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Mittwoch, 31. Mai 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (VIII)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (VIII)


Sonntag ist
und Glockenklang am Morgen,
Glocken wollen die Katholen
in die nahe Kirche holen

Sonntag ist
und steter Regen rinnt,
und ich freu mich wie ein Kind,
das niemals nie nicht sündigt:
die Liebste hat sich angekündigt

Mir ist, die Glockenklänge gelten ihr
und mir



Im kleinen Baum vor dem Fenster:
ein Eichelhäher im Geäst
mit blaugestreiften Federn
an den Flügeln

An manchen Tagen ist das Leben
dieses Buch mit sieben Siegeln,
dann wieder liegt es offen da,
und dir wird offenbar
ein weitrer Sinn im Leben -

Wie schön war es,
wenn ich als Kind
im Walde
Eichelhäherfedern fand,
es war,
als strichen Engel übers Land
und schenkten mir ein kleines Wunder,
das es zu bewahren galt

Ein Geschenk
vom Leben
und vom Wald





Müde der ewigen Versuche, uns durch die rohe Materie zu kämpfen, wählten wir einen anderen Weg und wollten dem Unendlichen entgegeneilen. Wir gingen in uns und schufen eine neue Welt.“

Henrik Steffens (ca. 1801)




Innehalten -
Kräfte walten

Ich gehe gerne zu einem Bäcker,

der noch Hand anlegt

Lieber brotlose Kunst
als kunstloses Brot



Umarmung, Liebste.
Nun bist Du bei mir
auf diesem stillgelegten Stern,
Sonntag für die Seele
und ein Gruß von
jenem anderen Planeten,
der „zu Hause“ heißt



Kleine Geschenke


Ein Heimatwichtelpärchen,
das ich Aigle und Bogumil taufe:

Aigle - „Strahlen“ - Göttin
des goldenen Lichtes, des
Sonnenunterganges,
Tochter der Nyx;
nun eine leicht dralle
Wichtelfrau
mit Mütze, zipfelrot

Bogumil: „Der von Gott geliebte“,
wohl auch geliebt vom
goldenen, strahlenden Lichte
des Abends

Zwei Fliegenpilze
ihnen an die Seite,
sie bringen fröhliche Farben und,
so hoffe ich, Glück



In Variationen:
Frühstück, Mittagessen, Abendbrot -
das ist die Konstante
der Gleichförmigkeit

In steter Gleichförmigkeit
auch der Regen draußen,
der den Schleier
über den Herbstanfang legt

Vom Bette aus
schaue ich dem Ziehen
der Wolken zu,
dem Fallen des Regens


Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der achte Teil.

Dienstag, 30. Mai 2023

Simultan Krippenspiel (Concert bruitiste)

 


Simultan Krippenspiel (Concert bruitiste)


Aufführung: »Große Soirée« am 31. 5. 1916 in der »Meierei« in Zürich, Spiegelgasse 16.

Vorgetragen von Hans Arp, Hugo Ball, Emmy Hennings, Marcel Janco, Marietta di Monaco, Tristan Tzara


Ein Krippenspiel. Bruitistisch

I. Stille Nacht.

Der Wind: f f f f f f f f f fff f ffff t t
Ton der heiligen Nacht: hmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmm
Die Hirten: He hollah, he hollah, he hollah.
Nebelhörner. Okarina – – – – crecendo. (Steigen auf einen Berg) Peitschenknallen, Hufe.
Der Wind: f f f f f f f f f f f ffffffffffffffffffffffffffffff t.

II. Der Stall.

Esel: ia, ia, ia, ia, ia, ia, ia, ia, ia, ia, ia, ia, ia,
Öchslein: muh muh muh muh muhm muh muh muh muh muh muh muh (Stampfen, Strohgeräusch, Kettenrasseln, Stoßen, Käuen)
Schaf: bäh, bäh, bäh, bäh, bäh, bäh, bäh, bäh,
Josef und Maria (betend): ramba ramba ramba ramba ramba – m-bara, m-bara, m-bara, -bara- ramba bamba, bamba, rambababababa

III. Die Erscheinung des Engels und des Sterns.

Der Stern: Zcke, zcke, zcke, zzccke, zzzzzcke, zzzzzzzzcccccccke zcke psch, zcke ptsch, zcke ptsch, zcke ptsch.
Der Engel: (Propellergeräusch, leise anschwellend, tremolierend, bis zu erheblicher Stärke, energisch, dämonisch)
Ankunft: (Zischen, Zerplatzen, Bündel von Licht in Geräuschen)
Lichtapparat: flutet weiß weiß weiß weiß weiß.
Fallen aller Mitwirkenden: erst auf die Ellbogen, dann auf die Fäuste. So, daß zwei Geräusche entstehen, die zusammenhängen.
Plötzliche Stille: – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

IV. Die Verkündigung.

Geräusch der Litanei: do da do da do da do da dorum darum dorum do da do, dorum darum, dorum, darum, do da do, do, doooo.
Tutti: Muhen, Iaen, Ketten, Schalmeien, Gebet, Stern, Schaf, Wind.
Stilisiertes Lachen: H a ha. haha. haha. haha. haha. haha. haha. haha.
Steigerung bis zu höchstem Lärm. Tanz nach gepfiffener Melodie
Der Engel: Dorim darum dorum darum, dorum darum, dododododododododooooo (das Ende des »doooooooo« sehr schmerzlich und bedauernd)

V. Die heiligen drei Könige

Der Stern: Zcke zcke ptsch, zcke zcke zcke zcke zcke ptsch! zcke zcke ptsch! ptschptschptschptsch. zcke zcke ptsch ptch ptsch.
Die Karawane der drei Könige: Puhrrrrr puhrrrr (Schnauben der Pferde, Trampeln der Kamele).
Die drei Könige: rabata, rabata, bim bam, rabta rabata, bim bam ba, rabata rabata rabta, rabata bim bam. bim bam. bim bam.
Glöckchen der Elefanten: Bim bim bim bim bim bim bim bim bim
Flöten
Trompete: Tataaaaaaaaaaaa! tataaaaaaaaaaaaaaa!
Schnauben der Pferde: Puhrrrrr, puhrrrrrrrr, puhrrrrrrr.
Wiehern der Pferde: Wihihihihih, Wihihihihlhi, Wihihihlhih.
Kacken der Kamele: Klatschen der Hände mit sehr hohler Fläche.
Der Stern: Zcke zcke zcke ptsch!

