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Donnerstag, 3. Juli 2025

Zur Erinnerung an Chaim Nachman Bialik: Licht

 



Licht


Einsam durchlebt´ ich den Morgen der Kindheit
Und strebte in Rätselwelten hinein,
Ich bangt´ aus der Tiefe der Welt nach dem Lichte
In mir war ein Fremdes wie gärender Wein,
Verstecke sucht´ ich und sank ins Betrachten,
Schien mir ein Seher, der Welten schaut,
Dort fand ich Freunde, empfing ihr Geheimnis
Und wahrte im Herzen, was sie mir vertraut.

Der Freunde wie viel! Jeder fliegende Vogel,
Der Bäume Schatten und Waldespracht,
Des Mondes keusches Antlitz im Fenster,
Der Keller, das Tor, welches knarrt und kracht -
Die Distel hinter dichtem Gezäune,
Der Strahl, den die Sonne zu mir gespannt,
Ein Lämpchen, ein Glas aus kristallenen Splittern -
Der Söller, die spinnwebdurchzogene Wand,
Süßgrauendes Dämmern in tiefen Brunnen
Und drin mein Echo und Spiegelbild,
Die Stimme der Uhr, die schneidende Säge
Im Holz, aus der´s wie ein Sprechen quillt,
Auch reife Birnen und herbe Äpfel,
Die nah´ in des Nachbars Garten hängen -
Der Bienen und Fliegen Summen und Drängen, -
Ich liebte sie alle, doch war mir nichts
So teuer, so hold, als die Geister des Lichts.
Im Sommer sah ich wohl solche Geister,
Wie leichte Cherubim, gezeugt im Glanz.
Wie sie zu Feld und zum Wasser schwebten,
Streifte auch mich ihr jubelnder Tanz,
Mich faßt´ ihre Wonne seelenbefreiend,
Zum erstenmal kindlich aufglänzte mein Blick.
Ich ward ihnen Freund, ihres Kreises Vertrauter -
Wir liebten einander in strahlendem Glück.

Am Morgen, ich bin noch schlummerumfangen,
Auf! pocht´s an mein Fenster, huschend und hell,
Noch bin ich nicht fertig, von Morgengesichten
Noch kaum ermannt, da blinzelt es: Schnell!
Kaum hab´ ich den Schuh, den verlegten, gefunden,
Ruft´s: Fort! Und geschwind! Die Sekunde verrinnt!
Und wie ich mich dränge, zu ihnen zu kommen,
Winkt´s: „In die Weite!“ Wir schweben, zerstreuen uns
Spielen und tollen im tauigen Grün,
Leuchten in Funken und reih´n uns in Perlen,
Auf grüner Decke rollen wir hin.

Dann sinken im Kreis wir, am Tau uns berauschend -
Jäh leuchtet in tausend Schimmern das Korn,
In tausend Lichtern strahlet das Grüne,
Mit sieben Augen lugt jeder Dorn.
An jedem Stachel Kristalle erzittern
Und bilden Säume aus dünnem Gold.

Da faßt das Lichtreich plötzlich ein Schwanken,
Daß Sonn` und Saphir wie durch Siebe nur blinkt -
Der Blick wird verdunkelt - das macht nur ein Kälblein,
Das leckend und fressend im Grase springt.
Nach Speise gräbt eine Kette von Hühnern,
Daß nickend die Häupter der Gräser beben -
Rings regt sich ein schwatzendes, gackerndes Leben.
Ich aber zitt´re im Glanz wie ein Vogel,
Die Seele im Netze des Lichtes gefangen,
Als ob feingoldene, zarte Fäden
An allen Gliedern mich fassen, umfangen.
Und neu verjüngt sich die leuchtende Kindheit,
Die Sonne des Sangs will im Herzen erstehen,
Ich selber möchte vom Kusse der Strahlen
Aufleuchten, aufjauchzen und selig vergehen.

Noch bin ich trunken, die Seele geschwellt,
Durchwoben vom Glanze, da tönt es: Zum Feld!
In leichtem Fluge der Geister Gemeine
Durchbreitet das Feld in blitzendem Scheine.
Auf Halmesspitzen, den spelzigen, hohen,
Die labungsdürstenden schweben und lohen.
„In diesem weiten Meere des Glanzes
O laßt uns, bis brennend der Mittag, uns baden,
Indes über uns wie Träume des Himmels
Ziehen der Wölkchen leichte Schwaden!
Jetzt birgt sie die Schar, als taucht´ sie in Fluten,
Jetzt blitzt sie empor zu jauchzendem Glüh´n,
Sie schütteln die Körper und schleudern wie Tropfen
Einer zum andern ihr Funkensprüh´n.

Es jauchzt das Gefild - wie im Schwunge von Schwalben,
Die schießen und zwitschern und eilend entflieh´n -
Viel leichtbeschwingte, hurt´ge Libellen
Auf lichten Flügeln blitzen und blüh´n,
Tanzen verweilenden Flugs auf den Garben
In weißen, roten und goldenen Farben,
Verschlungen im Glanz und wieder erglitzernd.
Es ist, als streut´ eine heitere Hand
Lebende Blumen über die Geister,
Die goldene Pfeile im Reigen besprengen -
Sie sprüh´n in Raketen, im Takt zu den Sängen
Des Heimchens, der Grille, der Feldmusikanten,
Die mit den Zimbeln zirpen und springen.
Die Luft, die glühende, schweigende schüttert,
Sie hüllt sich in girrendes Rauschen und zittert.

Schon müde des Lichts, den Weinberg durchrüttelnd,
Verkünden die Frohen: „Zum Weiher! vor!
Schon ward´s zum Verschmachten!“ - Sie schwingen die Flügel
Zum Weiher, gebettet in Schilf und Rohr.
In ruhigem Mittag die Wasser sich wiegen,
In Sonne und Schatten der Weiden gestreckt.
Hier ist es hell wie ein glatter Spiegel,
Es wölbt sich Azur, nur leise bedeckt
Von Wölkchen, zerfließend, wie Perlen so rein.
Die Welt ist verzaubert. Ein neuer Himmel,
Gekühlt die Sonne und reiner die Wesen,
Im Schleier ewiger Ruhe und Fülle,
Getaucht in die lauteren Wasser der Stille,
Und alles voll Leuchten, voll Frieden und Traum.

Und drüben Dunkel von dichten Schatten,
In Grün und in Frieden versunken die Flut,
Und beide Ufer bedecken mit Schatten
Die Welt, die stumm in der Tiefe ruht.
Da baden zwei Störche, ein weißer Schwan
Und schütteln und schwingen das nasse Gefieder,
Und alles gekühlt, voll Feuchte und Grün.

Dort wieder ein Meer von goldenem Glanze,
Lichtflecke und -brüche und leuchtende Falten,
Goldene Schuppen und glastende Ketten -
Zwei Sonnen, im Bruche der Wellen gespalten,
Wie reinen Kristalls ein glitzerndes Lohen -
Und alles blitzet und leuchtet und brennt.

Zum Weiher! Zum Weiher! In seligem Schrecken
Erschwankt all die Flut der goldenen Halle,
Daß Glanz um Glanz sich durchdringen, bedecken, -
Da regt´s sich in tausend Tönen und Farben,
Bewegt sich unten der wölbige Himmel,
Bewegt sich die Sonne und teilt sich in sieben,
Und sieben Sonnen im Tiefengetümmel
Küssen einander und mischen sich wieder,
Zerstückeln vollends. Ein Taumel umflicht
Jegliches Wesen im Chaos der Tiefe,
Im Flutmeer des Glanzes, im Ozean Licht.

In dieses Flammen und Glanzeswogen
Versank auch ich und sog von dem Lichte.
Wie kehrt´ ich wieder, gereinigt, geklärt!
An diesen tausend jubelnden Quellen
Zersprengte mein Inn´res in Meeresergüssen,
Vom Reigen der Klänge fortgerissen,
Die tausend seligen Harfen entschwellen.

Noch sitz´ ich, versunken, im Rasen des Weihers
Und seh´, wie die Welle sich sänftigt am Strand.
Noch wiegt sich ruhig auf ihrem Antlitz
Ein leichtes Zittern, macht funkeln den Sand,
Entzündet noch Zünglein und kleine Flämmchen
Und streut dazwischen ein leises Glimmen -
Es ist ein Glanz, der vertönt und erstirbt. -

Still wird der Weiher, sein Antlitz wieder
Wie früher schlummernd, glatt und durchhellt.
Und wieder zeigen sich deutliche Spuren,
Faltet sich unten im Schatten der Weiden
Im heimlichen Schilf eine schweigende Welt.
Dort drüben steht am Rande des Weihers
Bei leuchtender Flut ein Fischergreis,
Der hebt ein feines Netz aus dem Wasser,
Schüttelt es und in des Regenbogens
Farben blitzen die Tropfen im Kreis,
Als braute der Fischer in gleißenden Schalen
Zaubertränke mit goldenem Schaum.
Es springen zur Erde Tropfen und Blitze,
Aufleuchtet ein leichter und seliger Traum.

