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Freitag, 19. Mai 2023

Hugo Sonnenschein: Die Legende vom weltverkommenen Sonka (I)

 



Die Legende vom weltverkommenen Sonka

Kunst will Sein und Sein ist nichts als Liebe


M
it barfüßigem Schritt die heimatlichen Pfade kosend,
aufrecht wie Bäume, hellumblühten Hauptes,
weltenübersegnet,
sind wir einmal die selig Wandernden gewesen,
und wanderten, versöhnte Brüder auf verteilter Erde,
von Volk zu Volk, die Grenzen jeder Auserwähltheit überschreitend,
ein selbstlos reines Herz von Mensch zu Mensch tragend brüderlich.

Wir waren arm wie die Vögel unterm Himmel und nackt wie Lilien des Feldes
und atmeten das Licht der grenzenlosen Liebe,
den Odem Gottes, der die Welt vereinigt
im Paradies der Menschheitsseele.

Wir schritten aufzubauen
das Weltreich eines Volkes,
beseelt von göttlicher Vernunft,
in den Gesetzen deines Geistes.

Wir ruhten aus mit Landstreichern am Kreuzweg
in gastlich mildem Schatten alter Bäume,
wenn Mittag uns mit lichter Ruh beschenkte,
und feierten die Abende mit Dichtern in Gesprächen
im Kreis der Schwestern, die sich offenbarten
in allen ihren himmlisch-irdischen Gestalten:

Wundersame Priesterin der unbefleckten Flamme,
demütig stolze Trägerin von des Geschlechtes Schwere,
gekrönte Dienerin des Kindes, gnadenreiche Mutter,
Meisterin des heimatlichen Mahles, heilige Schwester,
Hüterin Gegenwart, Gebärerin der Zukunft,
unserer zügellosen Ichgesänge versöhnende Sordine -
wir betteten das Herz in deine traumvollen Hände
mit einzutönen in den Werdedithyramb des Alls.

Wir spielten mit den Knaben in den Gärten
und unserm Spiel entstieg, vom blauen Tag umschlungen,
der Jüngling heidnischer Gesänge, Genius der Freiheit.

Wir tranken Bruderschaft mit Königen und Bettlern
aus der verklärten Quelle deiner großen Güte,
die unsere Menschheitsstirn erlöste,
den Spiegel deines Wortes, Namenloser,
der du der Ursprung aller Weisheit bist,
der Sinn, die Wahrheit und das Leben:

Wir waren Menschen von des Lebens Gnaden,
nicht Könige, nicht Bettler, - Menschen, Menschen,
von jedem Hauch verkündet war Liebe unser Wesen,
dass Lerchen nisteten in unserer Wanderschaft.


O
Erde, Erde! Krieg.
O Erde, Blindenhaus der schwarzen Felder!

Menschen werden von Menschen mutwillig geschlachtet,
Tiere, wutbrüllend unverständliches Morden wider den Geist -
Tod ohne Tat, zielloses Blut:
Es erstickt das siebenmal durchbohrte Weltherz.

Gräberfurchen wühlt ein rostumflorter Pflug
in den jäh verdorrten Weinberg meiner Menschheitsstirne.
Blutschwarzer Geier erdnaher Flug
umnachtet Gegenwart,
da Leichenzug um Leichenzug
sich stürzt in totgeborne Zukunft,
Seiendes begrabend:
Ach, das Nimmermehr der Welt.

Der ewige Tag wird eingescharrt
und die unsterblichen Gestirne:
Was erlischt nicht die Sonne
an der Einsamkeit düsterster Erkenntnis
Erd und Himmel, Sein, All, Wirklichkeit -
die Welt ist Wahn.

Geschöpfe sind aus Staub gemacht
und unser Herz ist Staub -
Geist, Erde und Gestirne Staub.

O, Macht der Menschen über Menschen!
Gewaltige der Macht, die Wind mit Blut bebauen,
Gesetze züchten, uns zu würgen,
von unserm letzten Hauch zu leben,

weh Tyrannen,
die in Gewalt gedeihen
Und Hass in Recht entfachend,
Brudermord bereiten.