VI. Ankunft am Stalle.

Eine Kerze leuchtet auf. (Der Saal war vorher verdunkelt. Man sieht jetzt die Orchestermitglieder. Sie haben schwarze Tücher umgeschlungen, so daß ihre Gestalt verschwindet. Sie sitzen außerdem mit dem Rücken gegen das Publikum)
Josef: Bonsoir, messieurs. Bonsoir, messieurs. Bonsoir messieurs.
Esel und Öchslein: Ia ia ia ia ia ia a ia, muh muh muh muh muh muh
Geräusche von Kupfergeräten, Klappern von Kannen, Stoff-, Taft-Geräusche, Gläsertöne, Schöpfen, Rieseln, Schlüsselgeräusche
Josef: Parlez-vous français, messieurs? Parlez-vous français, messieurs?
Die heiligen drei Könige: Ah, eh, ih, ohm, uh, ah, eh, ih, oh, uh! aih, auhh, euhhh, eh ih, oh uhhhh! Ahhhhhhhhhhhhhhhh!
Maria (pfeifend): Schlaf Kindlein schlaf! Schlaf Kindlein schlaf! Schlaf Kindlein schlaf! Schlaf Kindlein schlaf!
Josef: kt, kt kt potz! kt kt kt kt Potz! kt kt kt kt potz!
Jesus: schmatzend schmatzend schmatzend schmatzend schmatzend.

VII. Die Prophezeiung.

Plötzliche Hammerschläge. Nageln. Rattern. Klappern.
Zurufe der Knechte: He hollah! he hollah! he hollah!
Zymbeln, Pfeifen, Johlen, Volksmenge Bellen.
Die Pharisäer: Rabata, rabata, rabata, rabata, sallada, salada, sallada, sallada, sallada, sallada, sallada, rabata bumm, rabata bumm, rabata bumm, rabata bumm.
Die heiligen drei Könige: oh oho oh oh oh oh oh oh oh oh oh oh (sehr schmerzlich)
Esel und Öchslein (sehr schmerzlich): Muh iahh, muhhhhh, iahhhhh, muhhh.
Lamm: bähhhhhhh, bähhhhhhhhh, bähhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!
Klagelaute der Maria: Ahhhhhhhhh, ahhhhhhhhhh, ahhhhhhhhhhhhhhhhh!
Glocken und Glöckchen: Bim bam bum, bim bam, bum, bim bam, bum. Gong gong.
Nageln: – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Und da er ward gekreuzigt
Da floß viel warmes Blut.

Krippenspiel

I.

Und es waren Hirten in derselbigen Gegend auf dem Felde bei ihren Hürden. Die hüteten des nachts ihre Herde. (Wind und Nacht. Ton der Nacht. Signale der Hirten. (Tzara: kleine Laute. Peitschenknallen)

II.
Maria aber und Josef lagen im Stalle zu Bethlehem auf den Knieen und beteten zum Herrn. (Während Ball und Janco beten, diesen Text wiederholen. (Schalk muh, Schlüssel. Arp: bäh, Strohgeräusch.)

III.
Am Himmel aber leuchtete der hellste Stern über dem Stalle von Bethlehem. Und siehe der Engel des Herrn machte sich auf und erschien den Hirten. Und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie. Und sie fürchteten sich sehr. (Stern, Brausen des Engels, ganz stark, dann Cymbel. Lichtapparat und Fallen. (Janco.) Pause.

IV.
Und der Engel sprach zu ihnen: fürchtet euch nicht, denn siehe: ich verkündige euch eine große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. (Do da do des Erzengels, dann Freude tutti. Steigerung. Crescendo. Dann: do da do doooooo des Engels)

V.
Und die Weisen aus dem Morgenlande machten sich auf mit ihrer Karawane, mit Kamelen, Pferden und Elefanten, die reich mit Schätzen beladen waren, und der Stern führte sie. (Stern, Wiehern und Schnauben der Pferde, Gang der Elefanten, Sprechen der Könige, Trompete. (Tzara; Arp), Glöckchen. Der Stern. Alles schwellend und abschwellend)

VI.
Und sie fanden den Stall und Josef begrüßte sie. (Bon soir, messieurs) Rabata rabata. Muh. Bäh.) Aber Josef verstand ihre Sprache nicht. (rabata, rabata.) Tzara: o mon dieu, o mon dieu (Schlaflied Emmy, Ah eh Tzara ih oh der Könige. Dann ah eh ih verstummend. Nur noch Gesang der Maria, Laute. Schmatzen des Säuglings und Beten: ramba rambaramba.) Pause.

VII.
Maria aber bewegte all diese Worte in ihrem Herzen. Und sie sah einen Berg und drei Kreuze aufgerichtet. Und sah ihren Sohn verspottet und mit einer Dornenkrone gekrönt. Und sie kreuzigten ihn. Aber sie wusste, daß er am dritten Tage wieder auferstehen werde, verklärt. (Johlen der Menge). Rabata rabata (Janco), Tzara: Pfeifen. Ball: He hollah! Nageln. Schalk: Klappern. Arp: bäh bäh. Rabata Rabata, sallada. (Crescendo) Nageln und Schreien. Dann Donner. Dann Glocken.

Geschrieben von Hugo Ball (1886 - 1927) und uraufgeführt von ihm und mit den oben genannten Akteuren am 31. 5. (!) 1916.

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (VII)

 


Fast ein Jahr  -  Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (VII)


Rosenengel

Zu Georg,
Ritter von der Rose,
hatte mich mein Sohn gekürt.
Mit seinem Holzschwert
hat er leichter Hand
meine Schultern berührt,
als er fünf Jahr
alt war

Ich wagte nicht,
es ihm zu sagen,
dass ich kein Ritter
war und bin.
Niemals bereit,
eine Rüstung zu tragen
und auch nicht bereit,
das Schwert zu führen

Jetzt, da er älter ist,
bitte ich ihn,
mich statt eines Ritters
zum Engel zu küren.
Vielleicht,
so kommt mir in den Sinn,
weil ich Georg,
der Rosenengel bin



Mach es wie die Sonnenuhr,
zähl die heitren Stunden nur!“
Nur dur?
Na toll!
Und was ist mit moll?

In Zeiten
der Beliebigkeiten,
wenn der Himmel nur ein Jahrmarkt ist,
wochenlanger Sonnenschein
als „Schönwetter“ gilt,
während Trockenheit
die Ernte frisst,
dann wünsche ich mir grün
und Wolkenziehn,
ein Regenlied im Blätterdach,
ein leiser Wind, der weht,
das Singen einer Melodie,
die nirgendwo geschrieben steht



Was wäre,
wenn Dichterinnen
und Dichter
wieder singen lernten,
nichts irgendwo geschrieben steht,
Lieder nur
von Mund zu Ohr zu Mund erklängen,
unter besternten
Himmeln
gelehrt gelernt verweht



Es ist soweit,
ein Sommer, der vorüberzog
endet -
noch ein kurzer Epilog,
dann:
wie die Tage in das Dunkel gleiten. . . -
wie sich der Seele Innenräume weiten;
Tau flicht Silber in die Wiesen,
silbern auch mein Haar -
So also
endet der Sommer dieses Jahr


Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der siebente Teil.

Der Rosenengel auf dem Foto wurde von mir mit Rosen der Sorte Rose de Resht (meine Lieblingssorte) garniert, das Foto fertigte Frederike Herrlich an. 