Plötzlich sah ich aus dem Teiche
Reih´ auf Reihe zart sich heben,
Auf die stille Fläche schweben
Kleiner Geister eine Schar,

Heil´ger Schwingen, rein und schön -
Ob sie sich nicht heut´ erst lösten
Von den Flügeln eines Cherubs
In den Höh´n?

Und noch blitzt aus ihren Augen
Höchstes Glänzen der Schechinah -
Wie sie Arm´ in Arme schlingen,
tönt ihr Singen:

Zu uns, du Knabe,
Zu uns, du Schöner
Und Lichtesdurst´ger,
Bis sinket der Tag!

Wir tauchen dich,
Wir tragen dich
Zu tief versunk´nen
Meeresschätzen.

Zu gläsernen Türmen,
Kristallpalästen,
Demant´nen Tempeln
Und Funkelsonnen

Mit Licht, durch sieben
Tage gehütet,
Tränken wir dich
Aus goldenen Kelchen.

Bis Licht dein Atem,
Bis Licht dein Schauen
In Herz und Bein
Dringt´s tief hinein

Von tausend Güssen
Und Strahlenküssen -
Viel sel´ger, ach!
Als du´s ertragen kannst.

Noch klang mir der feine Gesang in der Seele
Sie aber verschwanden im Waldesdicht,
Winkend mit dem letzte Blicke des Trostes,
Als gält´ es: Zum Morgen! - und nicht mehr in Sicht.
Und neulich war´s, nicht denk´ ich der Stunde,
Sah ich ihr Antlitz - von Ohngefähr -
Es schien voll Trübe und voller Erbarmen,
Ihr scheidender Blick aber sprach nichts mehr.

Und wieder weckt mich das Licht aus dem Schlummer,
Es sengt meine Lippen, es sticht meine Lider,
ich blicke zum Fenster und seh´ nur die Sonne -
Wie späh´ ich und harre - sie kehren nicht wieder,
Des Lichtes Gesang ist für ewig verstummt.

Nur tief im Herzen trag´ ich die Töne,
Unter den Lidern des Lichtes Gewalten.
Ich schöpfte des Lebens holdeste Träume,
Aus ihrem Auge die hehrsten Gestalten,
Am Quell vom Segen der Reine getränkt.

Ch. N. Bialik, aus: Gedichte, aus dem hebräischen übertragen von Ernst Müller, Buchschmuck von O. Herschdörffer, Jüdischer Verlag GmbH, Köln und Leipzig 1911

Chaim Nachman Bialik (jiddisch חיים נחמן ביאַלי , hebräisch חַיִּים נַחְמָן בִּיאָלִי , vereinzelt auch: Chaim Nachum Bialik; geboren am 9. Januar 1873 im Dorf Radin, in der Nähe von Schytomyr, Russisches Kaiserreich; gestorben am 4. Juli 1934 in Wien, war ein russisch-österreichischer jüdischer Dichter, Autor und Journalist, der auf Hebräisch und Jiddisch schrieb. Er ist einer der einflussreichsten hebräischen Dichter und wird in Israel als Nationaldichter angesehen.

Zudem übersetzte Bialik Shakespeares Julius Caesar, Schillers Wilhelm Tell, Cervantes’ Don Quichotte, Gedichte von Heine sowie Der Dybbuk des jiddischen Dichters Salomon An-ski ins Hebräische. Dabei war er sich der Grenzen des Übersetzens sehr bewusst: "Eine Übersetzung zu lesen sei wie die Braut durch den Schleier hindurch zu küssen."


Sonntag, 29. Juni 2025

Hugo Sonnenschein: Noch einmal rufe ich dich an. . .

 


Noch einmal rufe ich dich an weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, dir Kamerad, dir Freund, die Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch!

Erkennst du mich? Ja, ich bin der, welcher von Osten kommt, mit dem Stern im Haar, immer wieder von Osten kommt wie ein Bettler, aber geschmückt mit Löwenzahn durch die Straßen der Stadt wie ein Narr. Sonka. Weißt du nicht mehr, ich ruhte sehr müde am Neptunsbrunnen in Florenz und Kinder brachten mir Fische und Brot, weil ich hungrig war, und alle Bettler der Gegend aßen von meinem Hunger und wurden satt ohne u betteln.

Kennst du mich nicht? Verblaßte das Wunder in deinem Herzen, das geschah, als du deinen wütenden Hund auf mich hetztes: der sprang mich an mit gefletschten Zähnen und ward zum Lämmlein, als er mich erreichte, und leckte meine Hände.

Erinnere dich: daß du gestorben wärst an jenem Tag, da du verlassen warst von Gott und Menschen. Ich schwieg und sah dich an. Aus meinem Schweigen wurde dir das Leben. Ich habe mich an dich verschenkt, Verbrecher im Gefängnis, an dich Totkranker im Spital, an dich Obdachloser im Asyl, an dich du Mädchen von der Straße, an dich und dich und dich und dich, ich habe mich verschenkt mit Blick und Gegenblick und meiner Hand in deiner Hand, die dich umfaßte.

Du kennst mich ja. Ich bin von Osten. Und deine Maske aus dem Dreck des Westens wird nicht auslöschen mein Gesicht, das sich verschenkt, verschenkt, verschenkt, sieh mich nur an! Und du hast schon ein Herz und ein Gesicht.

Noch einmal rufe ich dich an, weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, die Kamerad, dir Freund, dir Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch!

Hugo Sonnenschein, aus: Der neue Daimon, 1919, Heft 3 - 4, April, Genossenschaftsverlag Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel, Wien Prag Leipzig

Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.


Mittwoch, 25. Juni 2025

Ich aber reineclaude mich

 



                                                                                     zweierlei handzeichen

                                                                                     ich bekreuzige mich
                                                                                     vor jeder kirche
                                                                                     ich bezwetschkige mich
                                                                                     vor jedem obstgarten

                                                                                     wie ich ersteres tue
                                                                                     weiß jeder katholik,
                                                                                     wie ich letzteres tue
                                                                                     ich allein

                                                                                     Ernst Jandl (1925 - 2000)



"Einjedes Geheimnis der Welt darfst du verraten, nur nicht, wo im Sommer die großen grünen Reineclauden reifen!"


Tu was du willst, oder auch nicht,
Schreibe in schwarz, in rot oder grün.
Lösche die Dunkelheit, den Durst, oder lösche das Licht,
Fahre nach Rom, nach Stuttgart oder nach Wien,
Gehe koppheister oder geh auf den Strich,
ich aber reineclaude mich

Sei wer du willst, oder sei es nicht,
Folge oder führe, geh vor oder lass ziehn,
Sei Dieb, oder halte Gericht,
Es ist mir egal mit welchem Schlich
Sich wer wie was erschlich,
Ich aber reineclaude mich

Bleib wo du willst, oder bleibe dort nicht,
Laufe, rolle, oder wage zu fliehn,
Tu was, oder tu es auch nicht,
Bleibe redlich, bleib arm, oder verdien
Tausend Millionen und mehr sicherlich,
Ich aber reineclaude mich


Illustration aus: 
Müller-Diemitz, Bissmann-Gotha u.a.: Deutschlands Obstsorten, Stuttgart 1905 - 1930



Dienstag, 24. Juni 2025

Leftherte

 



Leftherte

Dass ihr den Sommer mir nicht verderbet,
mich findet ihr nicht

Rausche im Laub der Linden
im Dufte ihrer Blüten

Gebe dich hin in den Kelch
der hundertjährigen Rose

Lege eine Kirsche in deinen Mund
und spüre meinen Kuss

Bette dein Haupt in die Winde
spüre meinen Lindenatem

Ich wandle in deinem geheimen Garten
wispere aus deinem Quellmund

Habe die Geheimnisse der Jugend bewahrt,
von den Gefährdungen gelöst

Nehme zurück, was zu mir gehört
einjedes Blühen hat seine Zeit

einjedes Reifen einjedes in sich Ruhen.
Ihr verderbet mir den Sommer nicht



Das Bild ist von Juan Brull (1863 - 1912)

Montag, 23. Juni 2025

Wollte heut ein Lied mir schreiben. . .

 



Wollte heut ein Lied mir schreiben. . .


