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Donnerstag, 7. November 2024

Zur Erinnerung an Hannah Szenes

 



Zur Erinnerung an Hannah Szenes


Hannah Szenes, geboren als Anikó Szenes am 17. Juli 1921 in Budapest; gestorben am 7. November 1944 ebenda, ungarische Widerstandskämpferin, die mit anderen jüdischen Frauen und Männern mit dem Fallschirm hinter der deutschen Front absprang, um zu versuchen, Juden zu retten. AlsTochter des Journalisten und Kinderbuchautors Béla Szenes demonstrierte ihr eigenes literarisches Talent von klein auf und schrieb seit ihrem dreizehnten Lebensjahr bis kurz vor ihrem Tod an ihrem Tagebuch.

Am 13. Mai 1944, auf dem Höhepunkt der Deportation der ungarischen Juden, überquerte Szenes die Grenze nach Ungarn. Sie wurde bereits am nächsten Tag aufgrund einer Denunziation von der ungarischen Polizei verhaftet. Aus der Akte der damaligen ungarischen Regierung geht hervor, dass sie schwerer Folter unterworfen wurde, den Code der geheimen Funkverbindung aber nicht preisgab. Sie lehnte auch dann jede Kooperation ab, als die ungarische Polizei ihre Mutter in die Zelle brachte und drohte, sie ebenfalls zu foltern.

In ihrem Prozess im Oktober 1944 verteidigte Hannah Szenes ihre Aktivitäten und verweigerte eine Entschuldigung. Als sie am 7. November 1944 durch eine Erschießung hingerichtet wurde, lehnte sie eine Augenbinde ab, um dem Exekutionskommando in die Augen blicken zu können.

Nach ihrem Tod wurden ihre literarischen Arbeiten entdeckt. Ihr Tagebuch und die anderen Schriften wurden veröffentlicht, viele ihrer Gedichte wurden bald berühmt, da sie eine selbst in schlimmen Zeiten hoffnungsvolle, starke Frau in aufrechter, heldenhafter Haltung zeigen. Einige der Gedichte wurden vertont. So z. B. das 1942 von ihr geschriebene und 1945 von David Zehavi vertonte Gedicht Ein Spaziergang nach Caesarea (הליכה לקיסריה, Halika LeKaysarya), welches als Eli, Eli (אֵלִי, אֵלִי, erster Vers des Gedichtes) bekannt wurde.

Mein Gott, mein Gott,
lass niemals enden:
den Sand und das Meer,
das Rauschen des Wassers,
das Strahlen des Himmels
und das Gebet des Menschen.

Im Gefängnis schrieb sie dieses Gedicht:

Gesegnet das Streichholz, das sich verbraucht, indem es die Flamme entzündet.
Gesegnet die Flamme, die immer brennt in den innersten Winkeln des Herzens.
Gesegnet das Herz, das Würde bewahrt auch in seiner letzten Stunde.
Gesegnet das Streichholz, das sich verbraucht, indem es die Flamme entzündet.

Das Foto zeigt sie 1942


Samstag, 2. November 2024

Meister Eckhart: Von der Armut (im Geiste)

 



Novemberzeit - Lesezeit, da darf es an langen dunklen Abenden gerne etwas tiefsinniger und grüblerischer sein, denn Zeit für Tiefsinn und Grübelei ist ja genügend. So empfehle ich heute zum Tiefsinnieren und Grübeln die Predigt Von der Armut (im Geiste) von Meister Eckhart (1260 - 1328), hier in der Übertragung aus dem Mittelhochdeutschen von Gustav Landauer. Diese Predigt ist für mein Empfingen einer der „taostischsten“ Texte der mystischen christlichen Literatur. Auch wenn mir einige Begrifflichkeiten fremd sind, finde ich hier doch vieles, was mich berührt und nachdenklich macht.

Von der Armut. 

