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Sonntag, 21. Mai 2023

Hugo Sonnenschein: Die Legende vom weltverkommenen Sonka (II)

 



Der zweite Teil des Zyklus, eine eher prosaische und philosophische Abhandlung seines Verhältnisses zu Gott, „Gott ist durch kein Gleichnis zu erjagen, weil Gott kein metaphysisches Wild ist“, schreibt er. Einiges davon erinnert mich an Texte von Laotse und von Meister Eckhardt, und auch an einiges, das ich selber mir zusammen reimte, doch bei ihm mit einem größeren pessimistischen Einschlag. Dieser ist wohl dem Erleben des ersten Weltkrieges zu schulden, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gerade einmal ein halbes Jahr vorbei war. Das Foto von ihm ist von dem Fotografen Anton Josef Trčka (1893 - 1940), es zeigt den Dichter im Jahre 1914.


LEBEN: Werden Entleiden Sein.

Wort und Werk werden, entleiden, sind.

Die Ahnung meiner Seele in der verhüllten Zeit vor neunzehnhundertvierzehn - was aber mein Gehirn damals kaum begriff - ist durch das Erlebnis des Krieges tiefste Erkenntnis geworden:

dass die Erde totgeborenes ist.

Da ist Tod nicht zu fürchten; fürchte dich nicht vor Leid, Liebe und Verrat.

Denn diese Erde ist nicht die Gefahrzone im Weltall und dieses All ist chaotisches Sterben in sich.

Von unwissenden Beherrschern, die, beschränkt von der Vorstellung ihrer Weltgesetze, irdische Frucht erschufen, wird die Erde methodisch geordnet. Diese Weltorganisatoren, Moralfeldherren, Staatsphilosophen und Religionsstifter sind keine Nihilisten, weil ich das Nein bejahen muss und das Bewusstsein des Absolut – Absoluten jenseits der Welt, Gott, habe, das einzige Menschliche, die Demut, die ihnen nie werden kann.

Dieses ist mein Wesen: Verkommenheit. Welt - Zeit - verkommen - sein. Ich rechne nicht mit Zeit und Welt. Ich verzichte auf Bild und Gleichnis. Denn ich verzichte auf Gefolgschaft. Ich verzichte auf Jünger, die mich verstehen und deuten könnten. Und mein Leben bejahen, hieße Gott verneinen.

Ich bin das Bleibende im Strom, der nicht ist, weil ich Gott weiß.

Totgeborene Erde muss versagen: Nichts ist Alles ist Nichts.

Sünde ausgelöscht! Gut und Teufel, Tun und Lassen ausgetilgt! Sehnsucht erfüllt!

Was könnte foltern, erschüttern, quälen: Erde! Was feig machen und mutverzerren! Erde.

Kein Tor zur Hölle, keine Pforte in den Himmel, ich gestehe: es gibt keine Welt.



Leben: Werden Entleiden Sein

Wahrheit ist bildlos Gott. Gott ist. 1 = 1: das ist Alles. 1 = 2: warum nicht. Geschrieben, gesprochen, gehört. Ja und Nein. Und Nein. Wir denken, wir denken irdisch.

Gott ist durch kein Gleichnis zu erjagen, weil Gott kein metaphysisches Wild ist, das vom Pfeil des durch durchdringenden Wortegehirnes getroffen werden könnte.

Ist in kein Sinnbild zu kleiden wie die Gliederpuppe Mensch. Verflucht!

Ist sinnbild: bild - und sinnlos. Sein heiliger Sinn: Vereinigung der Welt, der Zeit. Vereinigung des Lebens in Welt und Zeit. Gott ist Sein. Sein ist das Sein.

Ich hüte mich, mehr zu verraten von meiner Heiterkeit.



Wirklichkeit geschieht. Geschehen stirbt wirklich. Welt, Zeit; Leben in Welt und Zeit. Stein wird zu Sand, Sand vielleicht Stein: Stein Sand. Es wächst, es fließt, es stirbt. Ding bleibt Ding, solang es stirbt.

