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Dienstag, 21. Februar 2023

Selbstvergessenheit - Nachdichtungen Chinesischer Lyrik

 



Ich möchte eine Auswahl von Nachdichtungen Chinesischer Lyrik vorstellen. Am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts gab es unter den deutschen Literaten eine Chinabegeisterung, die sich bis in die dreißiger Jahre fortsetzen sollte. Nicht nur Theosophen oder die Aussteiger rund um den Monte Verita in Ascona fanden im Tao Te King Weisheit, auch viele Schriftsteller orientierten sich an chinesischen Dichtern wie Li Tai Pe. Hermann Hesse war ein Verehrer dieses Dichters, und Klabund, Franz Blei, Hans Schiebelhuth, Albert Ehrenstein und viele andere widmeten sich Nachdichtungen chinesischer Lyrik.

Eine Nachtlandung am Chien-Te

Mein kleines Boot bewegt sich an nebliger Lände,
Das Tageslicht schwindet. Ein Erinnern beginnt:
Die Welt war weit, die Bäume dicht beim Himmel,
Klar im Wasser die Nähe des Monds.

Meng Hao-jan (689-740)

Die Nachdichtung des Gedichtes ist von dem Dichter Hans Schiebelhuth, geboren am 11. Oktober 1895 in Darmstadt; gestorben am 14. Januar 1944 in East Hampton, New York, USA). Sie entstammt genauso wie die Eingangsgrafik dem Buch Gedichte nach den unsterblichen des Li-Tai-Po

Auf der Phönixterrasse in Nanking

Phönixe stolzierten einst auf der Phönixterrasse einher
Und flogen fort, die Terrasse ist leer -
Doch der Strom fließt weiter: wie immer.

Im Wu-Schloß wuchern Blumen, wo einsam verwachsene Wege laufen,
Die Minister der Tschin modern unter uralten Grabhaufen -
Die Zeit fließt weiter: wie immer.

Drei Berge verdämmern am Abendhimmel,
Der Strom umarmt die Weiße Reiher-Insel -
Dann fließt er weiter: wie immer.

Ziehende Wolken verdunkeln die Sonne, man wimmert
Verbannt aus Kaiserstadt und Phönixschimmer -
Dann lebt man weiter: wie immer.

Li Tai Pe, Nachdichtung Albert Ehrenstein, aus: Der Querschnitt, Band 12/1, 1932

Selbstvergessenheit

Der Strom - floss,
Der Mond vergoss,
Der Mond vergaß sein Licht - und ich vergaß
Mich selbst, als ich so saß
Beim Weine.
Die Vögel waren weit,
Das Leid war weit,
Und Menschen gab es keine.

Li-tai-pe, Nachdichtung Klabund, aus: Chinesische Gedichte, Nachdichtungen Gesamtausgabe, Wien, Phaidon, 1931

Klabund, das ist Alfred Henschke (1890 – 1928) Für die Nazis, die seine Werke später verboten, seine Bücher verbrannten, war er ein „Asphaltdichter“, also in etwa ein entarteter und verjudeter Künstler, für die Kommunisten war er ein „bürgerlicher Individualitätstrottel“. Doch mit seinen Gedichten, die er in kleinen Heften, wie zum Beispiel der „Harfenjule“ veröffentlichen ließ, billig gedruckt und günstig zu haben, so wollte er es, traf er einen Volkston, der ihn bei den „kleinen Leuten“ beliebt machte. Er starb am 14. August 1928 an Tuberkulose.

An Li Tai Pe

Von Du Fu

Kühler Wind wehrt von fern.
Was denkst du jetzt?
Wann kommen wohl die Vögel,
die mir Gutes bringen?
Herbstregengüsse schwellen Strom und See.
Ins Unglück schwemmte Dich Ruhm.
Die bösen Geister freuten sich,
Als Du erloschest.
O einmal möchte ich noch
Mit Deinem Schatten sprechen.
Wenn ich denke: Du starbst,
Möchte ich meine Gedichte
Der Vergessenheit opfern.

Deutsch von Albert Ehrenstein, aus: Der Querschnitt, 1927

Du Fu (chinesisch 杜甫, Pinyin Dù Fǔ, W.-G. Tu Fu; * 712 im Kreis Gong östlich von Luoyang, Provinz Henan; † 770 in der Gegend von Tangzhou (heute Changsha, Provinz Hunan) war einer der wichtigsten Dichter der chinesischen Tang-Dynastie und Zeitgenosse des Dichters Li Bai. 

Der Frühlingsstrom

Hitze und Kälte, Dunkel und Dämmer drängen einander. Durch meine geschlossenen Tore höre ich nichts außer dem Morgen- und Abendtrommeln. Von meinen oberen Fenstern seh ich nichts als Schiffe, die kommen und gehen.

Vergebens lockt mich der Oriol mit seinem Gesang, unter den blühenden Bäumen herumzustreifen. Vergebens lockt mich der Rasen mit seinem grünen Gras, nah am Wasser zu sitzen.

Aber es ist nur ein Ding und nur eines allein, das zu belauschen ich nimmer ermüde: der Frühlingsfluß - wie er über die Steine rieselt und schwätzt gegen die Felsen.

Mein Weg

Ein Seefahrer kam aus der Mitte der Meere,
Schwere Gesichte berichtend aus der Mitte der Meere:
„In einem tiefen Schlund der Seehügel und Meerberge
Sah ich deine letzte Herberge: Terrasse und Turm.
In der Mitte stand ein Tempel der Feen
Mit einer leeren Nische.
Die in den Meeren sagten alle, sie warte
Auf dich, Po Lo-t´ien.“

Meerfahrer, ich kenne das Tor der Leere,
Ich bin kein Jünger der Feen.
Die Gesichte, die du berichtet,
Sind eine Lügengeschichte.

Die Berge der Meere werden nie sein
Po Lo-t´iens Heim.
Wenn ich die Erde verlasse,
Werde ich gehn in die milden Gefilde
Der Tushita-Himmel.

(Tuṣita [tʉʃita] im Sanskrit oder Tusita im Pali (in der Literatur auch Tuschita oder Tushita geschrieben) ist eine himmlische Welt, in der sich der kommende Buddha Maitreya derzeit befinden soll.)

Lo-t´ien liebte von jung an das Studium. Als Erwachsener wandte er sich der Dichtung zu. . . . Er begann seine Laufbahn als Bücherzensor und gab sie auf als Regierungsgehilfe des Kaisers. Zwischendurch bekleidete er mehr als zwanzig Beamtenposten, lebte über vierzig Jahre davon. Sein Äußeres hielt er der Lehre des Kungfutse gemäß, seine Seele neigte sich rein der Lehre Buddhos. In seiner freien Zeit durchwanderte er die Gebirge, spielte Laute und trank Wein, seinen Geist anzuregen. . . . Was er im Leben begehrte, fühlte, bekam, verlor, bedrückt durchmachte, verstand - all dies stand als Geschichte, Aufsatz, Gedicht genau in seinem Werk. Geboren wurde er 771 n. Chr., er starb 846.

Aus: Po Chü – I (Des Gelehrten Po sechs Werke, von Lo-t´ien), Nachdichtungen von Albert Ehrenstein, geboren am 23. Dezember 1886 in Ottakring, Österreich-Ungarn; gestorben am 8. April 1950 in New York, Lyriker und Erzähler. 1910 wurde er durch das Gedicht Wanderers Lied, das Karl Kraus in der Fackel veröffentlichte, über Nacht bekannt. Er veröffentlichte danach auch in den Zeitschriften Der Sturm und Die Aktion. Bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 wurden seine Bücher auf den Scheiterhaufen geworfen. In den nächsten Jahren publizierte er in Zeitschriften der Exilliteratur. Von 1939 bis 1941 lebte er mittellos in Zürich. Schließlich ging er nach England zu seinem Bruder Carl, von dort nach Frankreich, bis er 1941 schließlich von Spanien aus mit einem Notvisum in die USA ausreisen konnte.

Keine Nachdichtung eines Chinesischen Textes, doch ist in diesem Gedicht von Eduard Saenger so viel taoistisches Gedankengut eingeflossen, dass es zeigt, wie dieses rezipiert wurde:

Nicht Eins und Alles.
Wann ist Eins, wann Alles?
Alles ist Nichts, und Nichts ist Alles.
Es wertet sich ein Werdendes zum Sein,
Zur Einheit aus dem Vielen.
Einheit ist Weg der Wesen, jeder Weg.
Dich stehst du, dich besinnend, still,
So ist und war nichts mehr,
Und Alles ist aus Nichts. -

Eduard Saenger 1880-1948. Aus: Nichts und Alles, eine Lehre von Adel, Im Wir Verlag, Berlin 1923

Eduard Saenger wuchs von 1883 bis 1888 in den USA und danach in einem Waisenhaus in Deutschland auf. Er studierte Philologie in Berlin, wurde promoviert und war Soldat im Ersten Weltkrieg. Saenger arbeitete als Journalist für verschiedene Zeitungen und als Sprecher für den Rundfunk. Seine Übersetzung der Sonette Shakespeares erschien 1909 im Insel-Verlag, er übersetzte das Waltarilied aus dem Lateinischen. Saenger, der als Jude in Nazi-Deutschland diskriminiert wurde, emigrierte 1935 nach England und versuchte dort seinen Unterhalt als Privatlehrer, Übersetzer und Journalist zu bestreiten.

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