Wollte selber schreiben, um zu lesen:
„Heut bin ich des Lebens froh!“
Ach, das wär so schön gewesen,
Doch die Zeiten sind nicht so

„Make love not war“,
Auch dieser Satz erlebt gerad sein Waterloo,
Eigentlich wär das wunderbar,
Doch die Zeiten sind nicht so

Die Wahrheit, ebenso die Empathie
Ging in der ersten Runde schon k o,
Dabei wären sie so wertvoll wie noch nie, 
Doch die Zeiten sind nicht so

Der Griff nach goldnen Sternen
War letzlich nur ein Griff ins Klo,
Ach, sie sollten sich zum Mars entfernen,
Doch die Zeiten sind nicht so


Das Bild ist von Edwin Austin Abbey (1852 - 1911)

Sonntag, 22. Juni 2025

Es beginnt zu der Zeit. . .

 



Es beginnt zu der Zeit,
wo die Erdbeeren reifen,
und zu keiner anderen Zeit auch
hätte es dieses Beginnen gegeben

Es beginnt zu der Zeit
wo das Johanniskraut glüht,
und ein Namenlos
nach der geschundenen Erde greift

Über den Staub der Wege,
dem kargen struppigen Grün
der Weiden eine gleißende Sonne
sich spiegelnd in segnender Blüte

Zwischen den Buchen das Schweigen
des Mittags, nicht das Ruhen zu stören,
Schafgarbe, Baldrian und Mädesüß
weiten sich in das Blühen

Danke an das Leben
so zäh so einfach so still
lausche dem Wesen der Stille
lausche den Wesen

Die Tontafeln verwittert
die Bibliotheken abgebrannt
die Dateien gelöscht

überdauernd ist das
gesprochene Wort
von Zunge zu Ohr

Das Bild ist von Arthur Segal, geboren am 13. Juli 1875 in Jassy, Rumänien; gestorben am 23. Juni 1944 in London im Exil. Nach Beginn des ersten  Weltkriegs flüchtete sich der Pazifist Segal von Berlin nach Ascona, zu den Aussteigern vom Monte Verità. Er leitete dort eine Malschule. Sein Haus auf dem Berg wurde ein Treffpunkt exilierter Künstler wie Hans Arp, Marianne von Werefkin, Alexej Jawlensky, Lou Albert-Lasard. Mit seinem Nachbarn und Landsmann, dem Dichterpropheten Gusto Gräser, unterhielt er ein freundschaftliches Verhältnis. Zusammen mit den nach Ascona gekommenen Dadaisten beteiligte er sich an den Ausstellungen des Cabaret Voltaire in Zürich.[ Von 1920 bis 1933 unterhielt er in Berlin-Charlottenburg eine eigene Malschule, die ein beliebter Treffpunkt für Avantgarde-Künstler wurde. 1933 musste Segal aus Deutschland fliehen. Es ging über Mallorca, das er dann wegen des Bürgerkriegs verlassen musste, nach London. 



Mittwoch, 11. Juni 2025

Strawberry Fields Forever

 


Strawberry Fields Forever

So hat es mich noch einmal „in die Walderdbeeren“ getrieben. Sie ist doch einfach zu lecker, diese Marmelade aus den kleinen Dingern. Beim Pflücken ist jede/r für sich und bei sich, und die Gedanken dürfen mäandern. Heute bin ich mit dem Fluss meiner Gedanken wieder einmal bei der Utopie gelandet, beziehungsweise, beim Fehlen der Utopien. Ein Freund sagte das letztens, dass die Utopien ausgestorben sind, „man“ ist jetzt „Realist“. Doch ich finde es wichtig, von der Utopie aus zu denken, sie als Richtschnur zu nehmen für das tägliche Handeln. „Ideale sind wie Sterne, man kann sie nicht erreichen, doch sie weisen einem den Weg“, das ist ein spanisches Sprichwort.

Um die Menschenwelt ist es nicht zum Besten bestellt, das ist offensichtlich. Ich schreibe hier von „Menschenwelt“, denn ich meine, nicht „die Welt“ ist schlecht. Unsere Welt ist eher schön und liebenswert. Wenn ich mir Sammeleimer und den Wanderstock nehme, und die Wege außerhalb von Fredelsloh gehe, um zu meinen „strawberry fields“ zu gelangen, darf ich mich immer wieder an der Landschaft und ihrer Vielgestaltigkeit erfreuen, werde auf dem Weg von den Ziegen begrüßt, die auf der Weper zusammen mit Schafen gehalten werden, um auf den Kalkmagerrasen für die selteneren Pflanzen das Buschwerk nieder zu halten; ich darf mich an den Blüten von Wildorchideen, Skabiosen, Hauhechel und vielen anderen erfreuen, dazwischen gaukeln die Falter, welche die Blüten besuchen; über mir, in den Büschen und Bäumen, welche den Wanderweg säumen, reifen die Früchte heran, wilde Kirschen, Mirabellen, Schlehen, und noch weiter über mir, im blauen Himmel, zieht der Milan seine Kreise.


Das alles sind Zeichen einer Welt, an deren Schönheit ich mich erfreuen kann, und wenn ich das alles erleben darf, bekomme ich ein Gefühl dafür, wie die Welt „gedacht“ ist. Nein, die „Welt“ ist nicht zu verbessern. Allenthalben das Verhalten von uns Menschen bräuchte wohl dringend eine „Verbesserung“. Wir sind gerade dabei, das, was diese Welt ausmacht, ihre Schönheit in ihrer Vielfalt um des menschlichen Eigennutzes willen zu zerstören.

Es ist nicht die „Welt“, die uns mit Kriegen gegen uns und alles überzieht, wir überziehen die Erde mit Krieg, Zerstörung, Gewalt. Und da gibt es nicht den „Zweiten Weltkrieg“ und den „Ersten“, als zeitlich begrenzte Ereignisse, die letzten paar hundert, ja, tausend Jahre, hält dieser Krieg der Menschen gegen die Welt an. Da waren die Völkerwanderungskriege und die Römerkriege, die Kämpfe, mit denen die Christianisierung einherging, da waren der dreißigjährige Krieg, der Mitteleuropa massiv entvölkerte, da waren der siebenjährige Krieg, unter dem auch meine Wahlheimat hier litt, und so weiter, und dazwischen Bauernkriege, Scharmützel, kleine und große Feldzüge, und dazwischen Ausbeutung und Kahlschlag der Natur ringsum, Grobheit und Gewalt den einfachen Menschen gegenüber und der einfachen Menschen untereinander, Hexenverbrennungen, schwarze Pädagogik, unglaublich niederdrückende Arbeitsverhältnisse der Tagelöhner auf dem Land und in den Fabriken.

Wir Menschen haben der Welt weder Schönheit noch Frieden gebracht, sondern sind immer und überall als Eroberer gekommen. Sicher, es gab (und gibt) immer auch Menschenoasen, in denen Menschen mit der Welt in Eintracht und Frieden lebten, doch dann kamen andere, wie zum Beispiel in historischer Zeit die Weißen nach Nordamerika, und die Idylle war dahin. Nein, wir Menschen sollten uns nicht in den Gedanken versteigen, die „Welt zu verbessern“. Diese gute und bessere Welt zerstören wir gerade.

Doch die Welt ist alt genug, hat seit ihrer Entstehung einiges an Katastrophen, Klimawandel und Eiszeiten überlebt, und ist immer wieder in alter Schönheit erblüht, sie wird auch uns Menschen überstehen. Denn Schönheit ist ihr inneres Wesen. Wir Menschen dürfen uns entscheiden, ob wir dazu gehören wollen, ob wir eins damit sind, oder ob wir als Eroberer kommen, und uns „die Erde untertan“ machen, um ihr unseren gewalttätigen Stempel aufzudrücken. Mit diesem Versuch, der zusehends am Scheitern ist und absehbar scheitert, stellen nur wir uns außerhalb „der Welt“.



Wenn ich nun versuche, meine Utopie in Worte zu kleiden, dann komme ich immer wieder dahin: Ich bin als menschliches Wesen eines mit der Erde und ihren Wesen, im Grunde untrennbar verbunden, als ein Teil, das aus ihr kommt und in sie geht. Ich möchte im Konsens mit allen Wesen leben, mit ihrem Werden, Sein und Vergehen, ebenso wie alle Wesen auch werden, sein, vergehen, und, wenn es denn so ist, nach Staub und Asche wieder in die Schönheit der Welt zurückkehren. Im Konsens mit allen Wesen, also auch mit uns, den Menschenwesen.

Daher kann ich keine „konkrete Utopie“ anbieten. Ich kann mich als einzelnes Wesen in meiner Eigenart, die mein Beitrag zu der unglaublichen Vielfalt der Welt ist, einbringen. Ich vermag meine Gedanken zu sagen und aufzuschreiben. Ich vermag auch einige Wünsche anzubringen, hinsichtlich des Lebens von uns Menschen untereinander, ich verabscheue psychische und physische Gewalt zum Durchsetzen von Zielen, ich vermag nicht zu verstehen, wie einem Menschen dieses Land, dieser Wald, diese Wiese „gehören“ kann. Alles gehört sich selbst, und anderes ist eine Illusion, eine Illusion, die letztlich mit Gewalt durchgesetzt wurde.

