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Sonntag, 22. Juni 2025

Es beginnt zu der Zeit. . .

 



Es beginnt zu der Zeit,
wo die Erdbeeren reifen,
und zu keiner anderen Zeit auch
hätte es dieses Beginnen gegeben

Es beginnt zu der Zeit
wo das Johanniskraut glüht,
und ein Namenlos
nach der geschundenen Erde greift

Über den Staub der Wege,
dem kargen struppigen Grün
der Weiden eine gleißende Sonne
sich spiegelnd in segnender Blüte

Zwischen den Buchen das Schweigen
des Mittags, nicht das Ruhen zu stören,
Schafgarbe, Baldrian und Mädesüß
weiten sich in das Blühen

Danke an das Leben
so zäh so einfach so still
lausche dem Wesen der Stille
lausche den Wesen

Die Tontafeln verwittert
die Bibliotheken abgebrannt
die Dateien gelöscht

überdauernd ist das
gesprochene Wort
von Zunge zu Ohr

Das Bild ist von Arthur Segal, geboren am 13. Juli 1875 in Jassy, Rumänien; gestorben am 23. Juni 1944 in London im Exil. Nach Beginn des ersten  Weltkriegs flüchtete sich der Pazifist Segal von Berlin nach Ascona, zu den Aussteigern vom Monte Verità. Er leitete dort eine Malschule. Sein Haus auf dem Berg wurde ein Treffpunkt exilierter Künstler wie Hans Arp, Marianne von Werefkin, Alexej Jawlensky, Lou Albert-Lasard. Mit seinem Nachbarn und Landsmann, dem Dichterpropheten Gusto Gräser, unterhielt er ein freundschaftliches Verhältnis. Zusammen mit den nach Ascona gekommenen Dadaisten beteiligte er sich an den Ausstellungen des Cabaret Voltaire in Zürich.[ Von 1920 bis 1933 unterhielt er in Berlin-Charlottenburg eine eigene Malschule, die ein beliebter Treffpunkt für Avantgarde-Künstler wurde. 1933 musste Segal aus Deutschland fliehen. Es ging über Mallorca, das er dann wegen des Bürgerkriegs verlassen musste, nach London. 



Mittwoch, 11. Juni 2025

Strawberry Fields Forever

 


Strawberry Fields Forever

So hat es mich noch einmal „in die Walderdbeeren“ getrieben. Sie ist doch einfach zu lecker, diese Marmelade aus den kleinen Dingern. Beim Pflücken ist jede/r für sich und bei sich, und die Gedanken dürfen mäandern. Heute bin ich mit dem Fluss meiner Gedanken wieder einmal bei der Utopie gelandet, beziehungsweise, beim Fehlen der Utopien. Ein Freund sagte das letztens, dass die Utopien ausgestorben sind, „man“ ist jetzt „Realist“. Doch ich finde es wichtig, von der Utopie aus zu denken, sie als Richtschnur zu nehmen für das tägliche Handeln. „Ideale sind wie Sterne, man kann sie nicht erreichen, doch sie weisen einem den Weg“, das ist ein spanisches Sprichwort.

Um die Menschenwelt ist es nicht zum Besten bestellt, das ist offensichtlich. Ich schreibe hier von „Menschenwelt“, denn ich meine, nicht „die Welt“ ist schlecht. Unsere Welt ist eher schön und liebenswert. Wenn ich mir Sammeleimer und den Wanderstock nehme, und die Wege außerhalb von Fredelsloh gehe, um zu meinen „strawberry fields“ zu gelangen, darf ich mich immer wieder an der Landschaft und ihrer Vielgestaltigkeit erfreuen, werde auf dem Weg von den Ziegen begrüßt, die auf der Weper zusammen mit Schafen gehalten werden, um auf den Kalkmagerrasen für die selteneren Pflanzen das Buschwerk nieder zu halten; ich darf mich an den Blüten von Wildorchideen, Skabiosen, Hauhechel und vielen anderen erfreuen, dazwischen gaukeln die Falter, welche die Blüten besuchen; über mir, in den Büschen und Bäumen, welche den Wanderweg säumen, reifen die Früchte heran, wilde Kirschen, Mirabellen, Schlehen, und noch weiter über mir, im blauen Himmel, zieht der Milan seine Kreise.


Das alles sind Zeichen einer Welt, an deren Schönheit ich mich erfreuen kann, und wenn ich das alles erleben darf, bekomme ich ein Gefühl dafür, wie die Welt „gedacht“ ist. Nein, die „Welt“ ist nicht zu verbessern. Allenthalben das Verhalten von uns Menschen bräuchte wohl dringend eine „Verbesserung“. Wir sind gerade dabei, das, was diese Welt ausmacht, ihre Schönheit in ihrer Vielfalt um des menschlichen Eigennutzes willen zu zerstören.

