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Freitag, 29. November 2024

Christian Morgenstern: Die Heldin

 



Die Heldin

Muhme Kunkel geht voraus
wo´s ein Tier zu schützen gilt.
Tapfer hält sie ihren Schild
vor die kleinste Ackermaus.

Ihre Dienstmagd Lulu Hammer,
welche Fleisch frißt wie ein Wolf
sperrt sie, samt dem Kälblein Rolf
eines Tags in ihre Kammer.

Legt ein Beilchen ihr parat,
spricht: Wofern dir Fleisch tut not
schlag denn dieses Fleisch selbst tot -
oder aber iß Salat.

Lulu, ganz in sich gewandelt
fühlt, wie grauslich ihre Gier,
bittet ab dem Bruder Tier.
Ja, noch mehr, sie hat gehandelt

wie sonst nur des Helden Weise:
Nämlich gab, fürwahr, sie tat es,
Rolf die Köpfe des Salates
und verblieb selbst ohne Speise.

Schließlich ruft sie nach der Muhme. . .
Diese läßt die Zwei heraus.
Lulu lebt seither im Haus
reinerer Moral zum Ruhme.

Christian Morgenstern, geboren am 6. 5. 1871 in München, gestorben am 31. 3. 1914 in Untermais, Tirol, aus dem Nachlass


Das Video The Three Stooges - Malice in the palace (1949), Auszug, zeigt die für mich schönsten Szenen aus diesem Film, nicht nur für Vegetarier empfehlenswert. Zusammenschnitt von mir. 

Sonntag, 24. November 2024

Hugo Ball: Hymnus 1

 




Hymnus I

Zu sagen ist nichts mehr. Vielleicht, daß etwas noch gesungen werden kann. „Du magisch Quadrat, jetzt ist es zu spat“ So spricht einer, der zu schweigen versteht. „Ambrosianischer Stier“: gemeint ist der ambrosianische Lobgesang. Eine Hinwendung zur Kirche zeigt sich an in Vokabeln und Vokalen. Der Hymnus beginnt mit militärischen Reminiszenzen und schließt mit einer Anrufung Salomons, jenes großen Magiers, der sich tröstete, indem er die ägyptische Königstochter an sein Herz zog. Die ägyptische Königstochter ist die Magie.

Du Herr der Vögel, Hunde und Katzen, der Geister und Leiber, Gespenster und Fratzen.
Du Oben und Unten, Rechtsum und Linksum, Geradeaus, Kehrteuch und Haltwerda,
Der Geist ist in dir und du bist in ihm, und ihr seid in euch und wir sind in uns.
Der Auferstandene bist du, der überwunden war.
Der Entfesselte, der seine Ketten zerriß,
Der Allmächtige bist du, Allnächtige, Prächtige, mit einem brennenden Topf auf dem Kopf.
In alle Sprachen und Windrichtungen ist dir der Donner im Kasten zersprungen.
In Vernunft und Unvernunft, im toten und lebenden Reiche raget dein Blechhals und saust
deine Speiche.
Mit großem Brüllen kamst du, Sturmhaube der Rebellion, Krähtrompete, Völkersohn.
In Feuerschlünden und Kugelsaat, in Sterbegewinsel und endlosem Fluche,
In Blasphemien sonder Zahl, in Schwaden von Druckerschwärze, Oblaten und Kuchen.
So sahen wir dich, so hielten wir dich, in Gesichterregen, geschnitzt aus Achat.
Auf umgestürzten Thronen, zerspellten Kanonen, auf Zeitungsfetzen, Devisen und Akten,
Bunt aufgeputzte Puppe, hobst du das Richtschwert über die Vertrackten.
Du Gott der Verwünschungen und der Kloaken, Dämonenfürst, Gott der Besessenen.
Du Mannequin mit Veilchen, Strumpfbändern, Parfums und einem Hurenkopfe bemalt.
Deine sieben Jungen blecken die Zungen, deine Großtanten werden zuschanden, eine rote Kugel ist deine Gugel.
Du Fürst der Krankheiten und Medikamente, Vater der Bulbo und Tenderende,
Der Arsenike und Salvarsäne, der Revolver, eingeseiften Stricke und Gashähne,
Du Löser aller Bindungen, Kasuist aller Windungen,
Du Gott der Lampen und der Laternen, du nährst dich von Lichtkegeln, Dreieck und Sternen.
Du Folterrad, russische Schaukel der Qual, Homozentaurus, in Flügelhosen schwebend
durch den Krankensaal,
Du Holz, Kupfer, Bronze, Turm, Zinke und Blei, als Eisengockel schwirrst du geölt vorbei.
Du magisch Quadrat, jetzt ist es zu spat, du mystisch Quartier, ambrosianischer Stier,
Herr unserer Entblößung, deine fünf Finger sind das Fundament der Erlösung.
Herr unseres Jäger- und Küchenlateins, Lemantotrommel unseres Daseins, Äthernist,
Kommunist, Antichrist, oh! Hochweisige Weisheit des Salomo!