Montag, 29. Mai 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (VI)



Fast ein Jahr  -  Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (VI)


Das also war der Sommer nun -
Wind treibt böend Regen vor sich her,
die Welt verschwimmt

Das also war der Sommer nun -
und weiter geht ein Spiel,
welches nie eines war, da draußen in der Welt,
wo es kein zweites, drittes gibt,
wenn einer einem Leben nimmt

Noch immer Krieg,
auch wenn für ein, zwei Tage
Queen Mum´s Tod
der Zeitung erste Seiten dominiert

Noch immer Krieg.
Ich bin geschützt an warmer Stätte,
doch manchmal ist`s:
Mir friert

Vor einem Jahr noch
fühlt ich mich gesund,
nun fühle ich mich wund -
das also war der Sommer nun



Freier Wille?
Ach, das ist ne bitt´re Pille,
wer von den meisten,
wagt es, sich zu leisten?

Naturgesetze?
Welche auch noch strafen?
Nach welchen Paragraphen?

Nur Menschen denken
in Gesetzen und Strafen
Hoffe, nicht der Menschen alle,
denn das ist eine Falle

Anders gewählt,
auf andere Wege begeben -
das zählt



Die haben einen Knall
mit ihrem „Big Bang“,
dem ganz großen Anfangsknall,
als gäbe es im Weltenall

                 - Luft -

denn die überträgt den Schall.

Soso, Krieg ist der Vater von allen
Dingen, und darum muss es am Anfang
wohl mächtig knallen

Stille war
ein großes Licht
in Allem
dehnte sich unhörbar
in die leeren Weiten aus  -
ward unser Universum 

daraus

alles Weitere
Heitere



Wenn Worte nicht
wie Wolken wären,
all die ungefähren
wabbelweichen
großen Worte,
die - mezzoforte -
bombastisch
vor die Welt
gestellt
um zu vertuschen,
wie’s sich mit dem Sachverhalt
verhält,
und soviel untern Teppich kehren. . .

wenn Worte nicht
wie Wolken wären



Wir goutieren
abseits
ein Drei-Sterne-Gedicht

Die Worte,
wie sie
auf der Zunge zergehen

Hilflos
nach dem Abspann
nach Hause


Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der sechste Teil.

Das Bild „Island of the dead“ ist von Ethel Spowers (1890 - 1947)

Sonntag, 28. Mai 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (V)

 


Fast ein Jahr  -  Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (V)


I
ch nutze die Stille der Stunden
mich neu zu erspüren,
weiß nicht,
wohin diese Stunden mich führen,
ich möchte in Stille gesunden

Ich möchte die späten Tage noch segnen,
länger im Kreise der Lieben sein,
grüßen die Tage mit süßem Wein,
dem Du in allem begegnen



So etwa wäre abgeschiedenes Leben:
Wenn die Zeit stille steht
auf ihre Weise,
zwar bewegt leiser Wind kleine Zweige -
manches Mal, und seltener noch
fliegt ein kleiner brauner
Vogel auf,
um wieder zu entschwinden
in der Taxushecke -
sonst kaum etwas,
das sich regt
und zeigt,
dass Erde und Welt
sich weiter dreht



Einfachheit

Des Morgens
die stille Hütte
am Berge

Berglilien
stehn in der Sonne,
tropfenbehangen



Außer Kraft gesetzt
dieses:
„Es muss immer etwas geschehen!“
Reicht nicht ein
Spätsommersonnenstrahl,
reichen nicht
die im leisen Winde ruhig
sich bewegenden kleinen Zweige;
der kleine graubraune Vogel,
der sein Versteck
in der Taxushecke aufsucht?

Nie war das Leben näher



Wenn die Stille innen
nach Dir greift,
lerne zu segnen

Wenn sich die Stille
in Dir weitet,
lerne zu danken

Wenn die Stille beginnt
Dir dein wehes Herz zu wärmen,
lerne zu singen

Ein Gefäß sei Dein Gesang,
eine Schale,
in der sich lebendige Wasser finden,
die glänzenden Sterne
zu spiegeln

Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der fünfte Teil.

Die Illustration ist von Ferenczy Károly (1862 - 1917) „Landscape in Springtime with the Flower Hill“ (1899)

Samstag, 27. Mai 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (IV)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (IV)


Wie schön der Regen -
so lang schon ersehnt.
Groß ist meine Dankbarkeit,
die ich ausspreche,
stellvertretend
für Pflanzen und Gärten:

so stetig sanft fällt er,
dass die dürstende Erde
ihn empfangend trinken darf,
und kein Land
in grausen Sturzbächen versinkt

Wie ich, Erkrankter,
den spendenden Segen
erster Vorboten der Genesung
erahnen darf,
so fühle ich
mit Dir, geliebte Erde,
mir Mutter und Heimat zugleich



Lasst uns Fruchtbäume pflanzen,
dass wieder grünende Gärten
als ein schützendes Kleid
die verwundete Erde sanft bedecken

Lasst uns Lieder in den Himmel senden,
Segen
von Wolke zu Wolke tragen,
die Bäume wachsen lassen
in den Wüsten
der menschlichen Habgier



Wir können
den Regenbogen befragen,
jeden Morgen
nach den Farben schauen

Wir können
Saaten in den Garten tragen,
die kahlen Beete
bebauen

Wir können
arm sein oder reich,
uns wohl fühlen
ohne Vergleich

Wir können
wie Blätter sein,
unbeschrieben.
Wir können
uns lieben



Gott ist nicht groß,
eine Brennesselblüte nicht sehr virtuos
gebaut,
genau geschaut

Gott ist nicht klein
und passt doch
in jede Gänseblümchenschale
hinein

Gott ist Schimäre,
ist Kindersehnsucht,
was Dir geschieht,
was Du auch suchst,
auch tust:
Nimm Gott nicht als Flucht

Worte lassen sich wandeln
durch handeln,
und sieh:
Das Leben ist nicht groß,
einjede Blütenschale
ein Schoß
für künftige Früchte,

und sieh:
Das Leben ist nicht klein,
im Traum, die Gesichte,
sie flüstern Dir zu:

Ich bin das Leben,
ich will gelebt sein,
drum lebe auch Du

Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der vierte Teil.

Das Bild ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin.

Freitag, 26. Mai 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (III)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (III)


Wie werden wir einst sprechen?
Werden Worte - doppelbödig -
zum Verbrechen?
Wittert man hinter jedem Wort gleich
Religionsverrat?
Attentat?

Oder lässt man uns ruhig in Freiheit sein?
Was bei uns geschrieben steht,
liest eh kein Schwein?

Oder müssen wir,
wie einst zu Diktatorenzeiten,
in Andeutungen Ahnungen verbreiten,
bei deren Dechiffrierung keiner lachen darf?

Müssen wir diejenigen lieben,
die Morden Kriege nennen,
die am Verkauf von Waffen
mitverdienen?

Dürfen wir die Knickse üben,
schafsbrav
Jugendtorheit sühnen?
Sie wollen hören, wie es klingt,
wenn ihr Vögelchen elegisch singt?