Es ist nicht die „Welt“, die uns mit Kriegen gegen uns und alles überzieht, wir überziehen die Erde mit Krieg, Zerstörung, Gewalt. Und da gibt es nicht den „Zweiten Weltkrieg“ und den „Ersten“, als zeitlich begrenzte Ereignisse, die letzten paar hundert, ja, tausend Jahre, hält dieser Krieg der Menschen gegen die Welt an. Da waren die Völkerwanderungskriege und die Römerkriege, die Kämpfe, mit denen die Christianisierung einherging, da waren der dreißigjährige Krieg, der Mitteleuropa massiv entvölkerte, da waren der siebenjährige Krieg, unter dem auch meine Wahlheimat hier litt, und so weiter, und dazwischen Bauernkriege, Scharmützel, kleine und große Feldzüge, und dazwischen Ausbeutung und Kahlschlag der Natur ringsum, Grobheit und Gewalt den einfachen Menschen gegenüber und der einfachen Menschen untereinander, Hexenverbrennungen, schwarze Pädagogik, unglaublich niederdrückende Arbeitsverhältnisse der Tagelöhner auf dem Land und in den Fabriken.

Wir Menschen haben der Welt weder Schönheit noch Frieden gebracht, sondern sind immer und überall als Eroberer gekommen. Sicher, es gab (und gibt) immer auch Menschenoasen, in denen Menschen mit der Welt in Eintracht und Frieden lebten, doch dann kamen andere, wie zum Beispiel in historischer Zeit die Weißen nach Nordamerika, und die Idylle war dahin. Nein, wir Menschen sollten uns nicht in den Gedanken versteigen, die „Welt zu verbessern“. Diese gute und bessere Welt zerstören wir gerade.

Doch die Welt ist alt genug, hat seit ihrer Entstehung einiges an Katastrophen, Klimawandel und Eiszeiten überlebt, und ist immer wieder in alter Schönheit erblüht, sie wird auch uns Menschen überstehen. Denn Schönheit ist ihr inneres Wesen. Wir Menschen dürfen uns entscheiden, ob wir dazu gehören wollen, ob wir eins damit sind, oder ob wir als Eroberer kommen, und uns „die Erde untertan“ machen, um ihr unseren gewalttätigen Stempel aufzudrücken. Mit diesem Versuch, der zusehends am Scheitern ist und absehbar scheitert, stellen nur wir uns außerhalb „der Welt“.



Wenn ich nun versuche, meine Utopie in Worte zu kleiden, dann komme ich immer wieder dahin: Ich bin als menschliches Wesen eines mit der Erde und ihren Wesen, im Grunde untrennbar verbunden, als ein Teil, das aus ihr kommt und in sie geht. Ich möchte im Konsens mit allen Wesen leben, mit ihrem Werden, Sein und Vergehen, ebenso wie alle Wesen auch werden, sein, vergehen, und, wenn es denn so ist, nach Staub und Asche wieder in die Schönheit der Welt zurückkehren. Im Konsens mit allen Wesen, also auch mit uns, den Menschenwesen.

Daher kann ich keine „konkrete Utopie“ anbieten. Ich kann mich als einzelnes Wesen in meiner Eigenart, die mein Beitrag zu der unglaublichen Vielfalt der Welt ist, einbringen. Ich vermag meine Gedanken zu sagen und aufzuschreiben. Ich vermag auch einige Wünsche anzubringen, hinsichtlich des Lebens von uns Menschen untereinander, ich verabscheue psychische und physische Gewalt zum Durchsetzen von Zielen, ich vermag nicht zu verstehen, wie einem Menschen dieses Land, dieser Wald, diese Wiese „gehören“ kann. Alles gehört sich selbst, und anderes ist eine Illusion, eine Illusion, die letztlich mit Gewalt durchgesetzt wurde.

Ich wünsche mir eine gemeinschaftliche Lebensweise von uns Menschen, in der sich jede/r nach seiner, ihrer Art entwickeln darf, und nicht durch die Egoismen anderer, vermeintlich stärkerer, doch im Grunde nur grausamer und gewalttätigerer, zu Dingen gezwungen zu werden, die wesensfremd sind. Ich weiß, dass sich solcherart Leben, gemeinschaftlich, im Konsens mit allen und allem zu handeln, eine Möglichkeit ist, die wir als Menschen ergreifen können.

Von dieser Utopie lasse ich nicht ab, sie ist die Quelle in mir, aus der mein Lebensmut sprudelt. Auch ich bin nicht unbeschadet durch die Schule dieser Gesellschaft gegangen, in der jahrhundertelang die Verletzungen und Traumata von Generation zu Generation gereicht wurden, und in jeder Generation neue hinzu kamen. Auch ich bin verletzt, ungerecht, fühle, dass die Gewalt in mir wohnt, auch wenn ich ihr kein zu hause bieten möchte. Ich kann nur durch Wissen damit umgehen. Durch das Wissen, dass das Menschsein, welches zu den heutigen schlimmen Zuständen geführt hat, auch in mir ist. Wenn ich den Ungeist benennen kann, dann vermag ich mit ihm umz gehen. Dann vermag ich ihn in mir zu bannen. Mehr ist mir nicht gegeben.

Doch eine „konkrete Utopie“ kann ich nicht anbieten. Wenn ich eine „schöne neue Welt“ zeichnen wollte, um von dieser Blaupause aus die „Welt“ zu „verändern“, dann käme ich wieder als Eroberer. Ich kann durch Äußerung meiner selbst einen Teil dazu beitragen, dass sich etwas ändert, doch den Konsens zum gemeinsamen friedlichen Miteinander können wir eben nur - friedlich miteinander entwickeln. Eben darum vermag ich nicht zu sagen, wie Weg und Ziel für uns alle auszusehen hat. Meine Utopie ist eine sehr persönliche Utopie.