Text: Hugo Ball (1886 – 1927)


Aus: "Tenderenda der Phantast", Wallstein Verlag, Göttingen 2015, das Buch wurde zwischen 1914 und 1920 geschrieben, jedoch erst 1967 das erste Mal veröffentlicht


Zum Video:

Gesprochen und klanglich illuminiert von Dingefinder Jörg Krüger

Es wurden Filmschnipsel verwendet, in etwa aus der Zeit, hauptsächlich aus Filmen von Germaine Dulac (1882 - 1942) („La coquille et le clergyman“, 1927; „Themes et variations“, 1928; „Danses espangnoles“, 1930) und aus Metropolis von Fritz Lang von 1927.


Samstag, 23. November 2024

Des Anfanges friedliche Ausdehnung in die Weiten

 




Des Anfanges friedliche Ausdehnung in die Weiten

wir hätten
gern
mehr

dass entwürfe
bei weitem überwiegen
denn vollendungen

nicht das allzu
offensichtliche
spricht wahr

Des Anfanges friedliche Ausdehnung in tiefviolette Weiten
Stille umfing, es war weder Zeit noch kärgliche Begrenzung
Ein lautloses Singen dunkeltönender Heiterkeit, des Herzens
Wissende Saat, Keime dorten, noch ehe die Sterne erstrahlen
Und in der Dunkelheit drunten unendliches Rauschen des Meeres
Noch davor das Erinnern an rosenfarbene pochende Wärme,
Das Feiern des Getragenseins.

Und die Nilgänse kommen wieder, die weißen schreitenden
Reiher, die schwarz gefiederten Störche, unter ihren Fittichen
erblühen die Apfelbäume, Streulicht auf den gewundenen Wegen,
zaghaft schon streckt sich Laub, die Wiese betupft mit
Schlüsselblumen, Sonnenwirbel, und in den Schatten die Busch-
Windröschen, erheiternd Haselwurz und Aronstab und Zweiblatt,
Des Neuen sanfte Segnungen.

mauler maulen
heuler heulen
krieg findet nicht statt

vornean die sättigung
im tal der unzufriedenen
frieden findet nicht statt

alle pläne geheim
ausgebreitet vor
staunendem volk von wissenden

jede jeder
der wissenden nachbar
auf seiner insel

der nachbar mäht den rasen
verstehen
findet nicht statt

So war es: Des Geheimnisses tieferes Geheimnis nannte er Keim,
Spiralsterne umarmen sich unverloren im Weben des steigenden Süd,
Des Warum enthoben, nah sich selbst, nahe dem Nächsten sowie
Nahe dem Fernsten, da gibt es keine unbeholfenen Wagnisse, einjedes
Vergänglichen Wiederkehr - im Mäandern im Entwinden im Sich-
Ergeben, kein Ich kein Du kein Wir fraglos Selbstgeworfnes alles
Da es keinen Werfer gibt.

Auch der Steinhummeln Behäbigkeit erfüllt die neuen Lüfte, der Falter
strahlendes Flattern, der Bienen Emsigkeit, und kleine schwarze
Käfer senken sich in gelbe Blüten - und ein Dottergelb und der
Ringelnattern erste Häutung, so verwundbar überdauert Leben
Im Pentagramm der aufblühenden Lärchen und erste kleine Fliegen
Tanzen ihren Tanz der Liebe in den wenigen Tagen des Daseins,
Und das ist es, wofür alles ist.

wann kam denn
die welt zur welt
vor mir war sie nicht

den krieg verlieren
nein, ich möchte
ihn nicht wiederfinden

hoffe, dass
das fundbüro
geschlossen bleibt

ich bin ein guter verlierer



Text: Dingefinder Jörg Krüger

Musik: Laura Allen, Waterfall von dem Album Reflections, with Paul Horn, Flute, produces by Steven Halpern, 1980

Bild: Die Blütenstreuende, von Juan Brull (1863 - 1912)


Music and Pictures:I DO NOT OWN THE COPYRIGHT for the picture and the music. Weder der Blog noch der YouTube-Kanal sind monetarisiert.