Die Seligkeit tat ihren Mund der Weisheit auf und sprach: „Selig sind die Armen des Geistes, das Himmelreich ist ihrer." Alle Engel und alle Heiligen und alles was je geboren ward, muss schweigen, wenn diese ewige Weisheit des Vaters spricht; denn alle Weisheit der Engel und aller Kreaturen ist lauter nichts vor der Weisheit Gottes, die grundlos ist. Diese Weisheit hat gesagt, dass die Armen selig seien. Nun gibt es zweierlei Armut. Die eine ist eine äußerliche Armut und die ist gut und ist sehr an dem Menschen zu loben, der es mit Willen tut unserm Herrn Jesus Christus zulieb, weil er sie selber auf Erden geübt hat. Von dieser Armut will ich nichts weiter sagen. Aber es gibt noch eine andere Armut, eine inwendige Armut, von der dies Wort unseres Herrn zu verstehn ist, das er sagt: „Selig sind die Armen des Geistes oder an Geist."

Nun bitte ich euch, ihr möchtet so sein, dass ihr diese Rede versteht, denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit, wenn ihr der Wahrheit, von der wir jetzt reden, nicht gewachsen seid, so könnt ihr mich nicht verstehen. Etliche Leute haben mich gefragt, was Armut sei? Darauf wollen wir antworten. 

 Bischof Albrecht sagt, der sei ein armer Mensch, dem alle Dinge, die Gott je schuf, nicht Genüge tun, und das ist gut gesagt. Aber wir sagen es noch besser und nehmen Armut in einem höheren Sinne. Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat. Von diesen drei Punkten will ich sprechen. 

Zum ersten also heißt der ein armer Mensch, der nichts will. Diesen Sinn verstehn etliche Leute nicht recht; das sind die Leute, die peinlich an Pönitenzien und äußerlichen Bußübungen festhalten (dass die Leute in großem Ansehen stehen, das erbarme Gott!) und sie erkennen doch so wenig von der göttlichen Wahrheit. Diese Menschen heißen heilig nach dem äußern Ansehen, aber von innen sind sie Esel, denn sie verstehen es nicht, die göttliche Wahrheit zu unterscheiden. Diese Menschen sagen, der sei ein armer Mensch, der nichts will. Das deuten sie so, der Mensch solle so sein, dass er an keinen Dingen seinen Willen mehr erfülle, vielmehr danach trachten solle, dem allerliebsten Willen Gottes zu folgen. Diese Menschen sind nicht übel daran, denn ihre Absicht ist gut; darum sollen wir sie loben; Gott und seine Barmherzigkeit erhalte sie. Aber ich sage mit guter Wahrheit, dass sie keine armen Menschen und nicht armen Menschen gleichzustellen sind. Sie sind in der Leute Augen groß geachtet, die sich auf nichts Besseres verstehen. Doch sage ich, dass sie Esel sind, die von göttlicher Wahrheit nichts verstehn. Mit ihren guten Absichten können sie vielleicht das Himmelreich erlangen, aber von dieser Armut, von der ich jetzt künden will, von der wissen sie nichts. 

Wenn mich nun einer fragt, was denn ein armer Mensch sei, der nichts will, so antworte ich und spreche so. Solange der Mensch das hat, was in seinem Willen ist, und solange sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes zu erfüllen, der Mensch hat nicht die Armut, von der wir sprechen wollen, denn dieser Mensch hat einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genug tun will, und das ist nicht das rechte. Denn will der Mensch wirklich arm sein, so soll er seines geschaffenen Willens so entledigt sein, wie er war als er nicht war. Und ich sage euch bei der ewigen Wahrheit, solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen und irgend nach der Ewigkeit und nach Gott begehret, so lange seid ihr nicht richtig arm; denn das ist ein armer Mensch der nichts will und nichts erkennt und nichts begehrt. 

Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott und gehörte mir selbst; ich wollte nichts, ich begehrte nichts, denn ich war ein bloßes Sein und ein Erkenner meiner selbst nach göttlicher Wahrheit; da wollte ich mich selbst und wollte kein anderes Ding; was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich, und hier stand ich ledig Gottes und aller Dinge. Aber als ich aus meinem freien Willen hinausging und mein geschaffenes Wesen empfing, da bekam ich einen Gott; denn als keine Kreaturen waren, da war Gott nicht Gott; er war was er war. Als die Kreaturen wurden und ihr geschaffenes Wesen anfingen, da war Gott nicht in sich selbst Gott, sondern in den Kreaturen war er Gott. Nun sagen wir, dass Gott danach dass er Gott ist, nicht ein vollendetes Ziel der Kreatur ist und nicht so große Fülle, als die geringste Kreatur in Gott hat. Und gäbe es das, dass eine Fliege Vernunft hätte und vernünftig den ewigen Abgrund göttlichen Wesens, aus dem sie gekommen ist, suchen könnte, so sagen wir, dass Gott mit alledem, was Gott ist, die Fliege nicht ausfüllen und ihr nicht genug tun könnte. Deshalb bitten wir darum, dass wir Gottes entledigt werden und die Wahrheit vernehmen und der Ewigkeit teilhaft werden, wo die obersten Engel und die Seelen in gleicher Weise in dem sind, wo ich stand und wollte was ich war, und war was ich wollte. So soll der Mensch arm sein des Willens und so wenig wollen und begehren wie er wollte und begehrte, als er nicht war. Und in dieser Weise ist der Mensch arm, der nichts will.

Zum zweiten ist der ein armer Mensch, der nichts weiß. Wir haben manchmal gesagt, der Mensch sollte so leben als ob er nicht lebte, weder sich selbst noch der Wahrheit noch Gott. Aber jetzt sagen wir es anders und wollen ferner sagen, dass der Mensch, der diese Armut haben soll, alles haben soll, was er war als er nicht lebte, in keiner Weise lebte, weder sich, noch der Wahrheit, noch Gott, er soll vielmehr alles Wissens so quitt und ledig sein, dass selbst nicht Erkennen Gottes in ihm lebendig ist; denn als der Mensch in der ewigen Art Gottes stand, da lebte in ihm nichts anderes: was da lebte, das war er selbst. Daher sagen wir, dass der Mensch so seines eigenen Wissens entledigt sein soll, wie er war als er nicht war, und Gott wirken lasse, was er wolle, und frei dastehe, als wie er von Gott kam. 

Nun ist die Frage, wovon allermeist die Seelheit abhänge? Etliche Meister haben gesagt, es komme auf das Begehren an. Andere sagen, es komme auf Erkenntnis und auf Begehren an. Aber wir sagen, sie hänge nicht von der Erkenntnis noch von dem Begehren ab, sondern es ist ein Etwas in der Seele, aus dem fließt Erkenntnis und Begehren, das erkennt selbst nicht und begehrt nicht so wie die Kräfte der Seele. Wer dies erkennt, der erkennt, wovon die Seelheit abhänge. Dies Etwas hat weder vor noch nach und es wartet nicht auf etwas Hinzukommendes, denn es kann weder gewinnen noch verlieren. Darum ist ihm jegliche Möglichkeit ganz und gar benommen, in sich zu wirken, es ist vielmehr immer dasselbe Selbe, das sich selbst in der Weise Gottes verzehrt. So, meine ich, soll der Mensch quitt und ledig dastehen, dass er nicht weiß noch erkennt, was Gott in ihm wirkt, und dann kann der Mensch Armut sein eigen nennen. Die Meister sagen, Gott sei Wesen und zwar ein vernünftiges Wesen und erkenne alle Dinge. Aber ich sage: Gott ist weder Wesen, noch Vernunft, noch erkennt er etwas, nicht dies und nicht das. Darum ist Gott aller Dinge entledigt, und darum ist er alle Dinge. Wer nun des Geistes arm sein will, der muss alles seinen eigenen Wissens arm sein, als einer, der nichts weiß und kein Ding, weder Gott, noch Kreatur, noch sich selbst. Dagegen ist es nicht so, dass der Mensch begehren solle, den Weg Gottes zu wissen oder zu erkennen. In der Weise, wie ich gesagt habe, kann der Mensch arm sein seines eigenen Wissens. 