Wie will man in die Zukunft schauen,
wo es doch Zukünfte gibt?
Welche Zukunft wir erbauen
obliegt
ganz uns. Wenn wir uns trauen



Wie das Wetter mit meiner Stimmung korrespondiert
ist schon bemerkenswert.
Gestern der Himmel noch wolkenunbefleckt,
heute greift er wieder in die Vollen,
dunkle Wolken, und ich höre Donnergrollen

Gestern noch alles Leben wie steckengeblieben,
meines geparkt in einem Krater des Neumonds,
selbst die Uhr erging sich in Langeweile,
im Zeigerschleichen,
wir gähnten zusammen,
das sollte für diesen Tag reichen

Das muss nun fernem Donnergrollen weichen



Ich weiß nicht,
in welchem Himmel er thront,
weiß nicht,
ist er nah, ist er weit,
weiß nur:

ein anderer Stern,
weiß nicht,
von was oder wem bewohnt,
weiß nur:
es ist an der Zeit

Sternenwanderer




Der Himmel über uns
mit
lichtblauen Samt tapeziert,
die paar Wolken am Morgen
zogen mit
Donnergrollen weiter

Regen wäre schön gewesen

Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der dritte Teil.

Das Bild ist von der 2017 verstorbenen Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit freundlicher Genehmigung der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh als Nachlassverwalterin.

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (II)

 


Fast ein Jahr  -  Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (II)


Menschen gibt’s genügend hier,
ob sie auch dechiffrieren können
die Zeichen in Himmeln, in Baumkronen,
im Waldes- im Meeresrauschen,
mir ist es genug,
dass ich inneren Gesängen lausche
und in meinen Dämmerstunden
Tag und Nacht und Traum vertausche


Manchmal schließe ich die Augen,
es blühen farbig innre Blüten auf -
noch rot in rot in Tönungen,
doch schon mischt sich Goldglitzer
und Abendsonnenorange ein -
Luzie reicht ihre Diamantenaugen
wir schauen uns an, unverwandt

Freude, das ist einfach Freude,
ganz einfach,
tief, und ohne Euphorie

Manchmal blinzelt
ein Sonnenstrahl mir zu,
dann hab ich sie


Zamek

Zamek kam,
und Zamek ging.
Eine Leiter im erkalteten
Kamine hing

Zamek ging
und Zamek schritt
Sprosse um Sprosse
durch Ruß und Schwarz
zum Lichte hin

Zamek schwarz
aus der Esse stieg,
Zamek schwarz,
o, Zamek flieg!


Weißt du, ich entfache nun ein Liebesfeuer,
denn ich sehe, es kommt kalte Zeit.
Doch die Wärme im Leben, die ist mir teuer,
verlassen wir die kalten Gemäuer,
verlassen wir Lärm und Paläste,
im Frieden der Hütten
feiern wir unsere Feste


Rodinka

Inmitten der Weite des Zerfalles,
und auch hier:
Hubschrauber kreisen

Hier heißt das Kreisen
der Rotorenblätter:
es gibt noch Hoffnung

Dorten:
Es fällt der Tod vieler
aus den Himmeln

Zamek singt:
„Warum durfte ich nicht
in der kleinen Hütte bleiben.
Rodinka?

Ich weiß, mir war die Armut ein Fluch,
auch wenn wir nicht hungerten,
und unsere Räusche hatten,
und ungefärbtes Tuch

Ich trug meinen Gegenbann
in die weitere Welt,
Rodinka,
nun habe ich zweierlei:
ich bin arm,
ich muss töten“

Hubschrauber
kreisen hier wie dort

Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der zweite Teil.

Die Illustration ist von Mikalojus Konstantinas Ciurlionis (1875 - 1911)

Mittwoch, 24. Mai 2023

Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (I)

 



Fast ein Jahr - Die Zukunft aller Gegenwart heißt Vergangenheit (I)



                                                       Wie soll ich in die Zukunft schauen,
                                                                             wo es doch Zukünfte gibt,
                                                                          welche Zukunft wir erbauen
                                                                                           obliegt ganz uns,
                                                                               . . . wenn wir uns trauen.


Schäfchenwolken
grüßen ins Exil -
was war denn mit dem Feiern?
Da war nicht viel - - -

die Münze ward geworfen -
von welcher Hand?
Kopf oder Zahl?
noch dreht sie kreiselnd,
wir: gebannt   -

gebannt von Ängsten,
die in uns entfesselt wurden,
wo wir sie doch tief vergraben dachten,
das war dann alles, was wir brachten:
wir aßen, tranken viel zu viel
auf begrenzter Erde
und nahmen Rubelrollen Aktien Dunkles Gold -
wir stehen der Vergänglichkeit im Sold

Ringsum - ach - Tote sinds,
sind Flüchtende,
Sieger sehen anders aus,
das also war der Sommer nun

Dort - in dem andern Land,
dem mit den Schützengräben -
dort - welche Fluchten?
Wohin mit unsrem Tun?

So jung seid Ihr,
duftend noch pfirsichsüß,
wolltet doch Frühling und Liebe erfahren,
und bekamt dann dies:
unter glühendem Himmel die Granaten
werfen etwas Euch Fremdes zu -
das also war der Sommer nun

Wir - in den gemachten Betten,
Frieden so lang,
wir haben doch schon gelebt!
Kennen Waldessaum und Frauenherz,
haben oft fröhliches Los gezogen,
und wenn in unsere Dämmerstunden
die Meere rauschen,
wissen wir:
sie sind unser gewogen -

was aber bleibet Euch?


Wie die Wogen der Meere atmet
die Zeit die Tage ein und aus,
und das gestrige Heute
ist wieder ein morgen -
wo sind die Schwestern hin ,
die letztens noch weißwollig
am Himmel zogen?
Kein Wölkchen am Himmel,
keine Schrift am Himmel,
und doch ein Menetekel

Die Sorge um die Gärten wächst

Tod sollte sein
ein sanft Hinübergleiten im Kreise unsrer Lieben,
Abschiedsfeier, Segen, Kuss auf die erkaltende Stirne
Dämmerstunde mit guten Grüßen ins andere Land des Seins


In meine Dämmerstunde
fallen dunkle Träume,
ich möcht zum Sterben irgendwann
in die stillen dunklen Wälder gehen,
und niemand bräucht mehr
hinterher zu räumen -
Gut gelebt:
Das also war der Sommer nun


Dieser Zyklus ist begonnen worden letztes Jahr (2022) im August, als ich wegen einer Herzoperation mit der so ganz unlyrischen Bezeichnung "Mitralklappen-Rekonstruktion" im Krankenhaus war. Das Schreiben daran wurde in der anschließenden Reha und in meiner Zeit der Rekonvaleszenz fortgesetzt. Endlich kam ich dazu, ihn ins Reine zu schreiben und abzuschließen. Dieses ist der erste Teil.

Zum Bild: "Vision of the future" veröffentlicht von der deutschen Margarinefirma Echte Wagner im Jahr 1930 als Sammelbild. Es kam mit folgender Bildunterschrift: "Drahtloses Privattelefon und Fernsehen. Jeder hat jetzt seinen eigenen Sender und Empfänger und kann mit Freunden und Verwandten kommunizieren. Aber auch die Fernsehtechnik hat sich so verbessert, dass die Menschen in Echtzeit miteinander sprechen können. Sender und Empfänger sind nicht mehr an ihren Standort gebunden, sondern immer in eine Box der Größe einer Kamera gelegt. "

Verlag: Holsteinsche Pflanzenbutterfabriken Wagner & Co. GmbH, Elmshorn in Holstein 1929. Für mich persönlich interessant ist, dass mein Vater in der Margarinefabrik in Elmshorn arbeitete, allerdings nach dem Krieg. Bei uns zu Hause waren dementsprechend die Sammelbände vollständig vorhanden, die ab 1945 herauskamen. Der Zukunftsband leider nicht.