Leben Kraft Trieb; ein Gehirn wird Vorstellung. Ein Gehirn denkt. Ich wende nichts ein. Aber Gott lasse man aus dem Spiel. Denn Wirklichkeit ruht - und - tanzt, ruht nicht. Zum Teufel die Moral! sie ist nicht Sprache geworden: es ist gleich 1:1, wenn es sein muss, eins ist nicht zwei, wenn es nicht sein muss; dies ist der Erde klar. Braucht die Erde Gott? Was braucht die Erde Gott!

Wer spricht von Zusammenhängen? Ich dichte. Und werde mich hüten, mehr zu sagen. -

Und ich betrete die Erde wieder, dass ich Boden unter den Füßen habe. Ich komme zurück mit der großen Erfahrung meiner bildlosen Gesichte, des Gottwissens. Ich bin da als Wille des Dichters, des Dichters, der weiß. Und mir ward die Dreieinigkeit des Wortes: Die Sprache des Künstlers; mir ist die Ehrlichkeit des Weltverkommenen, die Unabhängigkeit des Wissenden. Der Arbeit Können und Wollen. Sendung: die Macht des Dichters. Und Bewusstsein trotz der Sendung. Gestaltungstrieb.


Mit meinem Gottwissen bin ich da, ein dichtender Mensch. Ich bin nicht anders, ich kann nicht anders: ich muss sein, was ich kann. Die Bedingung meiner Form. Meine Art bedingt mein Charakter. Und doch und deshalb: Futurus sum bis ans Ende. Undenkbar  -

undenkbar ist das Was, es ist nicht darzutun. Der Rest ist Arbeit Der Rest ist das Wort. Aber: Bild und Gleichnis versagen, sogar der Punkt. Er ist Raum, er ist Vorstellung. Und ruf ich die Fläche, ist sie gleicher Stoff wie der Punkt. Die Linie muss verglimmen, wenn ich sie ansehe.

Ich dichte!

Ist größere Tragik auf Erden!

Ist solche Tragik jenseits der Welt?

O Wahrheit, denn die Wahrheit ist bildlos wie Gott.

1 = 1.



Jenseits der Schönheit. Schönheit, der Sinn, der den Sinnen entspringt, die da sind, Dasein, um nicht irre gehend zu leiten. Also Entwertung der wertlosen Werte, der totgeborenen. Schlacke, die Schlacke ist von Anbeginn zu Anbeginn. Was ist der Rest: eben Alles: Nichts.

Ich werde mich hüten, mehr zu sagen. Meine mutige Unabhängigkeit bis an die Grenzen. . . die Grenzen. Also endet meine Wahrhaftigkeit, meine Ehrlichkeit: ich leugne es nicht. Ich bekenne. Gott.

Ich hüte mich Nichts zu sagen. Alles bleibt: Schönheit - Krätze. Das ist da, Dasein, das nicht ist.

Kein Rückzug. Wenn ich sie von meiner Flucht reden höre, antworte ich:

Totgeboren und nicht wissend die Erde der Schönheit! Alles lebt in der Welt. Es ist leicht hier zu tanzen. Mitten im Kriege wissend zu tanzen. Über und unter wölbt sich der Weltraum: Warum nicht tanzen!

     -  Meerengen von Fischerbooten torpediert; Untersee von Langmut destilliert;      Riesenerze Malachit und Hydroxyt schmelzen im Tumult der These: Branntwein nistet in der Teuerung; Rosenernte hämmert in die Stellung aller Offensiven und am Knotenpunkt der Erde lagert Munition. -

Will man noch zwingendere Sprache? Brauch ich Verstärkung gegen das Frachtstück im Kampf um den Tanz auf Erden!
Ich heiße Sonka, der Dichter von Mund zu Mund.

Die Menschen sehen mich und hören meine Stimme,

sie lesen dieses Nihilisten Manifeste, sie sehen dieses Mathematikers Skelette, warum fragen sie (denn sie fragen): Wer ist Sonka? Wo, was?