Zum dritten ist der ein armer Mensch, der nichts hat. Viele Menschen haben gesagt, das sei Vollkommenheit, dass man nichts von den leiblichen Dingen dieser Erde hat, und das ist in einem gewissen Sinne schon wahr, wenn einer es mit Willen tut. Aber dies ist nicht der Sinn, den ich meine. Ich habe vorhin gesagt, der sei ein armer Mensch, der nicht den Willen Gottes erfüllen will, sondern so leben will, dass er seines eigenen Willens und des Willens Gottes so entledigt sei, wie er war als er nicht war. Von dieser Armut sagen wir, dass sie die ursprünglichste Armut sei. Zweitens sagen wir, das sei ein armer Mensch, der die Werke Gottes in sich selber nicht kennt. Wer so des Wissens und Erkennens ledig steht, wie Gott aller Dinge ledig steht, das ist die offenbarste Armut. Aber die dritte Armut, von der ich sprechen will, das ist die tiefste, nämlich das der Mensch nichts hat. 

Nun gebt ernstlich acht; ich habe oft gesagt, und es sagen es auch große Meister, der Mensch solle aller Dinge und aller Werke, sowohl innerlich wie äußerlich, so entledigt sein, dass er eine Eigenstätte Gottes sein könne, worin Gott wirken könne. Jetzt aber künden wir es anders. Steht die Sache so, dass der Mensch aller Dinge ledig steht, aller Kreaturen und seiner selbst und Gottes, und ist es noch so in ihm bestellt, dass Gott eine Stätte in ihm zu wirken findet, so sagen wir: solange das in dem Menschen ist, ist der Mensch nicht arm in der tiefsten Armut, denn Gott ist nicht der Meinung mit seinen Werken, der Mensch solle eine Stätte in sich haben, worin Gott wirken könne, sondern das ist eine Armut des Geistes, dass der Mensch Gottes und aller seiner Werke so ledig steht, dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte sei, worin er wirken will, und das tut er gerne. Denn findet Gott den Menschen so arm, so ist Gott sein eigenes Werk empfangend und ist eine Eigenstätte seiner Werke damit, dass Gott ein Wirken in sich selbst ist. Allhier erlangt der Mensch in dieser Armut das ewige Wesen, das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er in Ewigkeit leben soll. 

Daher sagen wir, dass der Mensch arm dastehen soll, dass er kein Raum sein und keinen haben soll, worin Gott wirken könne. Wenn der Mensch einen Raum behält, dann behält er Unterschiedenheit. Darum bitte ich Gott, dass er mich Gottes quitt mache, denn unwesenhaftes Wesen und Sein ohne Dasein ist über Gott und über Unterschiedenheit; da war ich selbst, da wollte ich mich selbst und erkannte mich selbst diesen Menschen machend, und darum bin ich Ursache meiner selbst nach meinem Wesen, das ewig ist, und nach meinem Wesen, das zeitlich ist. Und darum bin ich geboren und kann nach der Weise meiner Geburt, die ewig ist, niemals ersterben. Nach der Weise meiner ewigen Geburt bin ich ewiglich gewesen und bin jetzt und soll ewiglich bleiben. Was ich nach der Zeit bin, das soll sterben und soll zunichte werden, denn es ist des Tages; darum muss es mit der Zeit verderben. In meiner Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge, und wollte ich, so wäre ich nicht noch alle Dinge, und wäre ich nicht, so wäre Gott nicht. Es ist nicht nötig, dies zu verstehen. Ein großer Meister sagt, sein Münden stünde höher als sein Entspringen. Als ich aus Gott entsprang, da sprachen alle Dinge: Gott ist da. Nun kann mich das nicht selig machen, denn hier erkenne ich als Kreatur; dagegen in dem Münden, wo ich ledig stehen will im Willen Gottes, und ledig stehn es Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, sondern ich bin was ich war und was ich bleiben soll jetzt und immerdar. Da erhalte ich einen Ruck, der mich über alle Engel schwingen soll. Von diesem Ruck empfange ich so reiche Fülle, dass mir Gott nicht genug sein kann mit alledem, was er Gott ist, mit all seinen göttlichen Werken, denn mir wird in diesem Münden zu teil, dass ich und Gott eins sind. Da bin ich was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt. Allhier findet Gott keine Stätte im Menschen, denn der Mensch erlangt mit seiner Armut, dass er ewiglich gewesen ist und immer bleiben soll. Allhier ist Gott im Geist eins, und das ist die tiefste Armut, die man finden kann. 

Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gewachsen ist, so lange wird er diese Rede nicht verstehen, denn es ist eine Wahrheit, die nicht ausgedacht ist, sondern unmittelbar gekommen aus dem Herzen Gottes. Dass wir so leben mögen, dass wir es ewig empfinden, das walte Gott. Amen.

Aus: Verschollene Meister der Literatur - Meister Eckharts mystische Schriften, in unsere Sprache übersetzt von Gustav Landauer, Karl Schnabel (Axel Junckers Buchhandlung), Berlin 1903

Gustav Landauer, geboren am 7. April 1870 in Karlsruhe; ermordet am 2. Mai 1919 in München-Stadelheim, Schriftsteller, Übersetzer, Anarchist, sein wichtigster Einfluss war Peter Kropotkin.

Als Pazifist kritisierte er den Ersten Weltkrieg scharf. Während der Novemberrevolution 1918/19 und unmittelbar danach war er an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik vom 7. bis zum 13. April 1919 beteiligt. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten in der Haft ermordet.

Hier der link zum gesamten Text des Buches: Meister Eckhart - Mystische Schriften

Freitag, 1. November 2024

HerbstLese: Jay M. Walther - Herzensbündnis

 



Herzensbündnis

Eine Wolke vor dem schmalen Mond
Das Glas der Kronleuchter funkelt in Grün
Wenn ich fort bin
koste den Gin
und das wild wuchernde Wiesenkraut
Den Geruch der Liebenden
Die Grashalme in den Mündern der Kinder
Atme die Luft der Himmelsränder
Geh hinunter in die Stadt

Schritt für Schritt
Dreitausend Seemeilen und eine Sekunde
später im siedenden Salzdunst
vergiss die Ränder des Himmels
das Blut in den Kelchen der Mohnblumen.
Brot Wein und die Dauer der Zeit
werden dir geschenkt
die Wege des Berechnens gesperrt.

Eine schmale Wolke vor dem vollen Mond
das Grün funkelt in deinen Augen


Für Hedwig Lachmann und Gustav Landauer
Für alle Liebenden

© Jay M. Walther 2024

Das Bild „Mädchen mit blaugrünen Augen“ am Ende des Videos und das Portrait von Hedwig Lachmann ist von Julie Wolfthorn, (auch Wolf-Thorn, geborene Wolf oder Wolff), geboren am 8. Januar 1864 in Thorn, Westpreußen; gestorben am 29. Dezember 1944 im KZ Theresienstadt) war eine deutsche Malerin, Zeichnerin und Grafikerin der Moderne. Als Jüdin wurde sie ein Opfer der Shoa. Bis auf wenige Bilder in den Depots deutscher Museen galt ihr umfangreiches Werk lange Zeit als verschollen und wurde erst Anfang 2000 wiederentdeckt.

Hedwig Lachmann, geboren am 29. August 1865 in Stolp, Pommern; gestorben 21. Februar 1918 in Krumbach), Dichterin und Übersetzerin von unter anderem Edgar Allan Poe und Oscar Wilde. Ihrem zukünftigen Ehemann, dem Anarchisten Gustav Landauer begegnete Lachmann zum ersten Mal 1899 bei einer Lesung im Haus von Richard Dehmel. Richard Dehmels Kriegsbegeisterung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 führte jedoch dazu, dass Lachmann ihm die Freundschaft aufkündigte.

Im März 1903 ließ sich Gustav Landauer von seiner ersten Ehefrau scheiden, um Hedwig Lachmann im Mai 1903 zu heiraten. Am 21. Februar des Jahres 1918 starb Hedwig Lachmann an einer Lungenentzündung.

Gustav Landauer kritisierte als Pazifist den Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg scharf. Während der Novemberrevolution 1918/19 und unmittelbar danach war er an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten am 2. Mai 1919 in der Haft ermordet.


Jay Monika Walther, kommt aus einer jüdischen-protestantischen Familie, aufgewachsen in Leipzig, Berlin, am Bodensee – und kreuz und quer in der ganzen Westrepublik; lebt seit 1966 im Münsterland und in den Niederlanden, arbeitet seit 1976 als Schriftstellerin und Regisseurin, gründete zwei Verlage. Sie schrieb zahlreiche Hörspiele, Erzählungen, Gedichte und Romane. Wie ‚Das Gewicht der Seele‘‚ Abrisse im Viertel‘. ‚Dorf – Milch und Honig sind fort‘, ‚Nachtzüge, Gedichte‘, zuletzt ‚Fluchtlinien – Wie die Welt sich in Innen und Außen teilte: Ein Roman über die Geschichte ihrer Familie quer durch die Zeiten und von Ost nach West. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, Preise und Stipendien. Sie wollte immer nur eines: Schauen Zuhören Schreiben.