Hugo Sonnenschein: Die Legende vom weltverkommenen Sonka (IV)

 



Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Der Zyklus "Die Legende vom weltverlommenen Sonka" wurde in Der neue Daimon, Heft 3 - 4, April 1919 veröffentlicht, herausgegeben im Genossenschaftsverlag, Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel.

Als die Zeitschrift Daimon als Der neue Daimon im April 1919 erschien, hatte die Zeitschrift einen neuen Verlag, den Genossenschaftsverlag, als Versuch der Sozialisierung des dichterischen Schaffens. Dieser Verlag startete mit folgenden Aufruf:

Noch ist der Dichter, der Denker in der Hand des Kapitals. Noch entscheidet über Druck und Verbreitung erstarrtes Alter, persönliche Voreingenommenheit der Verleger, der Dünkel ich-befangener Herausgeber. Junge Dichter fielen, ehe sie ihr Wort sahen, verhungerten, blind geopfert, ehe man sie sehen wollte, niemand gab ihnen das Lebensmittel: Geld für ihre guten Worte. Verse und Prosa der starken Anfänger verkümmern im Dunkeln, weil der zarte Anfang oder der steile Wurf noch kein Geschäft ist. So beschlossen wir, uns und den Proletariern, die nach uns kommen, zu helfen. Wir fordern euch auf, ein Gleiches zu tun, mitzutun.

Wir selbst wollen, was wir zu geben haben, preisgeben.

Wir wollen jede neue gute Stimme, soweit unsere Kräfte reichen, schallend machen.

Wir: Genossen, Kameraden Brüder, wollen zu allen sprechen, sagen, bekennen, was wir sind, was wir fühlen und denken. Wir wollen weder ausgebeutet werden, noch Ausbeuter sein.

Der Ertrag aus den Büchern der Klassiker, der großen Toten aller Zeiten, darf nicht Geschäftsleuten, Büchermachern, vor altem Neuen aufs Neue verlegenen Verlegern zuströmen, sondern den Erben der vergangenen Dichter, den lebenden, kommenden Dichtern: uns und unseresgleichen.

Das Wort muß frei werden, Gemeinbesitz aller. Unsere Arbeit gehört der Menschheit.
Der von uns Gefährten verwirklichte Genossenschaftsverlag stellt die Dichter endlich in die Reihe der Arbeiter: die Ernte aus ihren Werken dient nicht mehr dem Wucher der Zwischenhändler, sondern dem Lebensunterhalt der Mitschaffenden.

Wer reine Hände hat, stehe zu uns!

Für den Genossenschaftsverlag Wien:
Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel.

Das war eine illustre Runde: Alfred Adler (1870 - 1937) war ein Schüler Sigmund Freuds und Entwickler der Individualpsychologie; Albert Ehrenstein (1886 - 1950) Lyriker, Erzähler und Nachdichter chinesischer Lyrik; Fritz Lampl (1892 - 1955) Schriftsteller und Glaskünstler; Jakob Moreno Levy (1889 - 1974) Psychiater, Soziologe und Begründer des Psychodramas und der Gruppenpsychotherapie; oben genannter Hugo Sonnenschein und der Schriftsteller Franz Werfel (geboren 1890 in Prag, gestorben 1945 im amerikanischen Exil)


MORGENS erwachst du,
es regnet Herbst
nach eines Sommers Tag:
du erwachst
im Flaumbett deines Mutterhauses in Gaya an der Gaya
im Marsgebirge deiner indo-slovakischen Heimat,
oder in Wien: Bettgeher auf einem Stundenlager
und obdachlos in den Praterauen
oder in Amsterdam im Strohsack-Asyl
der jüdischen Barmherzigkeit „Achnosas Achim“,
in Pariser Quartieren,
im Straßengraben vor Rom,
auf Deck, in Kajüten,
auf Matten des Urwalds
oder im Wigwam,
in Scheunen und Ställen,
Kasernen des Krieges,
Latrinen Europas,
im Kerker unterm Spielberg
oder im Unterstand bei Sokal,
in Baracken, Lazaretten,
im Kriegsspital 1,
im Feldspital 2,
im Reservespital 100,
(letzthin plötzlich in der Obhut,
süßer heimatlicher Obhut
der Okurkas, Häscherghurkas
einer neuernannten Grenzstadt
weiß-rot übertünchter Pfähle
schwarz und gelber Unterfarbe
wie die Seele der Regierung,
die mit schiefem Lächelmäulchen
ihren Krämernamen zwitschert)
oder wie jetzt, den 22. IX. Morgens 8 Uhr 55,
in Kolln an der Elbe
im Turm der Villa Dekanka
im Familiengrab,
morgen am Mond -
überall zu Haus, fremd in der Heimat
erwachst du, es regnet, Herbst
nach einem Sommersonntag,
immer und wieder erwachst du allein:

Ruh ist Ziel aller Fahrt,
weißt du, lebendiger Leib,
mit geschlossenen Augen sehend;
Tätigkeit und Geschehn,
weißt du: Kampf mit der Zeit
um das Sein!
Mit den freundlichen Dingen,
deinen Feinden, maßest du dich,
bestandest, Unterlieger,
lebendigen Leibes besiegter Sieger,
nie ward dir der Freund:
der feindliche Feind.

Es regnet Herbst, Regen
nach letztem Sommertag,
da erwacht Erwachendem
morgens der Feind.

Ave dem Feind,
dem erwarteten Freund,
erlösendem Spender seienden Todes,
Mundschenk ewigen Weins,
bildlosen Herbstes Erbauer.


Pilgernd habe ich dich aufgenommen
Botschaft deiner stillsten Frommen.

Jenseits schlachtenmilder Stille
bildlos gottdurchtränkte Stille.

Diese Landschaft wird vergehn
und nicht wieder auferstehn.

Und im späten Abendlichte
wird des Blutes Schmerz zunichte.

Und mit eines Tags Vergluten
spülst du mich in deine Fluten,

überwätigender Wille.
Und verströmst mich in der Stille.


Ich höre Schritte!
Naht mir Fleisch und Blut?
Es will mich umarmen
mit köstlicher Schwere:

Mein Geist ist satt.
Keinen Körper weiß meine Seele,
mein Körper kein Weib.
Nie küsst ein Herz mehr
meinen bittern Mund,
den für die Stille süßen Mund,

himmlische Sehnsucht ist mein Leben,
nie wird mein Same irdisches Geschlecht.