Ich wünsche mir eine gemeinschaftliche Lebensweise von uns Menschen, in der sich jede/r nach seiner, ihrer Art entwickeln darf, und nicht durch die Egoismen anderer, vermeintlich stärkerer, doch im Grunde nur grausamer und gewalttätigerer, zu Dingen gezwungen zu werden, die wesensfremd sind. Ich weiß, dass sich solcherart Leben, gemeinschaftlich, im Konsens mit allen und allem zu handeln, eine Möglichkeit ist, die wir als Menschen ergreifen können.

Von dieser Utopie lasse ich nicht ab, sie ist die Quelle in mir, aus der mein Lebensmut sprudelt. Auch ich bin nicht unbeschadet durch die Schule dieser Gesellschaft gegangen, in der jahrhundertelang die Verletzungen und Traumata von Generation zu Generation gereicht wurden, und in jeder Generation neue hinzu kamen. Auch ich bin verletzt, ungerecht, fühle, dass die Gewalt in mir wohnt, auch wenn ich ihr kein zu hause bieten möchte. Ich kann nur durch Wissen damit umgehen. Durch das Wissen, dass das Menschsein, welches zu den heutigen schlimmen Zuständen geführt hat, auch in mir ist. Wenn ich den Ungeist benennen kann, dann vermag ich mit ihm umz gehen. Dann vermag ich ihn in mir zu bannen. Mehr ist mir nicht gegeben.

Doch eine „konkrete Utopie“ kann ich nicht anbieten. Wenn ich eine „schöne neue Welt“ zeichnen wollte, um von dieser Blaupause aus die „Welt“ zu „verändern“, dann käme ich wieder als Eroberer. Ich kann durch Äußerung meiner selbst einen Teil dazu beitragen, dass sich etwas ändert, doch den Konsens zum gemeinsamen friedlichen Miteinander können wir eben nur - friedlich miteinander entwickeln. Eben darum vermag ich nicht zu sagen, wie Weg und Ziel für uns alle auszusehen hat. Meine Utopie ist eine sehr persönliche Utopie.

Während in dieser Art meine Gedanken mäandern, knie ich im rotbetupften Grün meines „strawberry fields“, atme den heranwehenden Duft von Lindenblüten ein und das Aroma der Walderdbeeren, lausche dem Ruf eines vorbeiziehenden Turmfalken, fühle die Sonnenstrahlen auf dem Rücken, welche mich durch das Blätterwerk der schützenden Haselzweige erreichen; meine Fingerkuppen nehmen mehr und mehr die Farbe der Beeren an, die ich pflücke. Manchmal schlecke ich sie ab, und schmecke süß.

Sonntag, 8. Juni 2025

Schwertlilien

 


Schwertlilien

Das sind die Blumen, die wie Kirchen sind.
Ein Blick in sie hinein zwingt uns zu schweigen.
Wie Weihrauch fromm berauschend strömt ihr Duft,
Wenn wir uns zu der schönen Blüte neigen.

Sie sind wie Schmetterlinge dünn und zart.
Und wissen ihr Geheimnis doch zu hüten.
Es hellen goldne Kerzen sanft den Pfad
Ins Allerheiligste der Wunderblüten.

Franzisca Stoecklin (1894 - 1931) , aus: Gedichte (Bern 1921)

„Eine Blume unter den Blumen der Mutter hieß Schwertlilie, die war ihm besonders lieb. Er hielt seine Wange an ihre hohen hellgrünen Blätter, drückte tastend seine Finger an ihre scharfen Spitzen, roch atmend an der großen wunderbaren Blüte und sah lange hinein. Da standen lange Reihen von gelben Fingern aus dem bleichbläulichen Blumenboden empor, zwischen ihnen lief ein lichter Weg hinweg und hinabwärts in den Kelch und das ferne, blaue Geheimnis der Blüte hinein. Die liebte er sehr und blickte lange hin und sah die gelben feinen Glieder bald wie einen goldenen Zaun am Königsgarten stehen, bald als doppelten Gang von schönen Traumbäumen, die kein Wind bewegt, und zwischen ihnen lief hell und von glaszarten lebendigen Adern durchzogen der geheimnisvolle Weg ins Innere. Ungeheuer dehnte die Wölbung sich auf, nach rückwärts verlor der Pfad zwischen den goldenen Bäumen sich unendlich tief in unausdenkliche Schlünde, über ihm bog sich die violette Wölbung königlich und legte zauberische dünne Schatten über das stille wartende Wunder. Anselm wußte, daß dies der Mund der Blume war, daß hinter den gelben Prachtgewächsen im blauen Schlunde ihr Herz und ihre Gedanken wohnten und daß über diesen holden, lichten, glasig geäderten Weg ihr Atem und ihre Träume aus und ein gingen.“

Hermann Hesse, aus: Iris (Märchen, S. Fischer Verlag Berlin 1919)

Das Bild ist von Robert Lewis Reid (1862 - 1929)

Samstag, 31. Mai 2025

Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche, oder: Weinbergschnecken

 


Nach dem schönen Mairegen sind bei uns wieder die Weinbergschnecken unterwegs. Dazu eine kleine Geschichte:
Ich hatte gelesen, dass Weinbergschnecken die Eier von Nacktschnecken fressen. Und an Nacktschnecken hatten wir in dem einen Schulgarten, den ich an einer Grundschule betreute, wirklich genug. Mehr als genug. Also wurde mit den Kindern beschlossen, dass wir Weinbergschnecken ansiedeln wollen.
Der Schulgarten wurde unter anderem auch von dem Kinderkochklub genutzt, den ich an dieser Schule leitete. Die Kochklubkinder hatten ihr eigenes Kräuterbeet dort. Mein Sohn, noch im Kindergartenalter, begleitete mich nachmittags ab und zu zum Kinderkochklub. Er wurde dadurch zum Mitglied ehrenhalber.
Als mein Sohn und ich an der Ostsee Urlaub machten, fanden wir heraus, dass sowohl in den dünennahen Gehölzpflanzungen als auch im nahegelegenen Wald zahlreiche Weinbergschnecken zu finden waren. Am Tage vor unserer Abreise sammelten wir also welche von diesen Schnecken, bis wir zwölf Stück zusammen hatten. Diese sollten im Schulgarten ihre Heimat finden.
Wir beide also mit einem offenem Karton voller Schnecken in den Aufzug des Appartementhauses, in dem wir wohnten, dritter Stock. Eine Dame, feinerer Art, stieg hinzu. Sie schaute die Schnecken an und fragte uns, was es damit wohl auf sich habe. Mein Sohn fühlte sich berufen, zu antworten. Er war der Meinung, diese Geschichte gehört von Anfang an erzählt. Also, dass die Nacktschnecken im Schulgarten die Kräuter auffressen, wir also nicht damit kochen können, und das die Weinbergschnecken die Eier von. . .
So begann er mit den Worten: „Wir haben einen Kinderkochklub!“ Worauf die Dame ganz blass wurde und ihn erschreckt anstarrte.

Donnerstag, 29. Mai 2025

Alma de l´Aigle: Begegnung mit Rosen

 

Königin von Dänemark 

Eines meiner Lieblingsgartenbücher ist das Buch "Begegnung mit Rosen" von Alma de l´Aigle, 1958 das erste Mal erschienen, welches der Dölling und Galitz Verlag dankenswerterweise wieder herausgebracht hat. Dieses Buch hat nichts mit unseren modernen Gartenbüchern gemein, die ja zum größten Teil aus Gartenbildern bestehen, die einen bestenfals neidisch  machen. Da hat der Fotograf dann im richtigen Augenblick auf den Auslöser gedrückt und aus einer wohl ausgesuchten Perspektive ein Foto geknipst, welches einen Idealzustand aufzeigt, der weder Trockenheit noch Regengüsse, weder Schnecken noch Unkraut kennt.

Anders die "Begegnung mit Rosen": Ein Rosenbuch, fast 340 Seiten stark, und so gut wie keine Bilder, und die wenigen vorhandenen schwarzweiß. Heute unvorstellbar, doch Alma de l´Aigle hat ganz auf die Kraft ihrer bildhaften Sprache gesetzt. Zurecht. Ich habe noch nie vorher (und nachher) eine solch sprachmächtiges Kompendium zur Beschreibung von Rosendüften gelesen, wie ihr Buch. Immer wieder eine Freude, ihre Rosenbeschreibungen zu lesen, ihre Sprachmalereien rund um Farbe und Duft. Das einzig traurige daran ist für mich, dass ich so viele der beschriebenen Sorten nicht kenne. 

Hier einige Auszüge:


Über Climbing Crimson Glory: "Und der Duft! Immer ist es der gleiche dunkle und ungetrübte Duft, zuverlässig in Sonne und Regen, vom ersten Öffnen der Knospe bis zum Verblühen. Es ist ein Duft wie Rotwein, am Abend getrunken, in stiller Ecke, wo die Hast des Tages sich legt".