Hier geht es zu ihrer Website: Jay M. Walther




Sonntag, 13. Oktober 2024

Klaus der Geiger - Über Freiheit

 



Über Freiheit

Was soll ich machen
Soll ich weinen
Soll ich lachen
Oder
Soll ich gar nichts machen
Mir in die Hose machen
Freiheit
Freiheit unter Versicherung
Freiheit unter Absicherung
Oben abgesichert
Unten abgesichert
Vorne abgesichert
Hinten abgesichert
Drinnen und draußen abgesichert
Das ist keine Freiheit mehr
Genau
Wie Denken Fühlen Handeln
Abgesichert
Das ist das Manko
Die Angst vor Freiheit
Ohne Absicherung

Workshop Musikimprovisation, Alte Schule Fredelsloh, 24. bis 26. September 2024. Das war die Aufgabe, die Klaus als Leitender uns Teilnehmenden stellte: Er hatte sechs kurze Texte geschrieben, die wir reihum vorlasen, nach jedem Text folgte eine etwa eineinhalbminütige Musikimprovisation, in die wir das Gelesene einfließen ließen. Heute der erste Text, über Freiheit, gelesen von Klaus.

Klaus der Geiger, Geige, Sprecher, Text

Erd Ling Judith, Perkussion

Susanne Bartens, Gitarre

Dingefinder Jörg Krüger, Querflöte

Die Bildcollage enthält Schnipsel aus “Teacups” (2023) - Written & Directed by Alec Green & Finbar Watson, Howl (Alan Ginsburg), Animation von Tendor Luzanov, Maija - Film de diplôme, promotion 2019. Graduation film, class of 2019. Directed by : Arthur NOLLET, Julien CHEN, Emma VERSINI, Pauline CHARPENTIER, Mégane HIRTH, Maxime FARAUD;; POILUS by ISART DIGITAL; Züri brännt, Videoladen Zürich, 1981 - It´s Art not Crime

Samstag, 21. September 2024

Zur Erinnerung an Anita Augspurg

 



Weckruf zum Frauenstimmrecht

Heran! Ihr Schwestern allumher,
Der neuen Botschaft freudig lauscht.
Fühlt als Rechtlose euch nicht mehr,
Unsrer Freiheit Banner rauscht,
Unsrer Freiheit Banner rauscht!

Gleiches Recht für uns wie für euch,
So tönt unser siegender Ruf.
Der Gott, der die Menschen erschuf
Der wollte sie aufrecht und gleich.

Die Frau - will werden frei!
Die Frau - soll werden frei.

Voll Mut voran, die Stirne hoch!
Zerschellt das alte Joch!

Voran! Trotz Spott und Widerstand,
Wir kämpfen kühn, wir kämpfen heiß,
Tochterrecht im Vaterland,
Bürgerrecht ist unser Preis,
Bürgerrecht ist unser Preis!

Stehet fest im mutigen Ringen,
Steht treu und einig geschart;
Wir lassen von Macht uns nicht zwingen,
Wir sind nicht von minderer Art.

Aus der ersten Ausgabe der Zeitschrift Frauenstimmrecht von April/Mai 1912 mit dem von Anita Augspurg geschriebenen Lied „Weckruf zum Frauenstimmrecht“, die zur Melodie der Marsellaise gesungen werden sollte, mit dem damals zeittypischen Pathos.

Anita Augspurg, geboren am 22. September 1857 in Verden (Aller); gestorben am 20. Dezember 1943 in Zürich, Fotografin, Schriftstellerin, Juristin, Pazifistin und Aktivistin der bürgerlich-radikalen Frauenbewegung.