Während in dieser Art meine Gedanken mäandern, knie ich im rotbetupften Grün meines „strawberry fields“, atme den heranwehenden Duft von Lindenblüten ein und das Aroma der Walderdbeeren, lausche dem Ruf eines vorbeiziehenden Turmfalken, fühle die Sonnenstrahlen auf dem Rücken, welche mich durch das Blätterwerk der schützenden Haselzweige erreichen; meine Fingerkuppen nehmen mehr und mehr die Farbe der Beeren an, die ich pflücke. Manchmal schlecke ich sie ab, und schmecke süß.

Sonntag, 8. Juni 2025

Schwertlilien

 


Schwertlilien

Das sind die Blumen, die wie Kirchen sind.
Ein Blick in sie hinein zwingt uns zu schweigen.
Wie Weihrauch fromm berauschend strömt ihr Duft,
Wenn wir uns zu der schönen Blüte neigen.

Sie sind wie Schmetterlinge dünn und zart.
Und wissen ihr Geheimnis doch zu hüten.
Es hellen goldne Kerzen sanft den Pfad
Ins Allerheiligste der Wunderblüten.

Franzisca Stoecklin (1894 - 1931) , aus: Gedichte (Bern 1921)

„Eine Blume unter den Blumen der Mutter hieß Schwertlilie, die war ihm besonders lieb. Er hielt seine Wange an ihre hohen hellgrünen Blätter, drückte tastend seine Finger an ihre scharfen Spitzen, roch atmend an der großen wunderbaren Blüte und sah lange hinein. Da standen lange Reihen von gelben Fingern aus dem bleichbläulichen Blumenboden empor, zwischen ihnen lief ein lichter Weg hinweg und hinabwärts in den Kelch und das ferne, blaue Geheimnis der Blüte hinein. Die liebte er sehr und blickte lange hin und sah die gelben feinen Glieder bald wie einen goldenen Zaun am Königsgarten stehen, bald als doppelten Gang von schönen Traumbäumen, die kein Wind bewegt, und zwischen ihnen lief hell und von glaszarten lebendigen Adern durchzogen der geheimnisvolle Weg ins Innere. Ungeheuer dehnte die Wölbung sich auf, nach rückwärts verlor der Pfad zwischen den goldenen Bäumen sich unendlich tief in unausdenkliche Schlünde, über ihm bog sich die violette Wölbung königlich und legte zauberische dünne Schatten über das stille wartende Wunder. Anselm wußte, daß dies der Mund der Blume war, daß hinter den gelben Prachtgewächsen im blauen Schlunde ihr Herz und ihre Gedanken wohnten und daß über diesen holden, lichten, glasig geäderten Weg ihr Atem und ihre Träume aus und ein gingen.“

Hermann Hesse, aus: Iris (Märchen, S. Fischer Verlag Berlin 1919)

Das Bild ist von Robert Lewis Reid (1862 - 1929)

Samstag, 31. Mai 2025

Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche, oder: Weinbergschnecken

 


Nach dem schönen Mairegen sind bei uns wieder die Weinbergschnecken unterwegs. Dazu eine kleine Geschichte:
Ich hatte gelesen, dass Weinbergschnecken die Eier von Nacktschnecken fressen. Und an Nacktschnecken hatten wir in dem einen Schulgarten, den ich an einer Grundschule betreute, wirklich genug. Mehr als genug. Also wurde mit den Kindern beschlossen, dass wir Weinbergschnecken ansiedeln wollen.
Der Schulgarten wurde unter anderem auch von dem Kinderkochklub genutzt, den ich an dieser Schule leitete. Die Kochklubkinder hatten ihr eigenes Kräuterbeet dort. Mein Sohn, noch im Kindergartenalter, begleitete mich nachmittags ab und zu zum Kinderkochklub. Er wurde dadurch zum Mitglied ehrenhalber.
Als mein Sohn und ich an der Ostsee Urlaub machten, fanden wir heraus, dass sowohl in den dünennahen Gehölzpflanzungen als auch im nahegelegenen Wald zahlreiche Weinbergschnecken zu finden waren. Am Tage vor unserer Abreise sammelten wir also welche von diesen Schnecken, bis wir zwölf Stück zusammen hatten. Diese sollten im Schulgarten ihre Heimat finden.
Wir beide also mit einem offenem Karton voller Schnecken in den Aufzug des Appartementhauses, in dem wir wohnten, dritter Stock. Eine Dame, feinerer Art, stieg hinzu. Sie schaute die Schnecken an und fragte uns, was es damit wohl auf sich habe. Mein Sohn fühlte sich berufen, zu antworten. Er war der Meinung, diese Geschichte gehört von Anfang an erzählt. Also, dass die Nacktschnecken im Schulgarten die Kräuter auffressen, wir also nicht damit kochen können, und das die Weinbergschnecken die Eier von. . .
So begann er mit den Worten: „Wir haben einen Kinderkochklub!“ Worauf die Dame ganz blass wurde und ihn erschreckt anstarrte.