Über Albertine: ". . . der Duft: zuerst ist es ein stark wellender, weicher, süßer Duft, der fast an Zentifolie gemahnt, dann wird er gebrochen canina mit etwas Nelke darin, und endlich, wenn die Aprikosenfarbe ganz dem fahlen Rosigweiß gewichen ist, wird der Duft trübe, fast dumpf."

Über die Gerberose, einer Kletterrose, die ganz oben auf meiner Wunschliste steht: "Aber - da kommt man sommers in den Garten, um zu sehen, wie die Bohnen angesetzt haben, und da wird einem plötzlich, als wenn die Fee - wie heißt sie doch noch? -  eben durch den Garten geschwebt sei und den süßesten Rosenduft hinterlassen habe. Die ganze Luft ist erfüllt von diesem Duft.

Man sieht umher und sagt: Was duftet denn hier nach Rosen? Und da steht dann die Gerberose bescheiden in der Ecke, die Duftverschwenderin. Ehe unsere Blicke auf sie fielen, war ihre Seele uns schon entgegengekommen.

Ihr Duft hat, was sie nur mit ganz wenigen Rosen teilt, eine Ausdehnungskraft und ist sogar in der Verdünnung am lieblichsten. Kommen wir aber nahe an die Blüte heran, so erscheint uns der Duft gar nicht mehr so edel, mehr kompakt als klar."

Papa Mailland 

Rosenduft hat etwas ausgleichendes, stimmungserhellendes, antidepressives. Einmal, als ich ein Rosenseminar gab, inklusive Rosenverköstigung, es gab verschiedene Gerichte mit Rose, öffnete ich morgens die Türe, um eine Teilnehmerin hinein zu lassen, die einen entschieden traurigen Eindruck machte. Dunkel gekleidet war sie, und dunkel ihre Aura, Ringe schwarz unter ihren Augen, die Mundwinkel heruntergezogen, es war, als wäre eine dunkle Wolke um sie. Für die Herstellung des Sorbets mussten die Rosenblütenblätter gemörsert werden, und binnen kurzen war der ganze Raum mit Rosenduft fast gesättigt. Es war wunderbar die Wandlung der am morgen so düsteren Erscheinung zu beobachten: Das Gesicht klarte auf, ein Strahlen gelangte in die Augen, die Teilnehmerin wurde wach, anders kann man es nicht bezeichnen, und begann mit einem Male mit einer Herzlichkeit und Wärme in der Stimme zu erzählen, als wäre es eine ganz andere Person, als die, welche des morgens in der Türe stand. Das vermag der Duft der Rose. 

Rose de Resht 

Noch einige Duftbeschreibngen von Alma de l´Aigle: "Aber der Duft ist, besonders im Aufblühen, wunderbar, ein leichter Teeduft nach chinesischem Tee, manchmal ein leicht harziger Teeduft", oder, auch einmal kritisch: "Einen scharfen unreinen Fruchtgeruch bemerkte ich, wie nach künstlicher Roter Grütze; ein andermal einen leichten Apfelduft, aber keinen Reichtum, keine Tiefe."

Eine meiner Lieblingsbeschreibungen: "Ein Duft wie Teig von Zitronenkuchen, und Backpulver ist auch schon drin." Und, für heute zum Abschluss: "Es war, als wenn man eine große Schale mit vielerlei Früchten ins Zimmer trägt: Birnen, Gravensteiner, Pfirsiche und Himbeeren, all diese Düfte wehten einem entgegen als einheitlicher, köstlicher süßer und doch erfrischender Duft."

Nach dem Lesen dieses Buches geht man an keiner Rose mehr vorbei, ohne die Nase in die Blüte zu stecken. Es war ein beliebtes Spiel von mir und meinem damals drei und vier Jahre alten Sohn, die verschiedenen Rosen zu erschnuppern, und ich sehe noch bildhaft vor mir sein Gesicht, wenn er enttäuscht war, dass eine Rose nicht duftete, oder entzückt, wenn ihm etwas ganz Besonderes entgegenwehte, wie zum Beispiel bei der dunkelroten Edelrose Papa Meilland, die einen besonders schweren und starken Duft trägt.

Zitronenjette 

Einmal traute ich meinen eigenen Sinnen nicht. Bei der gelben Edelrose mit dem Namen "Zitronenjette" nahm ich einen klaren Zitronenduft wahr. Ich dachte, ich wäre wohl suggestiv beeinflusst worden von Namen und Farbe dieser Rose. Bis ich dann in der Beschreibung las: "Duft nach Zitronen". Nun, mittlerweile vertraue ich meiner Nase und meinem Empfinden. Und bin jedesmal Mutter Natur dankbar über ihre verwchwenderische Fülle. Das Genießen von Rosenduft ist für mich jedesmal wie ein stilles Gebet.



Dienstag, 13. Mai 2025

Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche oder: Auf einem Baum ein Kuckuck saß. . .

 



Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche oder: Auf einem Baum ein Kuckuck saß. . .

Heut in den frühen Morgenstunden hörte ich es laut und vernehmlich: Der Kuckuck ist wieder da. Schon vor einigen Tagen war er zu hören, etwas weiter entfernt, und ich hatte Glück: Ich hatte Geld in der Tasche. Denn es wird die Geschichte über die Generationen weiter getragen, dass, wenn im Jahre der erste Kuckucksruf gehört wird, die Geldbörse zu schütteln sei. Sofern darinnen Geld vorhanden ist. Dann werden das ganze weitere Jahr in dieser Geldbörse einige Piepen oder Moneten oder Thaler zu finden sein.

Nun bin ich nicht unbedingt leichtgläubig, oder gar abergläubisch, doch habe ich zur "Kuckuckszeit" immer etwas Geld im Säckel, Münzen tun es da am besten, die klimpern so lustig, wenn geschüttelt wird. Ihr wisst ja, wer beim ersten Kuckucksruf im Jahr Geld im Säckelhat, sollte diesen tunlichst schütteln, dann wird das gesamte weitere Jahr auch Geld darin sein. Auch wenn das Schütteln beim ersten Kuckucksruf des Jahres nicht unbedingt nützt, schaden tut es keinesfalls. Es ist also eine eher harmlose Marotte, wenn ich mich darüber freue, dass ich im richtigen Augenblick Geld dabei habe.

Manchmal reihen sich die Erinnerungen wie Perlen auf einer Kette aneinander. So ging es mir heute früh auch beim Kuckucksruf. Ich erinnerte mich an eine Begebenheit in meiner Kindheit, es müssen die Osterferien gewesen sein, denn ich war bei meiner Großmutter zu Besuch. In der Nähe ihrer Wohnung gab es den von mir so genannten Mirabellensee, ein kleines, stilles Gewässer mitten in der kleinen Stadt, um dessen Rund Mirabellenbäume wuchsen. Das war einer meiner Lieblingsorte in der kleinen Stadt, und wieder ging ich dort hin.

Unter einen dieser Mirabellenbäume standen zwei mir fremde Kinder an diesem Tag, und die beiden blickten nach oben und schüttelten dabei ihre Geldbörsen. Oben im Baum saß ein Vogel und rief laut und vernehmlich "Ruguuhruuh, ruguuhruuh". Die Kinder klärten mich auf, dass das ein Kuckuck sei, und dass daher die Geldbörsen zu schütteln seien.

Nun, ich wusste, wer dort oben "Ruguuuhruuhte", es hörte sich so ganz nach einer ordinären Stadttaube an. Doch mochte ich die beiden Kinder nicht durch mein Wissen aus ihren Träumen locken, sie waren einfach zu schön in ihrer Begeisterung. Nicht immer ist es wichtig, die "Wahrheit" zu sagen.

Als ich diesen Satz so für mich dachte, reihte sich die zweite Erinnerung ein. Da war ich schon älter, und eine liebe Freundin und ich saßen nächtens unter dem Sternenhimmel im Garten. Drinnen in dem kleinen Häuschen war Party, doch wir hatten uns in die Ruhe zurückgezogen. Zwischen all den Sternen des Himmels hindurch bewegte sich ein Stern besonders glänzend und funkelnd. "Oh, schau, ein wandernder Stern!", sagte die Freundin. Ich schaute, und ich wusste sofort: Das war ein Satellit, ödes Menschenmachwerk. Auch hier schwieg ich, denn die Freundin sah gar zu glücklich aus, ob ihrer Entdeckung.

Jahre später trafen wir uns wieder, und irgendwie und irgendwarum kam unser Gespräch auf die Begebenheit damals im Garten. Ich erzählte ihr, dass und warum ich da schwieg, und sie erzählte mir, dass sie im Moment des Aussprechens selber wusste, dass dort oben ein Satellit kreiste. Und dass sie mir sehr dankbar dafür war, dass ich sie nicht berichtigte. Denn sie wusste auch, dass ich es wusste.