Seit 1889 unterhielt Augspurg Kontakte zu Hedwig Kettler in Weimar. Sie wurde Mitglied von deren Deutschen Frauenverein Reform (später Frauenbildungsreform), der sich für das Frauenstudium einsetzte, und trat der 1890 in München gegründeten Gesellschaft für modernes Leben bei. In beiden Vereinen engagierte sie sich durch öffentliche Auftritte als Rednerin und Rezitatorin, die Aufsehen erregten und sie bekannt machten. Spätestens jetzt begann Augspurg, sich in der Frauenbewegung für Frauenrechte zu engagieren.

Schon 1894 hatten Augspurg, Sophia Goudstikker und die vor kurzem von Wiesbaden nach München übergesiedelte Ika Freudenberg in München die liberale Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau als Sammlungsbewegung gegründet, der zahlreiche Prominente aus Politik, Wissenschaft und Kunst angehörten und die nach Augspurgs Austritt den Namen Verein für Fraueninteressen annahm, unter dem sie heute noch existiert. Augspurg und Goudstikker galten mit ihren Kurzhaarfrisuren, ihrer Reformkleidung, ihren öffentlichen Bekenntnissen für den Kampf der Frauenbefreiung und ihrem modernen Lebensstil als zwei auffällige Erscheinungen ihrer Zeit.

Um 1899 war es innerhalb der Frauenbewegung zu einem Zerwürfnis gekommen, das sich vordergründig am Umgang mit dem Thema Prostitution, grundsätzlicher jedoch auch an Fragen des Vorgehens entzündete. Augspurg und ihre Weggefährtinnen Minna Cauer, Katharina Erdmann sowie ihre spätere Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann befürworteten ein kritischeres, stärker programmatisches Vorgehen als die fortan als „gemäßigt“ bezeichnete, eher pragmatische Mehrheit um Helene Lange und später Gertrud Bäumer. Die „Radikalen“ um Augspurg und Cauer organisierten sich in der Folge im neu gegründeten Verband fortschrittlicher Frauenvereine, während der Bund Deutscher Frauenvereine die Mehrheitsfrauenbewegung repräsentierte. Um diese Zeit trennte sich Augspurg auch von ihrer bisherigen Lebensgefährtin Goudstikker, die in Bayern in der Frauenbewegung aktiv blieb und fortan mit Ika Freudenberg zusammenlebte. Augspurg selbst bezog nach einiger Zeit mit Lida Gustava Heymann eine gemeinsame Wohnung in München.

Augspurg und Heymann wurden in den Vorstand des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine gewählt. Anders als die „Gemäßigten“, die in erster Linie auf Mädchenbildung und praktische Verbesserungen setzten, priorisierten sie früh das Frauenwahlrecht und gründeten zu diesem Zweck 1902 in Hamburg den Deutschen Verein für Frauenstimmrecht sowie 1907 den Bayerischen Landesverein für Frauenstimmrecht. Bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs übten sie in der sich zersplitternden deutschen Frauenstimmrechtsbewegung einen großen Einfluss aus. Von 1907 bis 1912 gab Anita Augspurg die Zeitschrift für Frauenstimmrecht heraus, von 1912 bis 1913 die Zeitschrift Frauenstimmrecht und ab 1919 die Zeitschrift Die Frau im Staat, in der feministische, radikaldemokratische und pazifistische Positionen vertreten wurden.

Im Ersten Weltkrieg nahmen Augspurg und Heymann an internationalen Frauen-Friedenskonferenzen teil, darunter am Internationalen Frauenfriedenskongress im April 1915 in Den Haag, und hielten illegale Versammlungen in ihrer Münchner Wohnung ab. Gemeinsam mit weiteren Pazifistinnen wie Frida Perlen aus Stuttgart verbreiteten sie Flugschriften gegen den Krieg.

Während der Machtübernahme der NSDAP waren Augspurg und Heymann auf einer Auslandsreise, von der sie nicht nach Deutschland zurückkehrten. Sie befürchteten Repressalien, da sie unter anderem 1923 beim bayerischen Innenminister die Ausweisung des Österreichers Adolf Hitler wegen Volksverhetzung beantragt hatten. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Ihre Bibliothek und alle Aufzeichnungen aus ihrer jahrzehntelangen Arbeit in der nationalen und internationalen Frauenbewegung gingen verloren.

