Lunatic: Morgenhimmel
Neuzugang
in der Bibliothek der Alten Schule Fredelsloh: Das Buch „Chinesische
Märchen - gesammelt und aus dem Chinesischen übertragen von Richard
Wilhelm“. Richard Wilhelm (1873 – 1930) ist mir bekannt als einer der
Übersetzer des Tao Te King von Laotse. Seine Fassung dieses Weisheitsbüchleins
bekam ich als erste zu fassen, und sie ist seither die für mich persönlich
maßgebliche. Hermann Hesser schrieb zu der Übersetzung der Chinesischen
Märchen: „Diese Geschichten erzählt sich das Volk, sie gehören nicht jener
geheimnisvollen, hinter zehn Mauern verzauberten Literatur an, die
niemand lesen kann, sondern sind lebendig und gehen noch heute von Hand zu
Hand.“
Während
unsere Märchen oft mit den Worten enden: „Dann lebten sie glücklich und
zufrieden bis an ihr Ende“, finden sich in Chinesischen Märchen oft solche
Schlusstücke: „Damit verließ er sein Haus und wanderte in Muße. Er erlangte die
Unsterblichkeit und verschwand.“ Das liegt daran, dass viele der von Richard
Wilhelm gesammelten Märchen einen taoistischen Hintergrund haben. Darunter sind
einige Wundergeschichten, deren Bildwelten wahrhaftig in andere Welten weisen,
ähnlich der Bilder der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit denen ich
diesen Blogartikel garniert habe.
Ich
habe einige Auszüge aus dem Märchen „Morgenhimmel“ gewählt, eine Geschichte von
einem Knaben, dessen Lebensschicksal seltsam begann: „Es war einmal ein
Mann, der war schon zweihundert Jahre alt; aber er war noch immer frisch und
stark wie ein Jüngling. Da gebar ihm seine Frau ein Kind, und als das Kind drei
Tage alt war, starb sie. Der Vater gab das Kind der Nachbarin und sagte, sie
solle dafür sorgen. Dann ging er fort vom Hause und verschwand.“
Gelesen
hatte ich dieses Märchen in der letzten Vorvollmondnacht, so recht „lunatic“,
wie die Engländer sagen würden, und der Fastvollmond schien wahrlich helle
durch die Fenster.
Aus:
Morgenhimmel
„Wo
bist du das ganze Jahr gewesen?“
Der
Knabe sprach: „Ich war nur geschwind am Purpurmeer. Dort wurden meine Kleider
vom Wasser rot. Deshalb ging ich an die Quelle, wo die Sonne einkehrt, und
wusch die Kleider mir. Am Morgen ging ich fort. Zu Mittag kam ich wieder. Was
sprichst du denn von einem Jahr?“
Die
Frau fragte weiter: „Und wo kamst du denn vorüber?“
Der
Knabe sprach: „Als ich meine Kleider gewaschen hatte, da ruhte ich ein wenig in
der Totenstadt und schlief ein. Der Königvater des Ostens gab mir rote
Kastanien und Morgenrotsaft zu essen. Nun war ich satt. Dann ging ich zum
dunklen Himmel und trank vom gelben Tau. So war auch mein Durst
gestillt.“ . . .
„Woher
weißt du das?“ fragte der Kaiser.
„Als
Knabe bin ich einmal in einen tiefen Brunnen gefallen, aus dem ich viele
Jahrzehnte lang nicht mehr heraus konnte. Da war ein Unsterblicher, der führte
mich zu diesem Kraut. Man muss aber durch rotes Wasser, das ist so schwach,
dass keine Feder darauf schwimmen kann. Alles, was darauf kommt, sinkt in die
Tiefe. Der Mann zog einen Schuh aus und gab ihn mir. Auf dem Schuh fuhr ich
über das Wasser, pflückte das Kraut und aß es. Die Leute an jenem Ort weben
Matten aus Perlen und Edelsteinen. Sie führten mich in einen Raum, davor war
ein Vorhang aus einer bunten, dünnen Haut. Sie gaben mir ein Kissen aus
schwarzem Nephrit geschnitzt, darauf war Sonne und Mond, Wolken und Donner
eingeschnitten. Sie deckten mich zu mit einer feinen Decke, die war aus den
Haaren von hundert Mücken gesponnen. Diese Decke ist ganz kühl und im Sommer
sehr erfrischend. Ich befühlte sie mit der Hand, da schien sie mir aus Wasser
zu sein; als ich näher zusah, da war es lauter Licht.“
Einst
berief der Kaiser alle seine Magier, um mit ihnen über die Gefilde der Seligen
zu reden. Auch Morgenhimmel war dabei und erzählte: „Ich wanderte einmal am
Nordpol und kam zum Feuerspiegelberg. Dort scheint weder Sonne noch Mond. Es
ist aber ein Drache da, der hält einen feurigen Spiegel im Maul, das Dunkel zu
erleuchten. Auf dem Berge ist ein Park; darinnen ist ein See. Dort wächst das
Schimmerstengelgras, das leuchtet wie eine goldene Lampe. Bricht man es ab und
braucht es als Kerze, so kann man alle sichtbaren Dinge sehen und dazu die
Gestalt der Geister. Auch das Innere der Menschen kann man damit
durchleuchten.“
Als
Morgenhimmel gestorben war, berief der Kaiser den Sterndeuter und fragte:
„Kanntest du Morgenhimmel?“
Der
sagte: „Nein.“
Der
Kaiser fragte: „Was verstehst du denn?“
Der
Sterndeuter sagte: „Ich kann nach den Sternen sehen.“
„Sind
alle Sterne an ihrem Platz?“ fragte der Kaiser.
Ja.
Nur den Stern des großen Jahres habe ich achtzehn Jahre nicht gesehen. Jetzt
aber ist er wieder sichtbar.“
Da
blickte der Kaiser zum Himmel auf und seufzte: „Achtzehn Jahre lang war
Morgenhimmel mir zur Seite, und ich wusste nicht, dass er der Stern des großen
Jahres war.“
Die Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch auf FaceBook:
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