Donnerstag, 29. Mai 2025

Alma de l´Aigle: Begegnung mit Rosen

 

Königin von Dänemark 

Eines meiner Lieblingsgartenbücher ist das Buch "Begegnung mit Rosen" von Alma de l´Aigle, 1958 das erste Mal erschienen, welches der Dölling und Galitz Verlag dankenswerterweise wieder herausgebracht hat. Dieses Buch hat nichts mit unseren modernen Gartenbüchern gemein, die ja zum größten Teil aus Gartenbildern bestehen, die einen bestenfals neidisch  machen. Da hat der Fotograf dann im richtigen Augenblick auf den Auslöser gedrückt und aus einer wohl ausgesuchten Perspektive ein Foto geknipst, welches einen Idealzustand aufzeigt, der weder Trockenheit noch Regengüsse, weder Schnecken noch Unkraut kennt.

Anders die "Begegnung mit Rosen": Ein Rosenbuch, fast 340 Seiten stark, und so gut wie keine Bilder, und die wenigen vorhandenen schwarzweiß. Heute unvorstellbar, doch Alma de l´Aigle hat ganz auf die Kraft ihrer bildhaften Sprache gesetzt. Zurecht. Ich habe noch nie vorher (und nachher) eine solch sprachmächtiges Kompendium zur Beschreibung von Rosendüften gelesen, wie ihr Buch. Immer wieder eine Freude, ihre Rosenbeschreibungen zu lesen, ihre Sprachmalereien rund um Farbe und Duft. Das einzig traurige daran ist für mich, dass ich so viele der beschriebenen Sorten nicht kenne. 

Hier einige Auszüge:


Über Climbing Crimson Glory: "Und der Duft! Immer ist es der gleiche dunkle und ungetrübte Duft, zuverlässig in Sonne und Regen, vom ersten Öffnen der Knospe bis zum Verblühen. Es ist ein Duft wie Rotwein, am Abend getrunken, in stiller Ecke, wo die Hast des Tages sich legt".

Über Albertine: ". . . der Duft: zuerst ist es ein stark wellender, weicher, süßer Duft, der fast an Zentifolie gemahnt, dann wird er gebrochen canina mit etwas Nelke darin, und endlich, wenn die Aprikosenfarbe ganz dem fahlen Rosigweiß gewichen ist, wird der Duft trübe, fast dumpf."

Über die Gerberose, einer Kletterrose, die ganz oben auf meiner Wunschliste steht: "Aber - da kommt man sommers in den Garten, um zu sehen, wie die Bohnen angesetzt haben, und da wird einem plötzlich, als wenn die Fee - wie heißt sie doch noch? -  eben durch den Garten geschwebt sei und den süßesten Rosenduft hinterlassen habe. Die ganze Luft ist erfüllt von diesem Duft.

Man sieht umher und sagt: Was duftet denn hier nach Rosen? Und da steht dann die Gerberose bescheiden in der Ecke, die Duftverschwenderin. Ehe unsere Blicke auf sie fielen, war ihre Seele uns schon entgegengekommen.

Ihr Duft hat, was sie nur mit ganz wenigen Rosen teilt, eine Ausdehnungskraft und ist sogar in der Verdünnung am lieblichsten. Kommen wir aber nahe an die Blüte heran, so erscheint uns der Duft gar nicht mehr so edel, mehr kompakt als klar."

Papa Mailland 

Rosenduft hat etwas ausgleichendes, stimmungserhellendes, antidepressives. Einmal, als ich ein Rosenseminar gab, inklusive Rosenverköstigung, es gab verschiedene Gerichte mit Rose, öffnete ich morgens die Türe, um eine Teilnehmerin hinein zu lassen, die einen entschieden traurigen Eindruck machte. Dunkel gekleidet war sie, und dunkel ihre Aura, Ringe schwarz unter ihren Augen, die Mundwinkel heruntergezogen, es war, als wäre eine dunkle Wolke um sie. Für die Herstellung des Sorbets mussten die Rosenblütenblätter gemörsert werden, und binnen kurzen war der ganze Raum mit Rosenduft fast gesättigt. Es war wunderbar die Wandlung der am morgen so düsteren Erscheinung zu beobachten: Das Gesicht klarte auf, ein Strahlen gelangte in die Augen, die Teilnehmerin wurde wach, anders kann man es nicht bezeichnen, und begann mit einem Male mit einer Herzlichkeit und Wärme in der Stimme zu erzählen, als wäre es eine ganz andere Person, als die, welche des morgens in der Türe stand. Das vermag der Duft der Rose. 

Rose de Resht 

Noch einige Duftbeschreibngen von Alma de l´Aigle: "Aber der Duft ist, besonders im Aufblühen, wunderbar, ein leichter Teeduft nach chinesischem Tee, manchmal ein leicht harziger Teeduft", oder, auch einmal kritisch: "Einen scharfen unreinen Fruchtgeruch bemerkte ich, wie nach künstlicher Roter Grütze; ein andermal einen leichten Apfelduft, aber keinen Reichtum, keine Tiefe."

Eine meiner Lieblingsbeschreibungen: "Ein Duft wie Teig von Zitronenkuchen, und Backpulver ist auch schon drin." Und, für heute zum Abschluss: "Es war, als wenn man eine große Schale mit vielerlei Früchten ins Zimmer trägt: Birnen, Gravensteiner, Pfirsiche und Himbeeren, all diese Düfte wehten einem entgegen als einheitlicher, köstlicher süßer und doch erfrischender Duft."