Donnerstag, 7. November 2024

Zur Erinnerung an Hannah Szenes

 



Zur Erinnerung an Hannah Szenes


Hannah Szenes, geboren als Anikó Szenes am 17. Juli 1921 in Budapest; gestorben am 7. November 1944 ebenda, ungarische Widerstandskämpferin, die mit anderen jüdischen Frauen und Männern mit dem Fallschirm hinter der deutschen Front absprang, um zu versuchen, Juden zu retten. AlsTochter des Journalisten und Kinderbuchautors Béla Szenes demonstrierte ihr eigenes literarisches Talent von klein auf und schrieb seit ihrem dreizehnten Lebensjahr bis kurz vor ihrem Tod an ihrem Tagebuch.

Am 13. Mai 1944, auf dem Höhepunkt der Deportation der ungarischen Juden, überquerte Szenes die Grenze nach Ungarn. Sie wurde bereits am nächsten Tag aufgrund einer Denunziation von der ungarischen Polizei verhaftet. Aus der Akte der damaligen ungarischen Regierung geht hervor, dass sie schwerer Folter unterworfen wurde, den Code der geheimen Funkverbindung aber nicht preisgab. Sie lehnte auch dann jede Kooperation ab, als die ungarische Polizei ihre Mutter in die Zelle brachte und drohte, sie ebenfalls zu foltern.

In ihrem Prozess im Oktober 1944 verteidigte Hannah Szenes ihre Aktivitäten und verweigerte eine Entschuldigung. Als sie am 7. November 1944 durch eine Erschießung hingerichtet wurde, lehnte sie eine Augenbinde ab, um dem Exekutionskommando in die Augen blicken zu können.

Nach ihrem Tod wurden ihre literarischen Arbeiten entdeckt. Ihr Tagebuch und die anderen Schriften wurden veröffentlicht, viele ihrer Gedichte wurden bald berühmt, da sie eine selbst in schlimmen Zeiten hoffnungsvolle, starke Frau in aufrechter, heldenhafter Haltung zeigen. Einige der Gedichte wurden vertont. So z. B. das 1942 von ihr geschriebene und 1945 von David Zehavi vertonte Gedicht Ein Spaziergang nach Caesarea (הליכה לקיסריה, Halika LeKaysarya), welches als Eli, Eli (אֵלִי, אֵלִי, erster Vers des Gedichtes) bekannt wurde.

Mein Gott, mein Gott,
lass niemals enden:
den Sand und das Meer,
das Rauschen des Wassers,
das Strahlen des Himmels
und das Gebet des Menschen.

Im Gefängnis schrieb sie dieses Gedicht:

Gesegnet das Streichholz, das sich verbraucht, indem es die Flamme entzündet.
Gesegnet die Flamme, die immer brennt in den innersten Winkeln des Herzens.
Gesegnet das Herz, das Würde bewahrt auch in seiner letzten Stunde.
Gesegnet das Streichholz, das sich verbraucht, indem es die Flamme entzündet.

Das Foto zeigt sie 1942


Samstag, 2. November 2024

Meister Eckhart: Von der Armut (im Geiste)

 



Novemberzeit - Lesezeit, da darf es an langen dunklen Abenden gerne etwas tiefsinniger und grüblerischer sein, denn Zeit für Tiefsinn und Grübelei ist ja genügend. So empfehle ich heute zum Tiefsinnieren und Grübeln die Predigt Von der Armut (im Geiste) von Meister Eckhart (1260 - 1328), hier in der Übertragung aus dem Mittelhochdeutschen von Gustav Landauer. Diese Predigt ist für mein Empfingen einer der „taostischsten“ Texte der mystischen christlichen Literatur. Auch wenn mir einige Begrifflichkeiten fremd sind, finde ich hier doch vieles, was mich berührt und nachdenklich macht.

Von der Armut. 