Ja, Schweigen kann Gold sein. Nun ist es so, dass einige meiner Freundinnen und Freunde in unserem medialen Dschungel, in früheren, nicht digitalen Zeiten nannte man das "Blätterwald", unter einem medialen Baum stehen und in der Hoffnung auf eine goldene Zukunft verzweifelt ihre Geldbörsen schütteln. Solange oben auf dem Baum nur eine Taube oder ein Kuckuck sitzt, mag das ja ungefährlich sein, zumal, wenn es eine Friedenstaube ist.

Doch manchmal sitzt da oben auch der Geier oder gar eine Harpyie oder ein anderer Unglücksvogel, der sein "Ruguuuruuh, goldene Zukunft du, dort entlang du, ruguruuh" ruft. Ja, es kann durchaus sein, dass da unter dem falschen Baum geschüttelt wird.

Da ist es für schon schwieriger für mich, zu schweigen, doch das Sagen ist es genauso. Kaum jemand möchte darüber wissen, dass er oder sie unter dem falschen Baum dem falschen Vogel zugeschüttelt haben.

Eines weißt ich jedoch: Mit einer "Ich-weiß-es-aber-besser" - Mail, mit einem schadenfrohen "Ätsch, pass auf, dass Dir der Vogel nicht auf den Kopf scheißt" ist es nicht getan. Da braucht es die richtige Balance zwischen Abwarten und. . . ja, und persönlichem Gespräch. Dass der Mensch nicht nur hört, sondern auch sieht, spürt, fühlt, dass da jemand Besorgtes es Ernst meint. . . Da ruft der Kuckuck mir und uns zu: "Seit behutsam mit Euren Freundinnen und Freunden, kuckuck, kuckuck".

Diese Erkenntnis ist es, die ich an heutigen Morgen mitnehmen durfte. Allein schon dafür bin ich dem Kuckuck dankbar, selbst falls es mit dem Gelde mal nicht so klappen sollte. . .

Euch allen einen schönen Frühlingstag, wünscht Dingefinder Jörg


(Geschrieben 13. Mai 2020)

Samstag, 3. Mai 2025

Mynona, Robert Gernhardt über Sonette

 


In alte Schläuche taugt kein neuer Wein,
Der Dichter dichte, wie zum Beispiel Whitman;
Die Seele immer neu schafft ihre Rhythmen,
wer heut´ Sonette macht, ist nur ein Schwein.

Daher hüt` ich mich davor, allein
Ich bin darob beruhigt, denn ich glitt, wenn
Ich´s auch wollte, nicht diesen Ritt, denn
Grad zur Sonettform sag´ ich immer: nein!

Ich hoppse, wie die Muskeln mir´s diktieren,
will nicht in fremde Form gezwungen sein
und fühle mich ganz frei in meiner - meiner!

Pfui Teufel, sollt´ ich je Sonette schmieren:
Ich will ich selbst in meinen Lungen sein
Und niemals atmen in Petrarkas seiner.

Dieses Sonett von Mynona (Salomon Friedländer) dürfte wohl die Blaupause zu der etwas deftiger formulierten Sonettkritik von Robert Gernhardt sein:

Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs

Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut

hat, heute noch so'n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

darüber, daß so'n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.

Robert Gernhardt (1937 - 2006)

Nur ließ Mynona seinem Missgefallen am Sonett noch 99 weitere Sonette folgen, wie zum Beispiel dieses hier:

Susanne wandert nach dem Badezeltchen,
Die Glieder eingehüllt in seidnen Rips,
Ein Herr (Zylinder, Lack, Monokel, Schlips)
Folgt ihr verstohlen in das Tannenwäldchen.

„Zu mager“, urteilt er. Doch durch ein Spältchen
Schielt lüstern er, ein ganz infamer Fips,
Erblickt (statt des vermeintlichen Geripps)
In Wahrheit das graziöseste Gestältchen.

Anmutig hebt sie eine Wasserkanne,
Besprudelt ihren fabelhaften Wuchs.
Er, selbstvergessen, ungeheuer hastig

(So geht es dem überreizten Manne)
Tritt fehl, versinkt fast ohne jeden Murr
In einem Sumpf (die Gegend war morastig).

Aus: Hundert Bonbons, Sonette von Mynona, München bei Georg Müller, 1918; angemerkt sei noch, dass ich persönlich Sonette sehr schätze. 

Salomon Friedländer, geboren am 4.5.1871 in Gollantsch/Posen; gestorben am 9.9.1946 in Paris. Der Sohn einer jüdischen Arztfamilie verbrachte seine Jugend in Posen und Berlin. In München studierte er ab 1894 Medizin, in Berlin Zahnmedizin und ab 1896 Philosophie (Promotion 1902 in Jena). 1906 siedelte er nach Berlin über und schrieb nun unter dem Namen Mynona (Anagramm von »anonym«) auch Gedichte und Grotesken; seine philosophischen Schriften erschienen unter dem Namen Friedlaender. 1933 emigrierte er nach Paris.

Das Foto ist aus dem Nachlass, Salomo Friedlaender Collection, Leo Baeck Institute, New York

Freitag, 4. April 2025

Elsa Asenijeff: Lasst die Bäume noch glücklich sein!

 


Lasst die Bäume noch glücklich sein!

Brecht nicht herein!
Lasst die Bäume noch glücklich sein!
Sie atmen, sesshaft in den Boden gestellt,
Eine reine, klare, sittliche Welt!
Nur wie ein Traum weht ihr Sehnen,
Hinüber und herüber
Aus tiefster Säfte getragener Traumesfieber!
Alle Jahre! alle Jahre werden sie wieder
Frisch! Voll Frühlingsbegeisterung!
Und tausend Jahre sehen sie wieder jung!
Alljährlich im frischen Knospensprung!
So wachsen sie hinein in Ätherbläue
Ohne Schuld und ohne Reue – – –
Laßt die Bäume noch glücklich sein!
Schöpfungsatmend! Lebensfeiernd! Menschenallein!

Elsa Asenijeff, geboren am 3. Januar 1867 in Wien, gestorben am 5. April 1941 in der „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ in Bräunsdorf, in die sie von den Nationalsozialisten „verbracht“ wurde, der Aktenlage nach an Lungenentzündung.

Einem zweijährigen Aufenthalt in der Heilanstalt Leipzig-Dösen, folgte 1926 die Überstellung nach Hubertusburg und schließlich als „nicht gemeingefährlich“ in das Versorgungshaus Colditz. 1933 siedelten die Nationalsozialisten diese Einrichtung als „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ nach Bräunsdorf bei Freiberg um.

Aus dieser Zeit, von ihr datiert 1938, stammt ein Manuskript mit über 200 Gedichten mit dem Titel „Bilanz der Moderne“. Diese Gedichte, inzwischen veröffentlicht, und auch Krankenakten belegen, dass sie nicht geisteskrank war. Bräunsdorf war auch keine Anstalt für Geisteskranke.

1922 meldet sie sich mit dem Buch "Aufschrei - Gedichte in freien Rhythmen" zu Wort: "Wie rett ich Dich, o Welt, vom Menschen;/ ohne ihn zu vernichten!/…./Wie halt ich Milliarden Hände!/ Die sich schändend an Dir vergehen/…/Welch ein Mund,/Ihnen zu verkünden: Das Paradies hat euch geboren,/Und die Hölle habt Ihr geboren!/ Laßt noch Sterne über ihren Dünsten leuchten,/Hell brennende Gold- und Edelsteine als Grund,/Blütenüberschütteter Boden dazwischen…." Sie appellierte an alle, sich für das Leben und den Fortbestand der Erde verantwortlich zu fühlen.

Von 1898 bis 1916 war sie Muse und Geliebte des Malers und Bildhauers Max Klinger (1857 - 1920), der sie häufig malte.

Das Bild „Stamm und Äste im Frühjahr“ (1930) ist von Leon S
pillaert (1881 - 1946)

Samstag, 15. Februar 2025

Zur Erinnerung an Christian Friedrich Wagner

 



Erinnerungen hinter der Erinnerung

Strahlt nicht auf mitunter, so zu Zeiten
Kunde her von unsern Ewigkeiten?

So urplötzlich und so blitzesschnelle
Wie die blanke Spiegelung einer Welle?

Wie die ferne Spiegelung eines bunten
Kleinen Scherbens an dem Kehricht drunten?

Wie die rasche Spiegelung einer blinden
Fensterscheibe am Gehöft dahinten?

Die metall’ne Spiegelung einer blanken
Pflugschar drüben an der Wiese Schranken?

Augenblicks mit Licht für dich übergießend,
Augenblicklich in ein Nichts zerfließend?