Nach dem Lesen dieses Buches geht man an keiner Rose mehr vorbei, ohne die Nase in die Blüte zu stecken. Es war ein beliebtes Spiel von mir und meinem damals drei und vier Jahre alten Sohn, die verschiedenen Rosen zu erschnuppern, und ich sehe noch bildhaft vor mir sein Gesicht, wenn er enttäuscht war, dass eine Rose nicht duftete, oder entzückt, wenn ihm etwas ganz Besonderes entgegenwehte, wie zum Beispiel bei der dunkelroten Edelrose Papa Meilland, die einen besonders schweren und starken Duft trägt.

Zitronenjette 

Einmal traute ich meinen eigenen Sinnen nicht. Bei der gelben Edelrose mit dem Namen "Zitronenjette" nahm ich einen klaren Zitronenduft wahr. Ich dachte, ich wäre wohl suggestiv beeinflusst worden von Namen und Farbe dieser Rose. Bis ich dann in der Beschreibung las: "Duft nach Zitronen". Nun, mittlerweile vertraue ich meiner Nase und meinem Empfinden. Und bin jedesmal Mutter Natur dankbar über ihre verwchwenderische Fülle. Das Genießen von Rosenduft ist für mich jedesmal wie ein stilles Gebet.



Dienstag, 13. Mai 2025

Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche oder: Auf einem Baum ein Kuckuck saß. . .

 



Aus Dingefinders unergründlicher Plaudertasche oder: Auf einem Baum ein Kuckuck saß. . .

Heut in den frühen Morgenstunden hörte ich es laut und vernehmlich: Der Kuckuck ist wieder da. Schon vor einigen Tagen war er zu hören, etwas weiter entfernt, und ich hatte Glück: Ich hatte Geld in der Tasche. Denn es wird die Geschichte über die Generationen weiter getragen, dass, wenn im Jahre der erste Kuckucksruf gehört wird, die Geldbörse zu schütteln sei. Sofern darinnen Geld vorhanden ist. Dann werden das ganze weitere Jahr in dieser Geldbörse einige Piepen oder Moneten oder Thaler zu finden sein.

Nun bin ich nicht unbedingt leichtgläubig, oder gar abergläubisch, doch habe ich zur "Kuckuckszeit" immer etwas Geld im Säckel, Münzen tun es da am besten, die klimpern so lustig, wenn geschüttelt wird. Ihr wisst ja, wer beim ersten Kuckucksruf im Jahr Geld im Säckelhat, sollte diesen tunlichst schütteln, dann wird das gesamte weitere Jahr auch Geld darin sein. Auch wenn das Schütteln beim ersten Kuckucksruf des Jahres nicht unbedingt nützt, schaden tut es keinesfalls. Es ist also eine eher harmlose Marotte, wenn ich mich darüber freue, dass ich im richtigen Augenblick Geld dabei habe.

Manchmal reihen sich die Erinnerungen wie Perlen auf einer Kette aneinander. So ging es mir heute früh auch beim Kuckucksruf. Ich erinnerte mich an eine Begebenheit in meiner Kindheit, es müssen die Osterferien gewesen sein, denn ich war bei meiner Großmutter zu Besuch. In der Nähe ihrer Wohnung gab es den von mir so genannten Mirabellensee, ein kleines, stilles Gewässer mitten in der kleinen Stadt, um dessen Rund Mirabellenbäume wuchsen. Das war einer meiner Lieblingsorte in der kleinen Stadt, und wieder ging ich dort hin.

Unter einen dieser Mirabellenbäume standen zwei mir fremde Kinder an diesem Tag, und die beiden blickten nach oben und schüttelten dabei ihre Geldbörsen. Oben im Baum saß ein Vogel und rief laut und vernehmlich "Ruguuhruuh, ruguuhruuh". Die Kinder klärten mich auf, dass das ein Kuckuck sei, und dass daher die Geldbörsen zu schütteln seien.

Nun, ich wusste, wer dort oben "Ruguuuhruuhte", es hörte sich so ganz nach einer ordinären Stadttaube an. Doch mochte ich die beiden Kinder nicht durch mein Wissen aus ihren Träumen locken, sie waren einfach zu schön in ihrer Begeisterung. Nicht immer ist es wichtig, die "Wahrheit" zu sagen.

Als ich diesen Satz so für mich dachte, reihte sich die zweite Erinnerung ein. Da war ich schon älter, und eine liebe Freundin und ich saßen nächtens unter dem Sternenhimmel im Garten. Drinnen in dem kleinen Häuschen war Party, doch wir hatten uns in die Ruhe zurückgezogen. Zwischen all den Sternen des Himmels hindurch bewegte sich ein Stern besonders glänzend und funkelnd. "Oh, schau, ein wandernder Stern!", sagte die Freundin. Ich schaute, und ich wusste sofort: Das war ein Satellit, ödes Menschenmachwerk. Auch hier schwieg ich, denn die Freundin sah gar zu glücklich aus, ob ihrer Entdeckung.