Die Seligkeit tat ihren Mund der Weisheit auf und sprach: „Selig sind die Armen des Geistes, das Himmelreich ist ihrer." Alle Engel und alle Heiligen und alles was je geboren ward, muss schweigen, wenn diese ewige Weisheit des Vaters spricht; denn alle Weisheit der Engel und aller Kreaturen ist lauter nichts vor der Weisheit Gottes, die grundlos ist. Diese Weisheit hat gesagt, dass die Armen selig seien. Nun gibt es zweierlei Armut. Die eine ist eine äußerliche Armut und die ist gut und ist sehr an dem Menschen zu loben, der es mit Willen tut unserm Herrn Jesus Christus zulieb, weil er sie selber auf Erden geübt hat. Von dieser Armut will ich nichts weiter sagen. Aber es gibt noch eine andere Armut, eine inwendige Armut, von der dies Wort unseres Herrn zu verstehn ist, das er sagt: „Selig sind die Armen des Geistes oder an Geist."

Nun bitte ich euch, ihr möchtet so sein, dass ihr diese Rede versteht, denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit, wenn ihr der Wahrheit, von der wir jetzt reden, nicht gewachsen seid, so könnt ihr mich nicht verstehen. Etliche Leute haben mich gefragt, was Armut sei? Darauf wollen wir antworten. 

 Bischof Albrecht sagt, der sei ein armer Mensch, dem alle Dinge, die Gott je schuf, nicht Genüge tun, und das ist gut gesagt. Aber wir sagen es noch besser und nehmen Armut in einem höheren Sinne. Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat. Von diesen drei Punkten will ich sprechen. 

Zum ersten also heißt der ein armer Mensch, der nichts will. Diesen Sinn verstehn etliche Leute nicht recht; das sind die Leute, die peinlich an Pönitenzien und äußerlichen Bußübungen festhalten (dass die Leute in großem Ansehen stehen, das erbarme Gott!) und sie erkennen doch so wenig von der göttlichen Wahrheit. Diese Menschen heißen heilig nach dem äußern Ansehen, aber von innen sind sie Esel, denn sie verstehen es nicht, die göttliche Wahrheit zu unterscheiden. Diese Menschen sagen, der sei ein armer Mensch, der nichts will. Das deuten sie so, der Mensch solle so sein, dass er an keinen Dingen seinen Willen mehr erfülle, vielmehr danach trachten solle, dem allerliebsten Willen Gottes zu folgen. Diese Menschen sind nicht übel daran, denn ihre Absicht ist gut; darum sollen wir sie loben; Gott und seine Barmherzigkeit erhalte sie. Aber ich sage mit guter Wahrheit, dass sie keine armen Menschen und nicht armen Menschen gleichzustellen sind. Sie sind in der Leute Augen groß geachtet, die sich auf nichts Besseres verstehen. Doch sage ich, dass sie Esel sind, die von göttlicher Wahrheit nichts verstehn. Mit ihren guten Absichten können sie vielleicht das Himmelreich erlangen, aber von dieser Armut, von der ich jetzt künden will, von der wissen sie nichts. 

Wenn mich nun einer fragt, was denn ein armer Mensch sei, der nichts will, so antworte ich und spreche so. Solange der Mensch das hat, was in seinem Willen ist, und solange sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes zu erfüllen, der Mensch hat nicht die Armut, von der wir sprechen wollen, denn dieser Mensch hat einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genug tun will, und das ist nicht das rechte. Denn will der Mensch wirklich arm sein, so soll er seines geschaffenen Willens so entledigt sein, wie er war als er nicht war. Und ich sage euch bei der ewigen Wahrheit, solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen und irgend nach der Ewigkeit und nach Gott begehret, so lange seid ihr nicht richtig arm; denn das ist ein armer Mensch der nichts will und nichts erkennt und nichts begehrt. 

Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott und gehörte mir selbst; ich wollte nichts, ich begehrte nichts, denn ich war ein bloßes Sein und ein Erkenner meiner selbst nach göttlicher Wahrheit; da wollte ich mich selbst und wollte kein anderes Ding; was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich, und hier stand ich ledig Gottes und aller Dinge. Aber als ich aus meinem freien Willen hinausging und mein geschaffenes Wesen empfing, da bekam ich einen Gott; denn als keine Kreaturen waren, da war Gott nicht Gott; er war was er war. Als die Kreaturen wurden und ihr geschaffenes Wesen anfingen, da war Gott nicht in sich selbst Gott, sondern in den Kreaturen war er Gott. Nun sagen wir, dass Gott danach dass er Gott ist, nicht ein vollendetes Ziel der Kreatur ist und nicht so große Fülle, als die geringste Kreatur in Gott hat. Und gäbe es das, dass eine Fliege Vernunft hätte und vernünftig den ewigen Abgrund göttlichen Wesens, aus dem sie gekommen ist, suchen könnte, so sagen wir, dass Gott mit alledem, was Gott ist, die Fliege nicht ausfüllen und ihr nicht genug tun könnte. Deshalb bitten wir darum, dass wir Gottes entledigt werden und die Wahrheit vernehmen und der Ewigkeit teilhaft werden, wo die obersten Engel und die Seelen in gleicher Weise in dem sind, wo ich stand und wollte was ich war, und war was ich wollte. So soll der Mensch arm sein des Willens und so wenig wollen und begehren wie er wollte und begehrte, als er nicht war. Und in dieser Weise ist der Mensch arm, der nichts will.

Zum zweiten ist der ein armer Mensch, der nichts weiß. Wir haben manchmal gesagt, der Mensch sollte so leben als ob er nicht lebte, weder sich selbst noch der Wahrheit noch Gott. Aber jetzt sagen wir es anders und wollen ferner sagen, dass der Mensch, der diese Armut haben soll, alles haben soll, was er war als er nicht lebte, in keiner Weise lebte, weder sich, noch der Wahrheit, noch Gott, er soll vielmehr alles Wissens so quitt und ledig sein, dass selbst nicht Erkennen Gottes in ihm lebendig ist; denn als der Mensch in der ewigen Art Gottes stand, da lebte in ihm nichts anderes: was da lebte, das war er selbst. Daher sagen wir, dass der Mensch so seines eigenen Wissens entledigt sein soll, wie er war als er nicht war, und Gott wirken lasse, was er wolle, und frei dastehe, als wie er von Gott kam. 

Nun ist die Frage, wovon allermeist die Seelheit abhänge? Etliche Meister haben gesagt, es komme auf das Begehren an. Andere sagen, es komme auf Erkenntnis und auf Begehren an. Aber wir sagen, sie hänge nicht von der Erkenntnis noch von dem Begehren ab, sondern es ist ein Etwas in der Seele, aus dem fließt Erkenntnis und Begehren, das erkennt selbst nicht und begehrt nicht so wie die Kräfte der Seele. Wer dies erkennt, der erkennt, wovon die Seelheit abhänge. Dies Etwas hat weder vor noch nach und es wartet nicht auf etwas Hinzukommendes, denn es kann weder gewinnen noch verlieren. Darum ist ihm jegliche Möglichkeit ganz und gar benommen, in sich zu wirken, es ist vielmehr immer dasselbe Selbe, das sich selbst in der Weise Gottes verzehrt. So, meine ich, soll der Mensch quitt und ledig dastehen, dass er nicht weiß noch erkennt, was Gott in ihm wirkt, und dann kann der Mensch Armut sein eigen nennen. Die Meister sagen, Gott sei Wesen und zwar ein vernünftiges Wesen und erkenne alle Dinge. Aber ich sage: Gott ist weder Wesen, noch Vernunft, noch erkennt er etwas, nicht dies und nicht das. Darum ist Gott aller Dinge entledigt, und darum ist er alle Dinge. Wer nun des Geistes arm sein will, der muss alles seinen eigenen Wissens arm sein, als einer, der nichts weiß und kein Ding, weder Gott, noch Kreatur, noch sich selbst. Dagegen ist es nicht so, dass der Mensch begehren solle, den Weg Gottes zu wissen oder zu erkennen. In der Weise, wie ich gesagt habe, kann der Mensch arm sein seines eigenen Wissens. 

Zum dritten ist der ein armer Mensch, der nichts hat. Viele Menschen haben gesagt, das sei Vollkommenheit, dass man nichts von den leiblichen Dingen dieser Erde hat, und das ist in einem gewissen Sinne schon wahr, wenn einer es mit Willen tut. Aber dies ist nicht der Sinn, den ich meine. Ich habe vorhin gesagt, der sei ein armer Mensch, der nicht den Willen Gottes erfüllen will, sondern so leben will, dass er seines eigenen Willens und des Willens Gottes so entledigt sei, wie er war als er nicht war. Von dieser Armut sagen wir, dass sie die ursprünglichste Armut sei. Zweitens sagen wir, das sei ein armer Mensch, der die Werke Gottes in sich selber nicht kennt. Wer so des Wissens und Erkennens ledig steht, wie Gott aller Dinge ledig steht, das ist die offenbarste Armut. Aber die dritte Armut, von der ich sprechen will, das ist die tiefste, nämlich das der Mensch nichts hat. 