WELT ist da, und Zeit ist Raum,
selbst das Jenseits noch ist Traum,
blutverwirkt mit Raum und Zeit
Eins im Kreis der Wirklichkeit.
Zeit ist Raum und Traum ist Welt,
die am Fels des Worts zerschellt:
Tod - ein Wort,
der Fels, das Wort.

In des Wortes Wesen mündet
Ruh nur, die sich findet.


NOCH bin ich nicht der Geist so weltlos klar,
um heimzumünden in des Wesens Nichts,
das Gottes ist und ewig war, bevor dass Chaos war;
noch bin ich Rhythmus, Farbe und Gestalt des Lichts:

Es werde Licht! da ward die Welt aus Not und Schein -
es werde Licht, da ward in ihr der Pfad zu Tod und Sein,
noch muss geschehn, dass ich am Pfad Entschlafender im Licht erwache,
aber erwache als einsamer Stern über deinem Dache,
erwache schon als Baum an deines Hauses Schwelle,
als Wind, der dich umarmt, und die dich liebt als Welle:
solang er leidet, muss der Mensch im Gleichnis werden.

Doch einst erlischt der Stern, erlischt in Tod und Sein,
es schläft der Baum, schläft in die Stille ein,
und Wind und Welle münden gotthinein,
wenn wir geworden sind und nicht mehr werden.


AUCH an des reinen Leides weisen Tagen,
auch in der hohen Nacht der klarsten Gegenwart
zerschimmert, vom einzigen Gleichnis getragen,
des Menschen einsame Fahrt,
wie wandernder Segel flatterndes Linnen
im grenzenlosen dunkellichten Garten
abendweltbegrenzter Wasserspiegel.

Leben ist Warten und nichts beginnen
und alles ertragen:
Leben ist Sterben, Tod ist Sein.

Wann enden meines Sterbens Tage,
wann wird der Reise Kreis vergehn,
wie lange trägt mein Herz die Frage
noch von Geschehen zu Geschehn.


ERSTEH mir doch in Raum und Zeit,
o Ebenmaß der Wirklichkeit,
dass ich das Dasein nicht entwerte,
der leidverzerrte Gottgekehrte,
dass ich nicht immer der Erde entrücke
und Einkehr finde im menschlichen Glück.

Zu spät schlägt vielleicht die verhasste Uhr:
ein Tor,
der diese Welt verlor,
ein Toter, der nicht Gott erfuhr.

Ich möchte beim Anbau säumen
und segenschwere Ernte träumen,
Pan betreuen gottversessen
und dann von süßen Früchten speisen,
Sonnen, die die Welt umkreisen,
Erde und Sonne essen,
innig unter Menschen wandeln
und mir irdisch Gut erhandeln,
feierabends beim Wein
der Nachbar meines Nachbarn sein.

Ich wollte ihre Unruh haben,
wenn sie begatten, gebären, begraben.

Doch alle Türen sich verschließen,
nie darf ich ein Herz genießen,
niemals wird in Raum und Zeit
mir friedliche Fläche der Menschlichkeit.
Ich treibe diesseits von Gott und jenseits der Uhr,
abseits der Welt und ohne Spur.


BEWEINT mich die Frau, sie weint: ich Weib,
zerjauchzt mich die Frau, frohlockt sie: ich Weib -

immer dunkler blutverbunden
mit Sehnsucht und Schmerz der sterbenden Stunden
siegt ihre Stimme: ich Weib wie Weib,
ich Weib wie Erde, Wasser, Luft und Feuer,
wir Töchter der Sonne, wir Hexen der Hölle -
vertraut sich bitteröde Wildnis
dem Wüsten entwandernden einsamen Mann.

In jäher Faust blitzt das Messer: Verbrecher!
und Klage mordet: Lust und Hunger -

Landstraßen und geheime Pfade
erinnern: Pilger, heiliger Pilger,
aber Wälder und Ebenen, breit duftend,
schimmern und tönen:Freiheit,
immer neue Heimat, letzte heimatlose Freiheit;
es wachsen und schwinden die Horizonte:
unvergänglich im Sterben ruhend geweiteter Raum.

Mir begegnet der Mensch, wer er auch sei,
umarmt mich, Sonka!
brüderlich dank ich dir, Bruder.

Mein Name ist Trost den Sklaven und Krüppeln
im Tumult großer Städte: nichtiges Dasein.
Sonka! Aufruf den Bettlern im Geist,
Arbeiter in den Fabriken und vor den Palästen: Arbeiter, Arbeit!

An allen Fronten der Menschheit den Menschen verbündet,
demütig, kniend, jammernd, brüllend, gebietend
läutet mein Name inbrünstig den Frieden.

Und Waldhörner tragen mein Herz von Wipfel zu Wipfel:
Ave blühende Schönheit!

Panzer und Drähte, gehämmert, verkünden der Fahrten
endliches Ende
und Aeroplane wolkentief
posaunen: Endlichkeit, Raum, vergänglicher Traum.

Störrisch fasst den überragenden Felsen
anflutendes Meer: Ufer, Fessel!
leichthin schaukelt die Woge den stählernen Riesen,
Sturm: Ärmliches Wrack deiner Hände!
Meervolk bekränzt entschäumt den Tiefen,
das Spielzeug spielend mit Blumen zu schmücken.

Weil ich nichts bin und nichts habe,
geizt der besitzende Nachbar verbissen:
Räuber und räudiger Hund,
indes ich, ein Wildbach, in Dunst und Dickicht entschwinde.

Einfältig glitzert jeden Tag und jede Stunde
Mond oder Sonne: Sonka.

Wer ruft in die Welt den Namen
mit seiner ganzen Seele,
dem Herzen meines Herzens -

namenlos,
höre mich.


O Wahrheit, Wahrheit, einfache Tochter der Täler,
Berge und Flüsse,
der Blüten und Samen,
der Sterne, Sonnen:
nimm und erlöse mein bitteres Menschenherz.

Befreie die Freiheit,
entbinde die Liebe,
beflügle die Sehnsucht,
gib Ruhe den Flügeln,
Gesang meinem Flug.

Segne die Nächte
mit friedlichen Träumen,
ihrer großen Erfüllung
die tagenden Tage.
Verschenke das Leben
mit offenen Händen
an Gute und Treue,
o, Wahrheit, Wahrheit,
einfache Tochter der Täler,
Berge und Flüsse,
der Blüten und Samen,
der Sterne, Sonnen.


ERHEB dich, Liebe, erhebe dich,
entsage nicht, trage,
trage dich wieder, duldend schwer,
aber erhebe dich, erheb dich
und leb nicht nebeneinher.

Vertraue dich dem Ruf der Erde,
ihrem Rhythmus: Stirb und Werde,
traumgeschaute Welt bricht an;
wisse, dass du ichbefangen,
toten Dingen nachgehangen,
und Vergangensein ist Wahn.

Versöhne dich und erhebe dich,
versöhne die Tage, erlösender Blick:
Zukunft! ewig kommendes Glück -
erheb dich, Liebe, trage dich,
schreite, befruchte und trage.