Jahre später trafen wir uns wieder, und irgendwie und irgendwarum kam unser Gespräch auf die Begebenheit damals im Garten. Ich erzählte ihr, dass und warum ich da schwieg, und sie erzählte mir, dass sie im Moment des Aussprechens selber wusste, dass dort oben ein Satellit kreiste. Und dass sie mir sehr dankbar dafür war, dass ich sie nicht berichtigte. Denn sie wusste auch, dass ich es wusste.

Ja, Schweigen kann Gold sein. Nun ist es so, dass einige meiner Freundinnen und Freunde in unserem medialen Dschungel, in früheren, nicht digitalen Zeiten nannte man das "Blätterwald", unter einem medialen Baum stehen und in der Hoffnung auf eine goldene Zukunft verzweifelt ihre Geldbörsen schütteln. Solange oben auf dem Baum nur eine Taube oder ein Kuckuck sitzt, mag das ja ungefährlich sein, zumal, wenn es eine Friedenstaube ist.

Doch manchmal sitzt da oben auch der Geier oder gar eine Harpyie oder ein anderer Unglücksvogel, der sein "Ruguuuruuh, goldene Zukunft du, dort entlang du, ruguruuh" ruft. Ja, es kann durchaus sein, dass da unter dem falschen Baum geschüttelt wird.

Da ist es für schon schwieriger für mich, zu schweigen, doch das Sagen ist es genauso. Kaum jemand möchte darüber wissen, dass er oder sie unter dem falschen Baum dem falschen Vogel zugeschüttelt haben.

Eines weißt ich jedoch: Mit einer "Ich-weiß-es-aber-besser" - Mail, mit einem schadenfrohen "Ätsch, pass auf, dass Dir der Vogel nicht auf den Kopf scheißt" ist es nicht getan. Da braucht es die richtige Balance zwischen Abwarten und. . . ja, und persönlichem Gespräch. Dass der Mensch nicht nur hört, sondern auch sieht, spürt, fühlt, dass da jemand Besorgtes es Ernst meint. . . Da ruft der Kuckuck mir und uns zu: "Seit behutsam mit Euren Freundinnen und Freunden, kuckuck, kuckuck".

Diese Erkenntnis ist es, die ich an heutigen Morgen mitnehmen durfte. Allein schon dafür bin ich dem Kuckuck dankbar, selbst falls es mit dem Gelde mal nicht so klappen sollte. . .

Euch allen einen schönen Frühlingstag, wünscht Dingefinder Jörg


(Geschrieben 13. Mai 2020)

Samstag, 3. Mai 2025

Mynona, Robert Gernhardt über Sonette

 


In alte Schläuche taugt kein neuer Wein,
Der Dichter dichte, wie zum Beispiel Whitman;
Die Seele immer neu schafft ihre Rhythmen,
wer heut´ Sonette macht, ist nur ein Schwein.

Daher hüt` ich mich davor, allein
Ich bin darob beruhigt, denn ich glitt, wenn
Ich´s auch wollte, nicht diesen Ritt, denn
Grad zur Sonettform sag´ ich immer: nein!

Ich hoppse, wie die Muskeln mir´s diktieren,
will nicht in fremde Form gezwungen sein
und fühle mich ganz frei in meiner - meiner!

Pfui Teufel, sollt´ ich je Sonette schmieren:
Ich will ich selbst in meinen Lungen sein
Und niemals atmen in Petrarkas seiner.

Dieses Sonett von Mynona (Salomon Friedländer) dürfte wohl die Blaupause zu der etwas deftiger formulierten Sonettkritik von Robert Gernhardt sein:

Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs

Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut

hat, heute noch so'n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut

darüber, daß so'n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.

Robert Gernhardt (1937 - 2006)

Nur ließ Mynona seinem Missgefallen am Sonett noch 99 weitere Sonette folgen, wie zum Beispiel dieses hier:

Susanne wandert nach dem Badezeltchen,
Die Glieder eingehüllt in seidnen Rips,
Ein Herr (Zylinder, Lack, Monokel, Schlips)
Folgt ihr verstohlen in das Tannenwäldchen.

„Zu mager“, urteilt er. Doch durch ein Spältchen
Schielt lüstern er, ein ganz infamer Fips,
Erblickt (statt des vermeintlichen Geripps)
In Wahrheit das graziöseste Gestältchen.

Anmutig hebt sie eine Wasserkanne,
Besprudelt ihren fabelhaften Wuchs.
Er, selbstvergessen, ungeheuer hastig

(So geht es dem überreizten Manne)
Tritt fehl, versinkt fast ohne jeden Murr
In einem Sumpf (die Gegend war morastig).

Aus: Hundert Bonbons, Sonette von Mynona, München bei Georg Müller, 1918; angemerkt sei noch, dass ich persönlich Sonette sehr schätze. 

Salomon Friedländer, geboren am 4.5.1871 in Gollantsch/Posen; gestorben am 9.9.1946 in Paris. Der Sohn einer jüdischen Arztfamilie verbrachte seine Jugend in Posen und Berlin. In München studierte er ab 1894 Medizin, in Berlin Zahnmedizin und ab 1896 Philosophie (Promotion 1902 in Jena). 1906 siedelte er nach Berlin über und schrieb nun unter dem Namen Mynona (Anagramm von »anonym«) auch Gedichte und Grotesken; seine philosophischen Schriften erschienen unter dem Namen Friedlaender. 1933 emigrierte er nach Paris.