Nun gebt ernstlich acht; ich habe oft gesagt, und es sagen es auch große Meister, der Mensch solle aller Dinge und aller Werke, sowohl innerlich wie äußerlich, so entledigt sein, dass er eine Eigenstätte Gottes sein könne, worin Gott wirken könne. Jetzt aber künden wir es anders. Steht die Sache so, dass der Mensch aller Dinge ledig steht, aller Kreaturen und seiner selbst und Gottes, und ist es noch so in ihm bestellt, dass Gott eine Stätte in ihm zu wirken findet, so sagen wir: solange das in dem Menschen ist, ist der Mensch nicht arm in der tiefsten Armut, denn Gott ist nicht der Meinung mit seinen Werken, der Mensch solle eine Stätte in sich haben, worin Gott wirken könne, sondern das ist eine Armut des Geistes, dass der Mensch Gottes und aller seiner Werke so ledig steht, dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte sei, worin er wirken will, und das tut er gerne. Denn findet Gott den Menschen so arm, so ist Gott sein eigenes Werk empfangend und ist eine Eigenstätte seiner Werke damit, dass Gott ein Wirken in sich selbst ist. Allhier erlangt der Mensch in dieser Armut das ewige Wesen, das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er in Ewigkeit leben soll. 

Daher sagen wir, dass der Mensch arm dastehen soll, dass er kein Raum sein und keinen haben soll, worin Gott wirken könne. Wenn der Mensch einen Raum behält, dann behält er Unterschiedenheit. Darum bitte ich Gott, dass er mich Gottes quitt mache, denn unwesenhaftes Wesen und Sein ohne Dasein ist über Gott und über Unterschiedenheit; da war ich selbst, da wollte ich mich selbst und erkannte mich selbst diesen Menschen machend, und darum bin ich Ursache meiner selbst nach meinem Wesen, das ewig ist, und nach meinem Wesen, das zeitlich ist. Und darum bin ich geboren und kann nach der Weise meiner Geburt, die ewig ist, niemals ersterben. Nach der Weise meiner ewigen Geburt bin ich ewiglich gewesen und bin jetzt und soll ewiglich bleiben. Was ich nach der Zeit bin, das soll sterben und soll zunichte werden, denn es ist des Tages; darum muss es mit der Zeit verderben. In meiner Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge, und wollte ich, so wäre ich nicht noch alle Dinge, und wäre ich nicht, so wäre Gott nicht. Es ist nicht nötig, dies zu verstehen. Ein großer Meister sagt, sein Münden stünde höher als sein Entspringen. Als ich aus Gott entsprang, da sprachen alle Dinge: Gott ist da. Nun kann mich das nicht selig machen, denn hier erkenne ich als Kreatur; dagegen in dem Münden, wo ich ledig stehen will im Willen Gottes, und ledig stehn es Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, sondern ich bin was ich war und was ich bleiben soll jetzt und immerdar. Da erhalte ich einen Ruck, der mich über alle Engel schwingen soll. Von diesem Ruck empfange ich so reiche Fülle, dass mir Gott nicht genug sein kann mit alledem, was er Gott ist, mit all seinen göttlichen Werken, denn mir wird in diesem Münden zu teil, dass ich und Gott eins sind. Da bin ich was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt. Allhier findet Gott keine Stätte im Menschen, denn der Mensch erlangt mit seiner Armut, dass er ewiglich gewesen ist und immer bleiben soll. Allhier ist Gott im Geist eins, und das ist die tiefste Armut, die man finden kann. 

Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gewachsen ist, so lange wird er diese Rede nicht verstehen, denn es ist eine Wahrheit, die nicht ausgedacht ist, sondern unmittelbar gekommen aus dem Herzen Gottes. Dass wir so leben mögen, dass wir es ewig empfinden, das walte Gott. Amen.