Kannst du wissen?

Kannst du wissen, ob von deinem Hauche
Nicht Atome sind am Rosenstrauche?
Ob die Wonnen, die dahingezogen,
Nicht als Röslein wieder angeflogen?
Ob dein einstig Kindesatemholen
Dich nicht grüßt im Duft der Nachtviolen?

Christian Friedrich Wagner, geboren am 5. August 1835 in Warmbronn, Baden-Württemberg; gestorben am 15. Februar 1918 ebenda, Kleinbauer und Dichter.

„... er fühlte die tiefe Zusammengehörigkeit zwischen Tier, Mensch und Pflanze, Stein und Stern. Und er liebte das alles. ... Er war dogmenlos fromm. ... Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß, 'Duliöh!' zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen. Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, daß wir ihn alle läsen und verehrten.“ (1919)

Kurt Tucholsky

Seine Stellung zur Kriegslyrik war eindeutig, wie aus einem Brief an Hermann Hesse hervorgeht: Nachdem er schon mehrfach „um Kriegslieder angegangen worden“ sei, schreibt er weiter: „das Heldentum des Nitroglyzerins erkennen wir [Dichter] nicht an!“ Als der befreundete Dichter und Kriegsdienstverweigerer Gusto Gräser aus Deutschland ausgewiesen werden sollte, setzte er sich für ihn ein. Der spätere Dadaist Johannes Baader besuchte ihn 1916 in Warmbronn und hielt daraufhin begeisterte Vorträge über Wagner.

Er leidet sehr unter dem fortgesetzten Kämpfen und Töten und wünscht sich, Eremit zu werden. „Ich beklage, dass es in Deutschland keine Wälder mehr gibt, wie im Mittelalter, zur Zeit der Eremiten, in die hinein ich mich verkriechen könnte, um dort nur noch mit frommen Tieren zu leben.“

„Lieber ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ“

Im Winter 1884 nutzte Wagner die freie Zeit zum Sichten seiner poetischen Versuche und stellte sein Manuskript Märchenerzähler, Bramine und Seher zusammen, das im Frühjahr 1885 in einem Stuttgarter Verlag erschien, nachdem er die Herstellungskosten des Buches übernommen hatte. In diesem Werk sah er sich selbst als Bramine, der „alles Lebendige schonend und achtend durch die Fluren wandelt“, er versicherte jedoch, nie buddhistische Schriften gelesen zu haben.

„Schaffe selbst dir einen Rosenhag“

Samstag, 8. Februar 2025

Zur Erinnerung an die Malerin Anita Rée

 



Anita Clara Rée, geboren am 9. Februar 1885 in Hamburg; gestorben am 12. Dezember 1933 in Kampen auf Sylt, Malerin der Avantgarde. Sie hatte in der Zeit der Weimarer Republik ihren künstlerischen Durchbruch. Gegen Ende der Weimarer Zeit begegnete sie vermehrt antijüdischer Hetze. Schon 1932 wurde von evangelischer Seite unter Vorwänden die Abnahme des fertigen Auftrages für ein Altartryptichon verweigert. Diese Ausgrenzung nahm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch erheblich zu. Im Dezember 1933 beging Anita Rée vereinsamt auf der Insel Sylt Suizid.

Kurz bevor sie sich das Leben nahm, schrieb sie an ihre Schwester Emilie: „Ich kann mich in so einer Welt nicht mehr zurechtfinden und habe keinen einzigen anderen Wunsch, als sie, auf die ich nicht mehr gehöre, zu verlassen. Welchen Sinn hat es – ohne Familie und ohne die einst geliebte Kunst und ohne irgendwelche Menschen – in so einer unbeschreiblichen, dem Wahnsinn verfallenen Welt weiter einsam zu vegetieren … ?

Das Bild ist ein Selbstportrait von 1915

Freitag, 7. Februar 2025

Zum Andenken an Peter Kropotkin

 



Zum Andenken an Peter Kropotkin (9. 12. 1842 - 8. 2. 1921)

Als Sohn eines Fürsten in Russland geboren, entwickelte er sich zu einem der einflussreichsten anarchistischen Schriftsteller. Zweimal wurde er zu fünf Jahren Gefängnishaft verurteilt. Das erste Mal 1874 wegen der Teilnahme an dem geheimen Diskussionskreis. Anarchistische Freunde sorgten für eine Verkürzung, indem sie ihm zur Flucht verhalfen. Das zweite Mal in Frankreich 1883 wegen Mitgliedschaft in der Internationale der Arbeiterbewegung. Für die Verkürzung dieser Strafe sorgten öffentliche Proteste renommierter Wissenschaftler.

„Ich hatte reichlich Gelegenheit, die Bauern, ihre Lebensweise und Gewohnheiten, im täglichen Leben zu beobachten, und noch mehr Gelegenheiten zu erkennen, wie wenig die staatliche Verwaltung, auch wenn sie von den besten Absichten beseelt war, ihnen zu bieten vermochte“

„In unserer Schule zielte alles darauf ab, uns zur Kriegsführung zu ertüchtigen. Wir würden aber mit derselben Begeisterung an das Trassieren einer Eisenbahn, oder Bestellen eines Feldes gegangen sein. Doch aller Drang unserer Jugend nach wirklicher Arbeit wurde mißachtet.“


Aus „Memoiren eines Revolutionärs“

Lenins Parole „Alle Macht den Räten“ war ganz im Sinne der Anarchisten. Aber Lenin vertrat sie nur aus taktischen Gründen. Tatsächlich bekämpfte er die russischen Anarchisten. In einer „Botschaft an die Arbeiter des Westens“ warnte Kropotkin:

„Ich bin der Ansicht, dass dieser Versuch, auf staatlich-zentralistischer Grundlage und unter dem eisernen Gesetz einer Parteidiktatur eine kommunistische Republik zu errichten, mit einem großen Fiasko enden wird. Russland lehrt uns, wie der Kommunismus sich nicht aufdrängen sollte.“

Die russische Übergangsregierung von 1917 will seine Popularität nutzen und bietet ihm den Posten des Bildungsministers an. Doch Kropotkin lehnt ab, weil er kein Staatsdiener sein will. Stattdessen macht er sich unter den aufstrebenden Bolschewiken unbeliebt. Er beklagt die Entwicklung des Kommunismus unter Lenin, prangert die Zentralisierung des Staates und das brutale Vorgehen gegen Dissidenten an.

Während zahlreiche seiner Mitstreiter in dieser Zeit politischen Säuberungen zum Opfer fallen, bleibt Kropotkin trotz seiner öffentlichen Kritik unbehelligt. Wahrscheinlich rettet ihm seine Beliebtheit in der Bevölkerung das Leben. So ist ihm ein natürlicher Tod vergönnt. Er stirbt am 8. Februar 1921 in Dmitrow bei Moskau im Alter von 78 Jahren.

Im Jahr 1892 erscheint „Die Eroberung des Brotes“, in dem er die Abschaffung des Staates und der Lohnarbeit fordert. Darin versucht er, die anarchistische Theorie nicht wirtschaftlich, sondern naturwissenschaftlich zu begründen. Die Grundlagen liefern ihm seine Beobachtungen unter den Einheimischen Sibiriens und deren Selbstorganisation. Seine zentrale Forderung lautet: „Wohlstand für alle!“

“Durch erhebliche Vorurteile, durch falsche Erziehung und Belehrung gewöhnt, überall nur die Regierung, die Gesetzgebung und die Magistratur zu sehen, sind wir zu dem Glauben gekommen, dass die Menschen sich wie wilde Tiere zerreißen würden, wo der Polizist nicht mehr sein Auge auf uns gerichtet hält, (…).Und doch stehen wir (…) tausend und abertausend menschlichen Gruppierungen gegenüber, die sich in freier Weise gebildet haben und bilden- OHNE die Intervention eines Gesetzes, und die unendlich viel Höheres vollbringen, als solche, die unter gouvernementale Oberherrschaft zu Stande kommen. (…)”

Aus: Die freie Vereinbarung (Aufsatz von 1892)

Im Jahr 1902 vollendet er sein wohl bedeutendstes Buch: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, seine Antwort auf den Sozialdarwinismus. Den damals weit verbreiteten Glauben an einen natürlich bedingten „Kampf ums Dasein“ sieht er als eine Drohung gegen Schwächere an. „Für die fortschrittliche Entwicklung der Art“, schreibt Kropotkin, sei die „gegenseitige Hilfe“ hingegen „weit wichtiger“.