Das Foto ist aus dem Nachlass, Salomo Friedlaender Collection, Leo Baeck Institute, New York

Freitag, 4. April 2025

Elsa Asenijeff: Lasst die Bäume noch glücklich sein!

 


Lasst die Bäume noch glücklich sein!

Brecht nicht herein!
Lasst die Bäume noch glücklich sein!
Sie atmen, sesshaft in den Boden gestellt,
Eine reine, klare, sittliche Welt!
Nur wie ein Traum weht ihr Sehnen,
Hinüber und herüber
Aus tiefster Säfte getragener Traumesfieber!
Alle Jahre! alle Jahre werden sie wieder
Frisch! Voll Frühlingsbegeisterung!
Und tausend Jahre sehen sie wieder jung!
Alljährlich im frischen Knospensprung!
So wachsen sie hinein in Ätherbläue
Ohne Schuld und ohne Reue – – –
Laßt die Bäume noch glücklich sein!
Schöpfungsatmend! Lebensfeiernd! Menschenallein!

Elsa Asenijeff, geboren am 3. Januar 1867 in Wien, gestorben am 5. April 1941 in der „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ in Bräunsdorf, in die sie von den Nationalsozialisten „verbracht“ wurde, der Aktenlage nach an Lungenentzündung.

Einem zweijährigen Aufenthalt in der Heilanstalt Leipzig-Dösen, folgte 1926 die Überstellung nach Hubertusburg und schließlich als „nicht gemeingefährlich“ in das Versorgungshaus Colditz. 1933 siedelten die Nationalsozialisten diese Einrichtung als „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ nach Bräunsdorf bei Freiberg um.

Aus dieser Zeit, von ihr datiert 1938, stammt ein Manuskript mit über 200 Gedichten mit dem Titel „Bilanz der Moderne“. Diese Gedichte, inzwischen veröffentlicht, und auch Krankenakten belegen, dass sie nicht geisteskrank war. Bräunsdorf war auch keine Anstalt für Geisteskranke.

1922 meldet sie sich mit dem Buch "Aufschrei - Gedichte in freien Rhythmen" zu Wort: "Wie rett ich Dich, o Welt, vom Menschen;/ ohne ihn zu vernichten!/…./Wie halt ich Milliarden Hände!/ Die sich schändend an Dir vergehen/…/Welch ein Mund,/Ihnen zu verkünden: Das Paradies hat euch geboren,/Und die Hölle habt Ihr geboren!/ Laßt noch Sterne über ihren Dünsten leuchten,/Hell brennende Gold- und Edelsteine als Grund,/Blütenüberschütteter Boden dazwischen…." Sie appellierte an alle, sich für das Leben und den Fortbestand der Erde verantwortlich zu fühlen.

Von 1898 bis 1916 war sie Muse und Geliebte des Malers und Bildhauers Max Klinger (1857 - 1920), der sie häufig malte.

Das Bild „Stamm und Äste im Frühjahr“ (1930) ist von Leon S
pillaert (1881 - 1946)

Samstag, 15. Februar 2025

Zur Erinnerung an Christian Friedrich Wagner

 



Erinnerungen hinter der Erinnerung

Strahlt nicht auf mitunter, so zu Zeiten
Kunde her von unsern Ewigkeiten?

So urplötzlich und so blitzesschnelle
Wie die blanke Spiegelung einer Welle?

Wie die ferne Spiegelung eines bunten
Kleinen Scherbens an dem Kehricht drunten?

Wie die rasche Spiegelung einer blinden
Fensterscheibe am Gehöft dahinten?

Die metall’ne Spiegelung einer blanken
Pflugschar drüben an der Wiese Schranken?

Augenblicks mit Licht für dich übergießend,
Augenblicklich in ein Nichts zerfließend?


Kannst du wissen?

Kannst du wissen, ob von deinem Hauche
Nicht Atome sind am Rosenstrauche?
Ob die Wonnen, die dahingezogen,
Nicht als Röslein wieder angeflogen?
Ob dein einstig Kindesatemholen
Dich nicht grüßt im Duft der Nachtviolen?

Christian Friedrich Wagner, geboren am 5. August 1835 in Warmbronn, Baden-Württemberg; gestorben am 15. Februar 1918 ebenda, Kleinbauer und Dichter.

„... er fühlte die tiefe Zusammengehörigkeit zwischen Tier, Mensch und Pflanze, Stein und Stern. Und er liebte das alles. ... Er war dogmenlos fromm. ... Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß, 'Duliöh!' zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen. Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, daß wir ihn alle läsen und verehrten.“ (1919)

Kurt Tucholsky

Seine Stellung zur Kriegslyrik war eindeutig, wie aus einem Brief an Hermann Hesse hervorgeht: Nachdem er schon mehrfach „um Kriegslieder angegangen worden“ sei, schreibt er weiter: „das Heldentum des Nitroglyzerins erkennen wir [Dichter] nicht an!“ Als der befreundete Dichter und Kriegsdienstverweigerer Gusto Gräser aus Deutschland ausgewiesen werden sollte, setzte er sich für ihn ein. Der spätere Dadaist Johannes Baader besuchte ihn 1916 in Warmbronn und hielt daraufhin begeisterte Vorträge über Wagner.