JETZT hingestellt vor euch in dieser Stunde,
die Julifeierabend ist, süß von Getreide und Holunder,
hingestellt vor euch, ihr Männer und ihr Frauen,
die ihr so aus der Arbeit kommet guten Willens,
zu hören, was ich rede,
ich rede zu euch,
wie ich zu Hirten und zu Kindern sprach
vom Ölgebirge meiner Heimat
vor vielen vielen Jahren.
Seid gut in dem Bewusstsein eurer Kraft und Sendung,
seid Menschen und versöhnet euch.

Jetzt hingestellt vor dich in dieser Stunde,
auf die der hohe Julihimmel blickt mir allgerechten Sternen,
spräch ich zu dir, du großes Arbeitsheer,
Heer der Revolution und Freiheit,
ich redete zu dir:

Ich war dir roter Fackelbrand zur rechten Stunde,
und war die Flammenfahne, Blut und Stimme
gegen ein Jahrtausend,
o, höre, ich beschwöre dich:
Sei stark in dem Bewusstsein deiner Kraft und Sendung,
versöhnet euch, versöhnet euch.


NOCH einmal rufe ich dich an, weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, dir Freund, dir Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch! Erkennst du mich? Ja, ich bin der, welcher von Osten kommt mit dem Stern im Haar, immer wieder von Osten kommt wie ein Bettler, aber geschmückt mit Löwenzahn durch die Straßen der Stadt wie ein Narr, Sonka. Weißt du nicht mehr, ich ruhte sehr müde am Neptunbrunnen in Florenz und Kinder brachten mir Fische und Brot, weil ich hungrig war, und alle Bettler der Gegend aßen von meinem Hunger und wurden satt ohne zu betteln. Kennst du mich nicht? Verblasste das Wunder in deinem Herzen, das geschah, als du deinen wütenden Hund auf mich hetztest: der sprang mich an mit gefletschten Zähnen und ward zum Lämmlein, als er mich erreichte, und leckte meine Hände. Erinnere dich: dass du gestorben wärst an jenem Tag, da du verlassen warst von Gott und Menschen. Ich schwieg und sah dich an. Aus meinem Schweigen wurde dir das Leben. Ich habe mich an dich verschenkt, Verbrecher im Gefängnis, an dich Totkranker im Spital, an dich Obdachloser im Asyl, an dich du Mädchen von der Straße, an dich und dich und dich, ich habe mich verschenkt mit Blick und Gegenblick und meiner Hand in deiner Hand, die ich umfasste. Du kennst mich ja. Ich bin von Osten. Und deine Maske aus dem Dreck des Westens wird nicht auslöschen mein Gesicht, das sich verschenkt, verschenkt, verschenkt, sieh mich nur an! und schon hast du ein Herz und ein Gesicht.
Noch einmal rufe ich dich an, weil ich dir schon
so oft begegnet bin auf der großen Landstraße
meines Lebens, dir Kamerad, dir Freund, dir
Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mit-
mensch, noch einmal rufe ich dir zu,
nicht Kamerad, nicht Freund, nicht
Bruder, nicht Genosse, nicht
Bürger, nicht Mitmensch,
noch einmal halte
ich dich an, Alles
Umfassender:
Mensch!



So endet denn dieser Zyklus, und wieder kommt mir eine Erinnerung, „verschenkt, verschenkt, verschenkt“, ich schrieb vor einigen Jahren dieses Gedicht:

Ich verschenke mich!

Ich biete mich nicht feil,
nicht für Geld, für Liebe nicht,
für nichts und gar nichts auf der Welt,
alldieweil ein großes Herz die Welt umfängt,
ein Herz, das nicht an Dingen hängt,
ich biete mich nicht feil.

Ich verschenke mich!

. . . und wenn ich mich einmal verneige,
dann neige ich mein Haupt
vor Lebenslust, vor Kinderlachen,
und ich schweige von den Dingen,
die mir heilig sind,
und im Erwachen bin ich selber Kind.

Ich verschenke mich!

Ich verschenk mein Herz in aller Offenheit
und träume himmelwärts
und manchmal tu ich weinen, weinen, weinen
vor lauter Glück, von aller Angst befreit,
und aller Herzen Du begegnen mir in Einem.

Ich verschenke mich!


Montag, 22. Mai 2023

Hugo Sonnenschein: Die Legende vom weltverkommenen Sonka (III)

 


Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Der Zyklus "Die Legende vom weltverlommenen Sonka" wurde in Der neue Daimon, Heft 3 - 4, April 1919 veröffentlicht, herausgegeben im Genossenschaftsverlag, Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel.




DIES eine Bein, darauf das andre ruht,
gestellt auf niebebauten Boden irgendwo
und mit den müden Händen einen wunden Fuß umfassend,
sitz ich verkauert stumm auf einem morschen Stamm,
gekrümmten Rückens,
dass mein Knie, von meines Hauptes blinder Last bebürdet,
die kalte Schläfe mir durchbohrt.

Ich bin ein Samenkorn
vom Wetter hergetragen.
Was werde ich, wenn ich da Wurzel fasse,
in diesem Moder kraftverlassen?

Bin ein verirrter Block,
verwitternd.
Entspringt eine Quelle meinem Gestein?
Verwehen Stürme mich zu Staub,
dass mich die Erde begrabe?
Oder bin ich Felsen genug, zu versinken im Grund?

Bin eine Schraube,
losgelöst von ihrer Dampfmaschine,
die vorüberrollte zu den Städten.
O, ist der Riesin Leib geborsten ohne mich?
O, ward die Lücke ausgefüllt von einer stahlgetreuern Schwester?
Mein Wert, mein Schicksal: der neuen Maschine zu dienen?
wird man mich suchen? wer mich finden?


spielende Kinder - ein rostig Ding?

Ich bin ein Bund Telegraphendraht,
der von einem hastenden Motor verschleudert,
hier die Straßenböschung herabglitt.
Guter Draht, geglüht, zu verbinden,
der Erde brüderlich schmerzvollen Puls zu verkünden,
Bewegung erleidend zu klingen.

Ich werde zerfallen, Unkraut düngen,
Dasein wird mich überwuchern.

Ich sitz verkauert stumm auf einem morschen Stamm,
zusammenbrach ein Wanderer am Wege,
mit erdenschweren Händen ein Gebilde,
(Seele ward der Form,
die Seele meines längst verscharrten Meisters,
der Götter schuf aus Stein)
ein meisterhaft vollendet unvollkommen letztes Werk:
Mensch auf dem Weg zu Gott.

Stoff: mein Leib,
Gestalt: mein Blut,
o Gleichnis mein Blut,
es sei dein Traum, was er wolle:
einmal verschlingt dich die durstige Scholle,
schmilzt in kosmischer Glut -
und endlich mündet die Welt im Geist,
der meinem Ja sein Nein erweist.


ICH habe die Erde unbeschlafen gelassen,
unbefahren die Ringelspiele
der Menschheit an den Heeresstraßen.
Nie hab ich angelegt auf ruhmbemalte Ziele.

Wie lächelt die Quelle verliebt sich zu spiegeln
in mir, mich spiegelnd im Ferneblauen.
In dem Geheimnis mit den Sternensiegeln
wir selig zu Tode uns schauen.


