinterhalt,
kein Weg ist sicher vor Gewalt,
so Fried als Recht sind todeswund,
und werden die nicht erst gesund, wird den drei Dingen kein Geleite kund.

Die Illustration zeigt Walther von der Vogelweide im Codex Manesse (etwa 1300 - 1340)

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