Es ist nicht Flucht, wenn ich die Äpfel dieses Sommers zähle, die Äpfel, die im Herbst von einem Raubtier zermalmt, gefressen, vernichtet werden. Auch ich bin gefräßig. Und mäste mein Aas.




Dieses kleine Selbstgespräch mit Gott, eher Prosa, eingebettet in einen lyrischen Zyklus, weckt bei mir Erinnerungen an Gelesenes und Geschriebenes. Zum einen an den Tao Te King, wieder in der Übersetzung von Richard Wilhelm (1873 - 1930) von 1910, wo der erste Abschnitt heißt:

Der Sinn, der sich aussprechen lässt,
ist nicht der ewige Sinn.
Der Name, der sich nennen lässt,
ist nicht der ewige Name.
»Nichtsein« nenne ich den Anfang von Himmel und Erde,
»Sein« nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
Darum führt die Richtung auf das Nichtsein
zum Schauen des wunderbaren Wesens,
die Richtung auf das Sein
zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten.
Beides ist eins dem Ursprung nach
und nur verschieden durch den Namen.
In seiner Einheit heißt es das Geheimnis.
Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis
ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.

Doch auch an Meister Eckhardt (1260 - 1328) der unter anderem schrieb:

"Als ich in meinem ersten Ursprung stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursprung meiner selbst. Da wollte ich nichts. Dort verlangte ich nach nichts, denn ich war abgelöst von ihm und ein Erkennender meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und sonst nichts. Was ich wollte, das war ich. Was ich war, das wollte ich. Und hier stand ich, abgelöst von Gott und allen Dingen. Aber als ich dann heraustrat aus meinem freien Willen und mein geschaffenes Wesen entgegennahm, da bekam ich einen Gott. Denn bevor die Geschöpfe waren, da war Gott nicht Gott, vielmehr war er, was er war. Aber als die Geschöpfe entstanden und ihr geschaffenes Wesen empfingen, da war Gott nicht mehr Gott in sich selbst, sondern er war Gott in den Geschöpfen."

Und:

"Alles, was je von Gott herkam, ist bestimmt, sein Wesen durch Wirken rein zu entfalten. Die für den Menschen charakteristische Tätigkeit ist Lieben und Erkennen. Nun entsteht die Frage, worin von beidem die Seligkeit vor allem bestehe. Einige Meister lehren, sie bestehe in der Liebe; andere lehren, sie bestehe im Erkennen und im Lieben, und die reden besser. Aber ich behaupte, sie bestehe weder im Erkennen noch im Lieben. Mehr noch: Es gebe ein Eines in der Seele, von dem Erkennen und Lieben herkommen. Es selbst erkennt nichts und liebt nichts – wie das die Kräfte der Seele tun. Nur wer dieses Eine erkennt, der begreift, worin die Seligkeit besteht. Es kennt weder ein Davor noch ein Danach. Es harrt keiner von außen zufällig erfolgenden Ergänzung, denn es kann weder etwas hinzu gewinnen noch etwas verlieren. Es ist so arm, dass es nicht weiß, dass Gott in ihm wirkt. Ja, es ist selber das selbe, das sich selbst genießt wie Gott sich genießt. Daher behaupte ich, der Mensch solle frei und abgelöst stehen. Er soll nicht wissen und nicht erkennen, dass Gott in ihm wirke. Auf diese Weise kann der Mensch Armut besitzen."

Aus seiner Predigt „Über die Armut im Geiste“ (Das Bild „Kelch Christi ist von Nicholas Roerich (1874 - 1947)


Und ich, als Dingefinder, habe Ähnliches so formuliert:

Auf dem Pfade

Ich bin durchs Leben gegangen - äonenlang.
Und alle Zeiten durchschwingt ein göttlicher Klang.

Durch mich hindurch schautein ewiger Geist,
Ich vermag ihn nicht zu benennen,
Er schaut durch mich in diese Welt
Und lernt in ihr sich selber kennen.


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