AUS mir loht stets ein Feueraufblick der Bejahung:
je bleicher sich mein Haupt in einen Schädel wandelt,
je dünner meine Hände Spinnen gleichen.
Hekatomben ungesühnter Leichen
bebürden mir die kranke Menschenbrust.

Mein Aufblick
durchbricht die blutschwarze Erde der Welt,
versengt das Sterben,
entschwebt dem All.

Willenskraft,
die mir das Antlitz meißelt,
ist Dichtermacht von Seiner Macht.
Ich trag ein Kreuz von aller Welt verlacht
und doch von Aller Schmerz gegeißelt:
mein Dichterherz.

Seit Anbeginn
verhöhnt mich Wahn der Zeit.
Ich treibe zu dir hin
in deine Ewigkeit.

Und Sünde und Not
mein tägliches Brot,

weil ich Gottes bin.


MEIN Pfad
durchläuft die höllischen Schächte,
umkreist die Bahnen der Sonnen:
des Menschentums Gleichnis scheingesponnen
rot eingewebt in Tage und Nächte -
mein Pfad, der die Zeit verlassend,
Irre erleidet, Wahn und Wahrheit,
bis seine blutenden Augen, verblassend,
verwerden in Klarheit!



GOTT: ist die Ruh, Vollendung
in Nichts entwandelter Kraft;
Ist: bildlose Beendung
von Zeit und Tod und Wanderschaft.

Nach dem Widerstreit der Stunden
sind die Dinge blind verblendet.
Nichts wird, wenn sich Gott beendet,
mein beharrlich Leid bekunden.

Einmal werden meine Stimmen
stumm sein von der Ruhe Gnaden.
Wann wird endlich wer bestimmen,
mich zu allem Nichts zu laden?


BETTLER von Haus zu Haus, wo wohnst du?

Auf der Menschheitsgaleere, geschmiedet an die Zeiger der Lüge,
Geflochten ans Urrad, ans Uhrrad der Zeit,
Hausen die Nächsten, Besitzer der Höhlen und der Paläste,
Hassen die Armut, die sie furchtsam lästern
Und mästen Gewissen verbittert mit Wahn. -

Aber du?

Blaudunkel flutet dein Blick:
Doch die Nacht kennt dich nicht,
Du bist unter Schatten nicht zu erblicken,
Dich beherbergt kein Grab.

Dein Antlitz ausgemergelt von Sonne -
Und ich begegne dir nie,
Wie du des Sommers wanderst im Staub der Straßen
Oder wie du wanderst am weißen Strand vor den Toren,
Und ich find dich nicht schlafen am Wiesenrain
Und ertapp dich nie
Abbeerend die Sträucher am Weinberg.
Die Gräser blühen nichts von deinem leichten Gang,
Die Wipfel rauschen nichts von deinem sich wiegendem Haupt,
Der Winde Atmen hat dein Odem nie verspürt.

Nicht kündet spiegelnd dich der Glanz der herben Jahreszeiten:
Schnee oder Blüte,
Die Männer wissen dich nicht,
Die Frauen: niemals hat solch ein Mensch hier gebettelt.

Und ich erschau dich doch allemal, Bettler von Haus zu Haus,
Am hellen Mittag und zur Mitternacht
Unbekümmert schreiten von Haus zu Haus
In Bettlertracht
Mit deinem Bettelsack
Und deiner Schnapsflasche:
Wo luderst du dein Tagwerk hin?
Was ist dein Wesen, was dein Sinn?
Wo ruhst du aus?

Zeitgeläute, raumatmend, Werden tönt nur Klageruf,
Sonka nennt mich die Erde.
Sich tötete der Mensch, der liebend mir den Namen schuf,
Geist, dass er ewig, und nicht mehr werde.
Beseelt war der Anfang, entleibt das Ende -
Tod ist vollendetes Immer.

Und wiedergeboren bricht aus tagdurchflossenem Sein
Widerhall seiner Stille
- Erstritten erlitten auf Erden einmal -
Das Wort und der Laut:
Ein Mal, mir geworden, ein Name,
Liebe und Sterben, in Ewigkeit da sein
Bedeutet dem Dulder,
Verwirklicht den Dichter,
Leitet im Wesen der Welt des Sehens heimgeheiligten Pfad,
Schmerzerhellte Beziehung zum Geist:

Stoff gestaltet den Schein der Legende,
Endlich verklingen, endlich geläutert von meines Ursinns Berührung
Verklingen die Dinge Sonka.

Gleichnis verwirrt und Bild verführt,
Da ist des Wortes Irresein,
Da ist der Traumgesichte Schein.
Ich schreite gleite unberührt,
Ein jeder geht den Weg allein.
Stein wie Stein, Staub wird Stein,
Weg beleibt, was der Weg gebiert,
Spur nur, was der Fuß verliert.
Aber jenseits von Weg und Spur und Staub -
Ist Sein Gott.

Gleichnis haucht das Tote nicht lebendig,
Bild schlägt, was lebendig wurde, tot.
Aus meinem leeren Bettelsack verschenk ich ewig Brot
Und meiner Flasche Nichts, das ich verspreng, ist wahnlos, nichts,
Beständig.




Hier erinnert mich Hugo Sonnenschein an Walther von der Vogelweide, gerade die Verse "Das eine Bein / darauf das andre ruht", und auch der weitere Verlauf dieses Monologes, ich denke, dass sie sich direkt auf das bekannteste Werk des Minnesängers beziehen:

Ich saz ûf eime steine
und dahte bein mit beine,
dar ûf satzt ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
mîn kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wes man zer welte solte leben;
deheinen rât kunde ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der deheinez niht verdurbe.
diu zwei sind êre und varnde guot,
daz dicke ein ander schaden tuot;
das dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolte ich gerne in einen schrîn.
jâ leider, des enmac niht sîn,
daz guot und weltlîch êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîge und wege sint in benomen;
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze,
fride unde reht sint sêre wunt.
diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt.


Ich saß auf einem Steine
und deckte Bein mit Beine,
darauf der Ellenbogen stand;
es schmiegte sich in meine Hand
das Kinn und eine Wange.
Da dachte ich sorglich lange,
dem Weltlauf nach und irdischem Heil;
doch wurde mir kein Rat zuteil,
wie man drei Ding’ erwürbe,
dass ihrer keins verdürbe.
Zwei Ding’ sind Ehr’ und zeitlich Gut,
das oft einander Schaden tut,
das dritte Gottes Segen,
den beiden überlegen.
Die hätt ich gern in einem Schrein.
Doch mag es leider nimmer sein,
dass Gottes Gnade kehre
mit Reichtum und mit Ehre
zusammen ein ins gleiche Herz.
Sie finden Hemmungen allerwärts;
Untreue liegt im Hinterhalt,
kein Weg ist sicher vor Gewalt,
so Fried als Recht sind todeswund,
und werden die nicht erst gesund, wird den drei Dingen kein Geleite kund.

Die Illustration zeigt Walther von der Vogelweide im Codex Manesse (etwa 1300 - 1340)