„Die gegenseitige Hilfe ist ebensogut ein Naturgesetz wie der gegenseitige Kampf, für die progressive Entwicklung der Species (Art) ist er aber von viel größerer Wichtigkeit als der Kampf.“ Im Oktober 1902 erschien das Buch in London und wurde kurz nach der Publikation in verschiedene Sprachen übersetzt. 1904 wurde das Werk erstmals von Gustav Landauer ins Deutsche übersetzt. Ich selber habe es in meinem Bestand und lese immer wieder einmal darin. „Gegenseitige Hilfe“ als Motor der Evolution, was für ein freundlicher Gedanke. Obwohl das Buch nach seiner Publikation nur auf mäßiges Interesse in wissenschaftlichen Kreisen stieß, wurde es später bei der Reinterpretation von Darwins Thesen wiederentdeckt und beeinflusste moderne Naturwissenschaftler wie Imanishi Kinii, Ashley Montagu und Adolf Portmann. Nicht zuletzt in dem Bestseller „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“ von Rutger Bregman (die deutsche Übersetzung erschien 2020 bei Rowohlt) taucht er wieder auf.



Dienstag, 4. Februar 2025

Traumspur - Dritter Teil: Die drei Nächte der Kalindi

 

Die drei Nächte der Kalindi

Als er in der Dämmerung des Morgens die Sichel des beginnenden Mondes wieder sah, schmal und zäh wie ein scharfes Laubblatt der Seggen auf den struppigen Wiesen, da wusste er um das Ende der drei Nächte der Kalindi, welche ihn an den Scheitelpunkt des Sommers führten. Groß stand die Sichel der Göttin über den in Dunst gekleideten Silhouetten der Höhen.

So schlug er zurück jene Decke aus wärmender Wolle, gefärbt in den Farben der Erde, und er richtete sich auf von der rauhen Schlafstätte. So stand er im taufeuchten Morgen und gedachte des ersten Tages, gedachte der ersten Nacht. Der erste Tag auf dem Lager, des Sommers drückende Schwüle ringsum, so fremd ihm die Welt. Vielleicht war es ein Krankenlager, denn Schmerzen begleiteten ihn, Schmerzen in allem, was sein Inneres war. Kaum zu regen wagte er eines seiner Glieder, denn Schmerz war alles in ihm, und Lähmung. So tauchte er ein in die beginnende Nacht.

Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab. Es waren die Träume vom grausamen Krieg, es waren die Träume von grausamer Folter, die dunklen Kommandos, deren Krieger Totenköpfe am Revers führen, die dunklen Kommandos, sie zogen durch seine Träume, und bleich die verkrümmten Körper im aschfahlen Licht eines anderen Mondes, bleich all der Tod, welche die dunklen Kommandos hinter sich ließen. Und einjede Folter traf den eigenen Körper, denn dieser war schutzlos in der dräuenden Nacht. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.

„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der schwarz gefiederte Morgenvogel sein Lied:

„Nun beginnt deine Zeit.
Sei Bewahrer des Lachens,
bewahre des Lebens Heiterkeit.

Und bedenke auch dies:
Es hat seine Gründe,
dass die Stadt dich verstieß.“

Und er gedachte des zweiten Tages auf dem Lager, des Sommers drückende Schwüle ringsum, so fremd ihm die Welt. So ferne gerückt in den Schleiern des strömenden Regens. Drückender Dunst legte sich über sein Krankenlager, und die Schmerzen begleiteten ihn. Schwer lastete aller Schmerz auf ihm, regungslos sein Körper auf der Lagerstatt - „Schmerz, das macht, dir rückt die Welt ferne“, klangen die Worte der Jugend in ihm. So tauchte er ein in die beginnende Nacht. Und es war seine zweite Nacht.

Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab. Es waren die Träume vom grausamen Krieg, in dessen Bomben die Körper von Kindern zerbarsten unter blutrotem Himmel der kreischenden Raketen, der donnernden Sprengungen, in denen die heimeligen Häuser zerfielen, in denen alle Heimstatt und Heimat verging. Währendessen erstanden sie neu, die dunklen Kommandos, deren Krieger Totenköpfe am Revers führten, und die dunklen Kommandos, sie zogen durch seine Träume. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.

„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der grau gefiederte Morgenvogel sein Lied:

„Nun beginnt deine Zeit.
Sei Bewahrer des Herdes,
bewahre des Lebens Heiterkeit.

Und bedenke auch dies:
Es hat seine Gründe,
dass die Stadt dich verstieß.“

Und so begann ein weiterer Tag auf dem Lager, und es war der dritte Tag, der begann. Und er wollte lesen in den Seiten der uralten Bücher, doch verschwommen die Zeilen vor seinen Augen, und die Buchstaben begannen zu tanzen, und sie tanzten in die Nebel. Und sie tanzten in die Nacht, und es war seine dritte Nacht.

Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab, und so kreiste im Dunkel der dunkelste Stern aller, paradiesisch einst, nun Behausung der gefallenen Engel, und es wuchsen die düsteren Himmel, und es wuchsen die grauen Wüsten, der Staub des Zerfalles legte sich über all das pochende Grün. Und auch in ihm wuchsen sie, die düsteren Himmel, die grauen Wüsten, die Lagen des Staubs des Zerfalles, denn seine Seele war eins mit diesem Stern. Und es wuchsen die düsteren Ahnungen in seinen Träumen. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.

„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der weiß gefiederte Morgenvogel sein Lied:

„Nun beginnt deine Zeit.
Sei Bewahrer der Gärten,
bewahre des Lebens Heiterkeit.

Und bedenke auch dies:
Es hat seine Gründe,
dass die Stadt dich verstieß.“

Im Lichte der aufgehenden Sonne sah er: Die Brombeeren reiften heran.


Veröffentlicht in der Anthologie "TrümmerSeele" hrsg. von St. Mattner & Michael Pilath, illustriert von Peter Starcke, Sternenblick e. V. Berlin, Dezember 2015


Im Frieden der wilden Dinge

In manchen Nächten wächst eine große Trauer in mir,
mich lässt der kleinste Laut vor den Fenstern aufschrecken,
und die Sorge um unser aller Leben in dieser Welt nimmt überhand.
Dann stehe ich auf von meiner Bettstatt und folge den Wegen
in die nahegelegenen Wälder, wo die wilden Enten und die
schweigsamen Reiher wohnen an den stillen Waldweihern.
Wesen, die ihr Sein nicht in vorauseilender Trauer leben.
Über mir das sanfte Blinzeln der Sterne in ruhender Nacht,
besänftigend mit ihrem Licht. So ruhe ich eine Zeit
in der Gnade einer älteren Erde, und befreit von der
eben noch so übermächtigen Furcht lenke ich meine
Wege wieder heimwärts.

Eine Nachdichtung eines Gedichtes von Wendell Barry. Ich schreibe mit Absicht Nachdichtung und nicht Übersetzung, denn ich bin der Meinung, dass sich der gesamte lyrische Gehalt eines Gedichtes nicht eins zu eins übersetzen lässt, allenfalls nachempfinden.

The Peace of Wild Things

When despair for the world grows in me
and I wake in the night at the least sound
in fear of what my life and my children´s lives may be,
I go and lie down where the wood drake
rests in his beauty on the water, and the great heron feeds.
I come into the peace of wild things
who do not tax their lives with forethought
of grief. I come into the presence of still water.
And I feel above me the day-blind stars
waiting with their light. For a time
I rest in the grace of the world, and I am free.

Aus: Wendell Berry - The Peace of Wild Things and other poems, Penguin 2018 Copyright by Wendell Berry 2012

Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa so: 

Im Frieden der wilden Dinge
Wenn die Verzweiflung um die Welt in mir wächst,
und ich wache in der Nacht beim geringsten Laut auf,
in Furcht davor, was aus meinem Leben und dem meiner Kinder werden mag,
dann gehe ich, lasse mich dort nieder, wo die Brautente
ruht in ihrer Schönheit auf dem Wasser, wo der Große Reiher sich labt.
Ich komme in den Frieden der wilden Dinge,
die ihr Sein nicht in vorauseilender Trauer leben.
Ich komme in die Gegenwart von stillem Wasser
und ich spüre über mir die tagblinden Sterne,
wartend mit ihrem Licht. Eine Zeit lang
ruhe ich in der Gnade der Welt, und ich bin frei.

Wendell Berry, geboren am 5. August 1934 in Henry County, Kentucky ist ein US-amerikanischer Essayist, Dichter, Romancier, Umweltaktivist und Landwirt. Ihn verbindet eine langjährige Brieffreundschaft mit dem Lyriker und Essayisten Gary Snyder. Wendell Berry engagiert sich für ökologischen Landbau und dafür, den Beitrag, den eine landwirtschaftliche Kultur mit kleinbäuerlichen Strukturen zur Kultur als Ganzer leisten kann, ins Bewusstsein zu rufen. Er ist ein dezidierter Gegner von agrarindustrieller Bodenbewirtschaftung, monokulturellem Anbau, Massentierhaltung und Atomindustrie.


Musik: Dingefinder, Rhythmusgitarre, Querflöte; Verlah Wo. Klavier