Aus: Verschollene Meister der Literatur - Meister Eckharts mystische Schriften, in unsere Sprache übersetzt von Gustav Landauer, Karl Schnabel (Axel Junckers Buchhandlung), Berlin 1903

Gustav Landauer, geboren am 7. April 1870 in Karlsruhe; ermordet am 2. Mai 1919 in München-Stadelheim, Schriftsteller, Übersetzer, Anarchist, sein wichtigster Einfluss war Peter Kropotkin.

Als Pazifist kritisierte er den Ersten Weltkrieg scharf. Während der Novemberrevolution 1918/19 und unmittelbar danach war er an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik vom 7. bis zum 13. April 1919 beteiligt. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten in der Haft ermordet.

Hier der link zum gesamten Text des Buches: Meister Eckhart - Mystische Schriften

Freitag, 1. November 2024

HerbstLese: Jay M. Walther - Herzensbündnis

 



Herzensbündnis

Eine Wolke vor dem schmalen Mond
Das Glas der Kronleuchter funkelt in Grün
Wenn ich fort bin
koste den Gin
und das wild wuchernde Wiesenkraut
Den Geruch der Liebenden
Die Grashalme in den Mündern der Kinder
Atme die Luft der Himmelsränder
Geh hinunter in die Stadt

Schritt für Schritt
Dreitausend Seemeilen und eine Sekunde
später im siedenden Salzdunst
vergiss die Ränder des Himmels
das Blut in den Kelchen der Mohnblumen.
Brot Wein und die Dauer der Zeit
werden dir geschenkt
die Wege des Berechnens gesperrt.

Eine schmale Wolke vor dem vollen Mond
das Grün funkelt in deinen Augen


Für Hedwig Lachmann und Gustav Landauer
Für alle Liebenden

© Jay M. Walther 2024

Das Bild „Mädchen mit blaugrünen Augen“ am Ende des Videos und das Portrait von Hedwig Lachmann ist von Julie Wolfthorn, (auch Wolf-Thorn, geborene Wolf oder Wolff), geboren am 8. Januar 1864 in Thorn, Westpreußen; gestorben am 29. Dezember 1944 im KZ Theresienstadt) war eine deutsche Malerin, Zeichnerin und Grafikerin der Moderne. Als Jüdin wurde sie ein Opfer der Shoa. Bis auf wenige Bilder in den Depots deutscher Museen galt ihr umfangreiches Werk lange Zeit als verschollen und wurde erst Anfang 2000 wiederentdeckt.

Hedwig Lachmann, geboren am 29. August 1865 in Stolp, Pommern; gestorben 21. Februar 1918 in Krumbach), Dichterin und Übersetzerin von unter anderem Edgar Allan Poe und Oscar Wilde. Ihrem zukünftigen Ehemann, dem Anarchisten Gustav Landauer begegnete Lachmann zum ersten Mal 1899 bei einer Lesung im Haus von Richard Dehmel. Richard Dehmels Kriegsbegeisterung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 führte jedoch dazu, dass Lachmann ihm die Freundschaft aufkündigte.

Im März 1903 ließ sich Gustav Landauer von seiner ersten Ehefrau scheiden, um Hedwig Lachmann im Mai 1903 zu heiraten. Am 21. Februar des Jahres 1918 starb Hedwig Lachmann an einer Lungenentzündung.

Gustav Landauer kritisierte als Pazifist den Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg scharf. Während der Novemberrevolution 1918/19 und unmittelbar danach war er an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten am 2. Mai 1919 in der Haft ermordet.


Jay Monika Walther, kommt aus einer jüdischen-protestantischen Familie, aufgewachsen in Leipzig, Berlin, am Bodensee – und kreuz und quer in der ganzen Westrepublik; lebt seit 1966 im Münsterland und in den Niederlanden, arbeitet seit 1976 als Schriftstellerin und Regisseurin, gründete zwei Verlage. Sie schrieb zahlreiche Hörspiele, Erzählungen, Gedichte und Romane. Wie ‚Das Gewicht der Seele‘‚ Abrisse im Viertel‘. ‚Dorf – Milch und Honig sind fort‘, ‚Nachtzüge, Gedichte‘, zuletzt ‚Fluchtlinien – Wie die Welt sich in Innen und Außen teilte: Ein Roman über die Geschichte ihrer Familie quer durch die Zeiten und von Ost nach West. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, Preise und Stipendien. Sie wollte immer nur eines: Schauen Zuhören Schreiben.

Hier geht es zu ihrer Website: Jay M. Walther