Augspurg und Heymann wohnten von 1916 bis zu ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten in Icking in der Villa Burg Sonnensturm, anschließend gemeinsam im Schweizer Exil. Ab 1937 war Augspurg stark pflegebedürftig. Heymann schrieb mit ihr die gemeinsamen Erinnerungen unter dem Titel Erlebtes-Erschautes bis 1941 nieder. 1943 starb Heymann an Krebs. Augspurg überlebte sie nur um wenige Monate. Die beiden Frauen, die mehr als vier Jahrzehnte zusammen gelebt hatten, wurden beide auf dem Friedhof Fluntern in Zürich beigesetzt. (Wiki)

Das Foto zeigt Anita Augspurg im Jahre 1902

Donnerstag, 5. September 2024

Die Summe meiner Teile

 



Die Summe meiner Teile

Spieler, Selbdritt auf der Hallig meiner Sehnsucht
lege ich meine Ideale in den Skat,
alles auf den Prüfstein stellend,
Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart

Das Überlieferte nur Marginalie,
so wenig,
geboren in ganz anderer Zeit,
das war die Stille des Berges der Wahrheit,
so nannten wir ihn in unserer Narrheit,
und waren eine kurze Spanne vor dem Unbill der Zeit gefeit

Mag das siebenfach verhüllte,
Wahrheit nur nackt ist nicht schön,
das stärkste Verlangen ist das Ungestillte,
Schönheit nur nackt ist nicht wahr,
nicht allzufrüh und allzu beflissen
Flagge hissen,
die meisten Fotos der Engel sind nur gestellt,
die eine Zeit ist lange schon vorbei, fast unbemerkt
glitt sie davon. Auf den Kopf gestellte Welt,
durch Schweigen noch verstärkt,

Von allem vielzuviel,
Satellitengestirne,
leissurrend die Drohnen am Himmel;
nur ich,
ich hab mich mit Schmetterlingsflügeln erhoben,
taumelnd in den Winden,
als wenn ich nicht wüsste. . ., nichts wüsste,
ganz ahnungslos wäre,
wie die Meisen, die in der Linde turnen,
die singende Amsel auf dem Dache

Von allem vielzuviel,
von Ausfallstraßen, Krieggeräten, Teller-Ikebana,
nur ich,
ich habe die Sonne getrunken,
von morgendlichen Amseln betört

Von allem vielzuviel,
Wüstenwärme, Steppenstaub;
nur draußen, die Diana,
sie verlor sich in den restlichen Wäldern.
Den wenigen, noch ungestört

Ein Nest zu bauen im Auge des Zyklons,
wenn die Zeit ist, und der Winter geht zur Neige,
dann sammle wie die kleinen Vögel Zweige,
Heu und Federflaum, dass du die zarten Glieder schonst

Gestehen wir es uns ein:
Wir werden immer die Wenigen sein



Die Illustration ist von Dugard Steward Walker (1883  -  1937)

Sonntag, 25. August 2024

Im Märchenreich - Illustrationen von Dörte Helm

 



Dörte Helm, eigentlich Dorothea Amalie Helm, geboren am 3. Dezember 1898 in Berlin-Wilmersdorf; gestorben am 24. Februar 1941 in Hamburg, Malerin, Grafikerin, Bauhaus-Künstlerin. Sie studierte 1918/1919 an der Hochschule der Bildenden Künste Weimar in der Grafikklasse bei Walther Klemm. 1919 folgte der Wechsel an das Staatliche Bauhaus Weimar als Lehrling in der Wandmalerei- und Textilwerkstatt. Ab 1933 wurde sie durch das Reichskulturkammergesetz als „Halbjüdin“ mit Berufsverbot belegt, sie konnte nun nur noch schriftstellerisch (teils unter Pseudonym) tätig sein. Im Februar 1941 erlag sie einer Infektionskrankheit.

1921 veröffentlichte sie das Kinderbuch Im Märchenreich, dort illustrierte sie Verse ihres Vaters Rudolf Helm. Für mich, als märchenaffiner Mensch, sind ihre Illustrationen sehr ansprechend, nicht so überkitscht, und doch märchenhaft. Daher stelle ich hier einige davon vor: