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Samstag, 4. Februar 2023

Pazifistisches Schreiben in Zeiten des Krieges - Die weißen Blätter 1915

 


Pazifistisches Schreiben in Zeiten des Krieges - Die weißen Blätter 1915

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges wurde die Pressefreiheit aufgehoben. Die Zensurstellen der Militärbehörden waren für die Kontrolle zuständig und sorgten dafür, dass beispielsweise über kriegsrelevante Sachverhalte nicht berichtet wurde. Neben diesen strategischen Themen wurden auch Kriegskritiker zensiert, die Beschönigung des Kriegsalltags jedoch hervorgehoben.

Künstlerische Opposition während des Krieges gab es, vorrangig beteiligt daran war die Zeitschrift Die Aktion, erstmals 1911 herausgegeben von Franz Pfempfert. Bereits 1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurde die Zeitschrift erstmals beschlagnahmt. Wie so häufig im Kaiserreich ging man auch hier gegen eine politisch missliebige Zeitschrift unter dem Vorwand vor, sie habe sittlich anstößige Texte veröffentlicht. Mit Ausbruch des Krieges im August 1914 verschärfte sich die Situation noch, da jetzt eine schärfere Zensur galt. Pfemfert beschloss deshalb, ab sofort nur noch literarische Texte zu veröffentlichen, um so ein vollständiges Verbot des Heftes zu vermeiden. Erstaunlicherweise gelang dies, und das obwohl Pfemfert in Rubriken wie Ich schneide die Zeit aus hetzerische Artikel aus anderen Zeitungen geschickt montierte, und in einer Briefkastenrubrik Künstler und Intellektuelle, die den Krieg unterstützten, scharf angriff. Auch die literarischen Veröffentlichungen setzte er geschickt im Sinne des Antimilitarismus ein, indem er zum Beispiel Gedichte von der Front veröffentlichte, darunter Lyrik von Oskar Kanehl und Wilhelm Klemm, die das Grauen des Krieges eindrücklich gestalteten. Noch kühner war die Herausgabe von Sondernummern, die sich ganz der Literatur eines „Feindeslandes“ widmeten.

Dann waren da waren die Weißen Blätter. Die weißen Blätter waren eine Monatsschrift, die in ihrem Erscheinungszeitraum von 1913 bis 1920 zu einer der wichtigsten Zeitschriften des literarischen Expressionismus wurde.

Die weißen Blätter wurden von 1913 bis 1915 von Erik-Ernst Schwabach im Leipziger Verlag der weißen Bücher herausgegeben. 1915 übernahm René Schickele die Herausgabe. Er war mittlerweile in die Schweiz emigriert, daher konnte er unzensierter und deutlicher schreiben (lassen). Von 1916 bis 1917 gab der Verlag Rascher in Zürich die Zeitschrift heraus, 1918 der Verlag der weißen Blätter in Bern, von 1919 bis 1920 publizierte Paul Cassirer die Zeitschrift in Berlin.

In der Rückschau George Grosz’ waren die weißen Blätter „ein intellektuelles Magazin mit pazifistischer Tendenz, das verschleiert gegen den Krieg und für Völkerverständigung eintrat.“ Auch während des Ersten Weltkriegs wurden Texte von Ausländern aus Nationen veröffentlicht, mit denen sich Deutschland im Krieg befand.

Laut einer Rezension Hermann Hesses aus dem Jahr 1915 publizierte in der Zeitschrift die „frischeste, stürmischste literarische Jugend“, die „literarische Zukunft Deutschlands“.

Hier traute sich Josef Luitpold Stern im März 1915 deutlich zu werden: „In der Geschichte des geistigen Lebens wird die Haltung der deutschen Dichter während des großen Krieges von 1914 für immer denkwürdig bleiben. Aus der Art, wie sich das ungeheure Geschehen in den Herzen und Hirnen, in den Worten und Wendungen der Poeten gespiegelt hat, werden die Forscher, die nach uns kommen, manches Gesetz des dichterischen Schaffens aufspüren können.

Als dieser Krieg ausbrach, stand die deutsche Kunst in heller Blüte. Aber seine Möglichkeit war dem Bewusstsein der Dichter in Wahrheit fremd. Die Mörser und Haubitzen waren gerüstet, die Jamben und Trochäen keinesfalls. Dennoch ist der geistige Landsturm im Augenblick zur Stelle gewesen, Korps um Korps - ein nie zu vergessendes Schauspiel flinkster Anpassungsfähigkeit.

. . .

Diese jähe Wendung hat die Überzahl der deutschen Lyriker mitgemacht. Sie sind plötzlich Hasser geworden. Sie sind nur darüber nicht einig, wen sie eigentlich am wütesten zu hassen hätten.

. . .

Die dritten haben die einfachste Lösung gefunden, sie hassen alles, was Feind heißt.

. . .

Nicht klein ist die Gruppe der jungen Dichter, die den Ausbruch des Krieges als das große Abenteuer begrüßen. . . . Hier wird nach keinem Ziel des ungeheuren Geschehens gefragt.

. . .

Dieser Krieg ist zum Kreuzwendedich der jungen Dichter geworden. Etliche . . . sind auf dem Schlachtfeld des Geistes gefallen.

Etliche aber, die noch weitab von Ruhm und Anerkennung rangen, die verwirrt und zielblind waren, die man in ihrem Suchen verlacht und verhöhnt hat, fanden zu sich selbst. Mit ihnen beginnt die neue deutsche Dichtkunst.“

Stern benennt in seinem Artikel viele Namen, sowohl die Namen derer, die sich dem patriotischem Ungeist zuwandten, als auch derer, die sich davon fern hielten. Unter ersteren sind so viele „große“ Namen, mit Beispielen ihrer Kriegsdichtung, dass man sich fremdschämend abwenden möchte. Ich verlinke die PDF zur Märzausgabe 1915, in der sich dieser Artikel befindet, weiter unten. Hier möchte ich eine Auswahl an Texten zeigen, welche die weißen Blätter im Kriegsjahr 1915 veröffentlichten.


Elegie

(Vom westlichen Kriegsschauplatz)

Bis wir dort sind, ruhn ermüdet
Wohl die Bäume Hauf zu Hauf -
Liebeatmende, ach lüdet
Ihr uns ein, nun nachthinauf!

Ob uns wohl ein Stern begegnet
Und der Mond, der sanfterwärmt
Liebesspuren übersegnet,
Auf den hellen Hügeln schwärmt?

Hohe Heimat, über alles,
Die zu schaun wir nie geübt,
Weil die Well´n des Wasserfalles
Uns den trunknen Blick getrübt,

Bis die Woge, feurig scheiternd,
Nun ein schaumig Wimpel schwenkt
Und ein goldner Zirkel weiternd
Hold sich auf und blau erheiternd
Sich die liebe Nacht uns schenkt.

Paul Paquita, aus: Die weißen Blätter, Nr. 9, September 1915

Die Kugel kam geflogen. . .
Da sprang ein Strom heraus so rot.
Die Nacht stieg aus den Wogen
und hob uns in das schwarze Boot.

Die hohlen Ufer klangen
im Wind wie eine Herbstallee.
Gottalte Himmel sprangen,
Äonen riefen: Erde, steh!

Nun stehn wir Hergereisten
erwacht aus zauberischem Traum
und heben die verwaisten
Gesichter auf in soviel Raum.

Und finden uns nicht wieder,
wir sehn nur lauter Licht.
Wir horchen tiefer nieder
und fühlen uns noch immer nicht.

O ihr noch rot in Schlachten
von Rauch und Eisen überballt,
o ihr in nachtdurchwachten
Witwengemächern kalt und alt;

o alle ihr in uns Gelebten,
Urbruder und Urfeind -:
da wir von euch entschwebten
durchstoßen und beweint

und schon verschattet fuhren,
war noch ein Hauch von Mensch und Tier. . .
Jetzt sind die bunten Spuren
gelöscht. Jetzt sind wir nicht mehr wir.

Um uns ist keine Ferne,
von uns geht keine Wiederkehr.
Wir sind nur Mond und Sterne,
wir sind nichts anderes mehr.

Paul Zech - Stimme des Sohnes (wie Gesang durch den Raum, aus: Der Flug in die Sterne, Fragment einer Szene, in Die Weißen Blätter, März 1915

Wenn ich gestorben bin,
Wird mein Kind an einem sonnigen
Gartenzaun entlang streifen, sich niedersetzen,
Gefühlvoll und klug
Die Welt betrachten:
Die Ritzen zwischen den Steinen,
Käfer, die auf Dolden sitzen.

Große Last wartet auf dich,
Mein Kind,
Und Weinen.
Du musst es tragen
Wie alle.

Möge die gute Besitzerin des Gartens
Meinem Kind
Durch die Stäbe
Eine Hand voll Pflaumen reichen.

Leonard Frank, aus: Die Ursache - In Die Weißen Blätter, April 1915

Eroberte Stadt

Die ganze Stadt ist eine große Kirche
Voll Andacht, Inbrunst, Reue und Gebet,
Vom Gipfelsturm der Glocken überweht.
Der Tag erbraust in Tätigkeit und Kraft,
Doch nirgends ist ein emsig Herz am Werke,
Die Seelen alle sind zu Gott erschlafft,
Die Augen ruhn, in sich dahingerafft:
Nur in den Glocken rast noch Sinn und Stärke.

Da fällt ein Beben auf die Stadt herab
Und ein Erzittern und ein Fliehenwollen,
Die Mauern stöhnen qualvoll, und ein Grollen
Hebt an, und alle Tore spreizen sich,
Und aus den übervollen
Jammergetränkten Wänden birst ein Schrei
Und Schreien,
Von Flammen, Steinen überschüttet
Steigt das Grauen
Steil in die Luft:
„Wir taten nichts,
Wir nahten
Uns dir in Blöße,
Wir ahnten Deines Angesichts
Endlose Größe,
Doch Du spiest Granaten.“

Martin Gumpert, aus: Zwei Gedichte in Die Weißen Blätter, April 1915

Salut au monde!

Du, wer du auch bist!
Du Tochter oder Sohn Englands!
Du aus den gewaltigen slawischen Stämmen und Reichen! Du Russe
     in Russland!
Du Dunkelspross, schwarzer Afrikaner mit göttlicher Seele, Breiter,
     Schmalköpfiger, edel Gebauter, stolzer Bestimmung, auf
     gleichem Fuß mit mir!
Du Norweger! Schwede! Däne! Isländer! Preuße Du!
Du Spanier aus Spanien! Du Portugiese!
Du französisches Weib und Franzose aud Frankreich!
Du Belgier! Du Freiheitsfeund in den Niederlanden! (Stamm, dem
     ich selber entsprossen)
Du handfester Österreicher! Lombarde! Ungar! Du Böhme! Stei-
     rischer Bauer!
Du Nachbar der Donau!
Du Arbeitsmann vom Rhein, von der Elbe oder der Weser! Du
     Arbeitsfrau auch!
Du Sardinier! Du Bayer! Schwabe! Sachse! Wallache! Bulgare!
Du Römer! Neapolitaner! Du Grieche!
Du geschmeidiger Matador in der Arena von Sevilla!
Du Bergbewohner, der gesetzlos auf dem Taurus oder Kaukasus
     haust!
Du Hirt Bokharas, der seine Stuten weidet und Hengste züchtet!
Du schöner Perser, der im vollem Galopp im Sattel Pfeile nach dem
Ziele schießt!
Du Chinese und Chinesin aus China! Tartar der Tartarei!
Ihr Frauen der Erde im Dienst eures Amtes!
Du Jude, der im hohen Alter durch alle Gefahren durch pilgert, um
      einst auf Palästinas Boden zu stehn!
Ihr anderen Juden, die in allen Ländern auf ihren Messias warten!
Du sinnender Armenier, der am Euphratstrom brütet! Du
     Starrer unter den Ruinen von Ninive! Du Araratbesteiger!
Du müder Pilger, der sich fortschleppt, um das ferne Funkeln der
     Minarette von Mekka zu grüßen!
Ihr Ölbaumpflanzer, die ihre Früchte hegen auf den Feldern von
     Nazareth, Damaskus oder am See Tiberias!
Du tibetanischer Kaufmann im weiten Innern, oder in den Läden
      von Lassa feilschend!
Du japanischer Mann oder Frau! Bewohner Madagaskars, Ceylons,
      Sumatras, Borneos!
All ihr Festlandbewohner in Asien, Afrika, Europa, Australien, wo
      eure Stätte sei!
Alle ihr auf den zahllosen Eiländern der Inselmeere!
Und ihr in den fernen Jahrhunderten, wo ihr mich hört!
Und du jeglicher und allenthalben, den ich nicht bezeichne, doch den
       ich mit einschließe!
Heil euch! Willkommen euch allen, von mir und Amerika dargebracht!

Jeder von uns unvermeidlich,
Jeder von uns grenzenlos - jeder mit seinem oder ihrem Recht auf
       die Erde,
Jeder von uns mit dem Anspruch auf das ewige Erbe der Erde,
Jeder hienieden so göttlich wie irgendeiner hinieden.

Walt Withman, aus Der Krieg, übersetzt von Gustav Landauer in Die weißen Blätter, April 1915

Idylle

. . . Die Menschen geben und nehmen in anmutigem, Vernunft und Verstand nicht verletzenden Wechsel. Liebe ist dort das bedeutendste Gesetz; Freundschaft die vorderste Regel. Arm und Reich gibt es nicht. Keine Könige und keine Kaiser hat es dort, wo der gesunde Mensch wohnt, je gegeben. Die Frau herrscht dort nicht über den Mann, der Mann aber ebensowenig über die Frau. Es herrscht niemand, außer jedermann über sich selber. Alles dient dort allem, und der Sinn der Welt geht deutlich dahin, den Schmerz zu beseitigen. Niemand will genießen, die Folge ist, dass es alle tun. Alle wollen arm sein, hieraus folgt, dass niemand arm ist. Dort, dort ist es schön, dort möchte ich leben. Unter Menschen, die einander achten, möchte ich leben. Ich sehe wohl ein, dass ich phantasiere.

Robert Walser, aus Die weißen Blätter, Juli 1915

René Schickele (* 4. August 1883 in Oberehnheim im Elsass; † 31. Januar 1940 in Vence, Alpes-Maritimes) war ein deutsch-französischer Schriftsteller, Essayist, Übersetzer und Pazifist. Gegen den preußisch-deutschen Militarismus warb Schickele für Völkerverständigung und Sozialismus als Herausgeber der Weißen Blätter. Das nötigte ihn 1915 zur Flucht ins Schweizer Exil. Sein bekanntestes Gedicht ist das folgende:

Abschwur

Ich schwöre ab:
jegliche Gewalt,
jedweden Zwang,
und selbst den Zwang,
zu andern gut zu sein.
ich weiß:
ich zwänge nur den Zwang.
Ich weiß:
das Schwert ist stärker
als das Herz,
der Schlag dringt tiefer
als die Hand,
Gewalt regiert,
was gut begann,
zum Bösen.
Wie ich die Welt will
muß ich selber erst
und ganz und ohne Schwere werden.
Ich muß ein Lichtstrahl werden,
ein klares Wasser
und die reinste Hand
zu Gruß und Hilfe dargeboten.
Stern am Abend prüft den Tag,
Nacht wiegt mütterlich den Tag.
Stern am Morgen dankt der Nacht.
Tag strahlt.
Tag um Tag
sucht Strahl um Strahl.
Strahl an Strahl
wird Licht,
ein helles Wasser strebt zum andern,
weithin verzweigte Hände
schaffen still den Bund.

Rene Schickele, aus: Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Rowohlt, Berlin 1920

Josef Luitpold Stern (* 16. April 1886 in Wien; † 13. September 1966 ebenda), Pseudonym Josef Luitpold, war ein österreichischer Dichter und Bildungsfunktionär der Arbeiterbewegung.

Zu Paul Paquita, geboren 1887, sind biografische Einzelheiten unbekannt, er schrieb 1913–1919 in expressionistischen und anderen Zeitschriften (Inselschiff, Horen).

Paul Zech (* 19. Februar 1881 in Briesen, Westpreußen; † 7. September 1946 in Buenos Aires) war ein deutscher Schriftsteller.

Leonhard Frank (* 4. September 1882 in Würzburg; † 18. August 1961 in München) war einer der bedeutendsten sozialkritischen und pazifistischen Erzähler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Martin Gumpert (* 13. November 1897 in Berlin; † 18. April 1955 in New York) war ein deutsch-US-amerikanischer Mediziner und Schriftsteller.

Walter Whitman (* 31. Mai 1819 in West Hills, nahe Huntington auf Long Island; † 26. März 1892 in Camden, New Jersey) war ein US-amerikanischer Dichter, Essayist und Journalist. Er gilt als einer der einflussreichsten amerikanischen Lyriker des 19. Jahrhunderts.

Gustav Landauer (* 7. April 1870 in Karlsruhe; † 2. Mai 1919 in München-Stadelheim) war ein deutscher Schriftsteller. Er vertrat unter Einfluss Peter Kropotkins den kommunistischen Anarchismus und den Anarchopazifismus und war einer der wichtigsten Theoretiker und Aktivisten dieser Ideologie im Deutschen Kaiserreich.

Als Pazifist kritisierte er den Ersten Weltkrieg (1914–1918) scharf. Während der Novemberrevolution 1918/19 und unmittelbar danach war er an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik vom 7. bis zum 13. April 1919 beteiligt. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten in der Haft ermordet.

Robert Walser (* 15. April 1878 in Biel, Kanton Bern; † 25. Dezember 1956 nahe Herisau, Kanton Appenzell Ausserrhoden) war ein deutschsprachiger Schweizer Schriftsteller.


Die weißen Blätter März 1915

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