Und die Ohnmächtigen der Erde:
Vagabunden, Huren,
deren Armut unrein ist
wie Lüge, Neid und Gier,
ein räudig Pack aus Läusen und Gestank!

Und ihre Kinder sind die Sündenbrut der Alten.

Denn Liebe: Liebe - Unglück in der irren Weltmechanik,
Liebe: Verrat, betört Verworrenes,
das Wollust schreiend,
Schwachheit röchelnd,
Trug gebärend,
doch zugrunde geht.

Ich aber bin allein geblieben,
bin elend bang allein geblieben,
das Tränenmeer zu trinken zwischen Höll und Hölle.

Wohin hab ich verloren
Welt und Weib und Wesen,
was zu verlieren war, verloren,
dass ich nicht sterben kann?!

Was ruf ich an? Was ruf ich an!

So trostlos hart, so schwer, so bang bin ich allein.


Mi
t den ewigen Gestirnen
zeitlos schreitend, Gottes Schreiter,
schritt ich brüderlich und heiter
über sternenhohe Bahn.

In den Schluchten kam ich an, -
als ich aus der Sterne Spiel
fern zurück ins Chaos fiel
kam ich in den Schluchten an:

Und ich tast in Weh und Wahn
mich felsab und felsenan
einsamer und schwerer.

Dunkel liegt das fremde Land,
rätselhaft verhüllt und stumm.
An dem Stab der blinden Hand
frisst beständig, steil und krumm
und zerrissen ohne Steg
frisst mir bodenloser Weg.


D
EIN Auserwählter leid ich sonder Maß,
doch deines Willens Gnade macht mich stark.

O Herr! Der wüstzerstampften Liebe: Hass
zersägt mir tausendfach das Mark.
Ich bejahe den Krieg, das blutige Tier,
rot überwiehernd dürstendes Flüstern.

Ich krümme das Rückgrat, ich blähe die Nüstern,
mein Haupt reckt sich rasend ins Weltbrevier.

Und meine Hände, deiner Tat Verzücken,
die magischen Kreise Gestirne zerpflücken,
und meine Zähen gefletscht aus gräßlichsten Wonnen,
in mittagflammender Hölle sich sonnen,
die meine Blicke zu Dir überbrücken,
dass ich in des Einzigen Anblick erlahme.

Dein Tod und dein Leben! Mir entsprudelt der Same,
in meinem Blut ertrinkt der Boden
der Tage und Nächte All, verschlungen
von Gischt und Lava meiner Hoden,
verendet Weltruf ruhbezwungen.

Beendet. Entladen. Erfüllt. Verklungen
umsäuselt die göttliche Quelle
in kosmischen Kristallgebirgen
nach ungedachter Zeit
wieder des Anfangs ersten Keim.


Wie oft wurde ich gemustert, numeriert und ausgestrichen,
eingetragen, aufgeschrieben, registriert und mitgezählt,
eingeteilt und ausgewählt,
verglichen:
ich habe die Zeichen der Zellen, Betten, Akten, der Teufel weiß wessen,
wo ich geknebelt ward, und wo ich gefesselt gefangen gesessen,
nicht gekannt oder vergessen.

Armselig wie Zahlen die Menschen, die sie schrien und schrieben, -
ich, ich bin der, der ich bin, gebleiben:
Sonka,
töricht fremd im irdischen Land,
Geist in Gottes Hand:

Unbeirrt auf harten Wegen leid ich klarem Ziel entgegen.

Sieben Martern meintwegen!
Drosselt, knechtet, hängt mich auf!
setzet eure Nummer drauf -

mich hält kein Galgen auf,
ich ziele Gott, dem Ist, entgegen.


Ich bin ein Narr, doch fehlen mir die Schellen:
ich tanze nicht und schreie nicht auf Märkten,
ich lehre nicht,
ich löse keine Bilderrätsel auf,
Buchstabenspiele, Weltgeschichtlichkeit.

Denn irgendwo und wie und wann
geschieht das Sterben dieser fremden Erde,
mir Mutter einst: da ward ich Keim,
ich trieb, ein Schiff in Leid und Werden,
und duldend Mensch geworden,
wuchs empor ich in den Raum
nackt wie ein Baum.

Blut und Tränen, schwarz wie Wolkenstürze,
haben blind mein Erdreich unterwühlt und weggeschwemmt.
Ich wurzle nicht.

Sturmgetrieben ein wandelnder Baum,
den kein Sturm zerbricht,
wachse ich und wurzle nicht:
was nährt mein Geäst, was erfüllt meinen Stamm?
Ich bin ein Baum, bin aus Wurzel Schaft und Wipfel:

Zeitentwurzelt
über Welt und himmelaus
die Einsamkeit tragend,
Frucht und Blüte meiner Krone -
in Gott hinein.

Hugo Sonnenschein, aus: Der neue Daimon, Heft 3 - 4, April 1919, Genossenschaftsverlag, Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel.

Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.

Das Portrait von ihm ist von Egon Schiele (1890 - 1918)




Mich erinnerte beim Lesen der obigen Verse an zweierlei, einmal an die Klage des Laotse aus dem 20. Abschnitt, hier in der Übersetzung von Richard Wilhelm (1873 - 1930) von 1910:

O Einsamkeit, wie lange dauerst Du?
Alle Menschen sind so strahlend,
als ginge es zum großen Opfer,
als stiegen sie im Frühling auf die Türme.
Nur ich bin so zögernd, mir ward noch kein Zeichen,
wie ein Säugling, der noch nicht lachen kann,
unruhig, umgetrieben, als hätte ich keine Heimat.
Alle Menschen haben Überfluß;
nur ich bin wie vergessen.
Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.
Die Weltmenschen sind hell, ach so hell;
nur ich bin wie trübe.
Die Weltmenschen sind klug, ach so klug;
nur ich bin wie verschlossen in mir,
unruhig, ach, als wie das Meer,
wirbelnd, ach, ohn Unterlaß.
Alle Menschen haben ihre Zwecke;
nur ich bin müßig wie ein Bettler.
Ich allein bin anders als die Menschen:
Doch ich halte es wert,
Nahrung zu suchen bei der Mutter.




Zum anderen hatte ich in meiner eigenen Wanderzeit (Ich war in den Siebzigern alleine mehrere Monate und in den Achtzigern mit meiner damaligen Partnerin eineinhalb Jahre unterwegs) einen Zyklus geschrieben mit dem Titel Der Narr, daraus einige Gedichte:  


Der Narr


Ich singe in die Sonne
und fall in alle Himmel ein



Ja, ich bin der Narr!
Ich habe die Karte gezogen
und alles andere wäre gelogen,
ich bin der Narr
es ist wahr!

Ja, ich bin der Narr!
Ich blätter in meinen Annalen
und gebäre mich selbst unter Qualen,
ich bin der Narr
es ist wahr!

Ja, ich bin der Narr!
Ich werde meinem Schicksal
nicht mehr entgegenstehn!
Ich werde glühen
und blühen
und in der frühen
Stunde vergehn!


Ich weiß!

Wie ein waidwundes Wild
trage ich den Tod durch die Welt.
Ich weiß!

Schaut mir nicht in die Augen,
eines voll Trauer, eines voll Glut.
Ich weiß!

Sie haben in eine Nacht geschaut,
dunkel, dunkler als die dunkle Pforte -
Ich weiß!

Noch trage ich die Male des Schmerzes,
noch trag ich die Wundmale einer sterbenden Lust -
Ich weiß!

Dachte, hätte Gott gefunden.
Gott starb - ich starb - alles starb
Ich weiß!

Ich trage keine Hoffnung
hinter gottloser Stirne.
Ich weiß!


Finis

Wenn Du den langen dunklen Nächten
entfallen bist

und die Sonne wieder scheint,
dann lachst Du,
dann sagst Du:
Was soll der Mist?

Hat das der liebe Gott gemeint,
als er Dich schuf?
Du hörst im Herzen einen Ruf:
von weitem her,
ganz leis:

Ich weiß!

Das Bild ist von Frederick Mc Cubben (1855 - 1917)




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