Er leidet sehr unter dem fortgesetzten Kämpfen und Töten und wünscht sich, Eremit zu werden. „Ich beklage, dass es in Deutschland keine Wälder mehr gibt, wie im Mittelalter, zur Zeit der Eremiten, in die hinein ich mich verkriechen könnte, um dort nur noch mit frommen Tieren zu leben.“

„Lieber ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ“

Im Winter 1884 nutzte Wagner die freie Zeit zum Sichten seiner poetischen Versuche und stellte sein Manuskript Märchenerzähler, Bramine und Seher zusammen, das im Frühjahr 1885 in einem Stuttgarter Verlag erschien, nachdem er die Herstellungskosten des Buches übernommen hatte. In diesem Werk sah er sich selbst als Bramine, der „alles Lebendige schonend und achtend durch die Fluren wandelt“, er versicherte jedoch, nie buddhistische Schriften gelesen zu haben.

„Schaffe selbst dir einen Rosenhag“

Samstag, 8. Februar 2025

Zur Erinnerung an die Malerin Anita Rée

 



Anita Clara Rée, geboren am 9. Februar 1885 in Hamburg; gestorben am 12. Dezember 1933 in Kampen auf Sylt, Malerin der Avantgarde. Sie hatte in der Zeit der Weimarer Republik ihren künstlerischen Durchbruch. Gegen Ende der Weimarer Zeit begegnete sie vermehrt antijüdischer Hetze. Schon 1932 wurde von evangelischer Seite unter Vorwänden die Abnahme des fertigen Auftrages für ein Altartryptichon verweigert. Diese Ausgrenzung nahm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch erheblich zu. Im Dezember 1933 beging Anita Rée vereinsamt auf der Insel Sylt Suizid.

Kurz bevor sie sich das Leben nahm, schrieb sie an ihre Schwester Emilie: „Ich kann mich in so einer Welt nicht mehr zurechtfinden und habe keinen einzigen anderen Wunsch, als sie, auf die ich nicht mehr gehöre, zu verlassen. Welchen Sinn hat es – ohne Familie und ohne die einst geliebte Kunst und ohne irgendwelche Menschen – in so einer unbeschreiblichen, dem Wahnsinn verfallenen Welt weiter einsam zu vegetieren … ?

Das Bild ist ein Selbstportrait von 1915

Freitag, 7. Februar 2025

Zum Andenken an Peter Kropotkin

 



Zum Andenken an Peter Kropotkin (9. 12. 1842 - 8. 2. 1921)

Als Sohn eines Fürsten in Russland geboren, entwickelte er sich zu einem der einflussreichsten anarchistischen Schriftsteller. Zweimal wurde er zu fünf Jahren Gefängnishaft verurteilt. Das erste Mal 1874 wegen der Teilnahme an dem geheimen Diskussionskreis. Anarchistische Freunde sorgten für eine Verkürzung, indem sie ihm zur Flucht verhalfen. Das zweite Mal in Frankreich 1883 wegen Mitgliedschaft in der Internationale der Arbeiterbewegung. Für die Verkürzung dieser Strafe sorgten öffentliche Proteste renommierter Wissenschaftler.

„Ich hatte reichlich Gelegenheit, die Bauern, ihre Lebensweise und Gewohnheiten, im täglichen Leben zu beobachten, und noch mehr Gelegenheiten zu erkennen, wie wenig die staatliche Verwaltung, auch wenn sie von den besten Absichten beseelt war, ihnen zu bieten vermochte“

„In unserer Schule zielte alles darauf ab, uns zur Kriegsführung zu ertüchtigen. Wir würden aber mit derselben Begeisterung an das Trassieren einer Eisenbahn, oder Bestellen eines Feldes gegangen sein. Doch aller Drang unserer Jugend nach wirklicher Arbeit wurde mißachtet.“


Aus „Memoiren eines Revolutionärs“

Lenins Parole „Alle Macht den Räten“ war ganz im Sinne der Anarchisten. Aber Lenin vertrat sie nur aus taktischen Gründen. Tatsächlich bekämpfte er die russischen Anarchisten. In einer „Botschaft an die Arbeiter des Westens“ warnte Kropotkin:

„Ich bin der Ansicht, dass dieser Versuch, auf staatlich-zentralistischer Grundlage und unter dem eisernen Gesetz einer Parteidiktatur eine kommunistische Republik zu errichten, mit einem großen Fiasko enden wird. Russland lehrt uns, wie der Kommunismus sich nicht aufdrängen sollte.“

Die russische Übergangsregierung von 1917 will seine Popularität nutzen und bietet ihm den Posten des Bildungsministers an. Doch Kropotkin lehnt ab, weil er kein Staatsdiener sein will. Stattdessen macht er sich unter den aufstrebenden Bolschewiken unbeliebt. Er beklagt die Entwicklung des Kommunismus unter Lenin, prangert die Zentralisierung des Staates und das brutale Vorgehen gegen Dissidenten an.

Während zahlreiche seiner Mitstreiter in dieser Zeit politischen Säuberungen zum Opfer fallen, bleibt Kropotkin trotz seiner öffentlichen Kritik unbehelligt. Wahrscheinlich rettet ihm seine Beliebtheit in der Bevölkerung das Leben. So ist ihm ein natürlicher Tod vergönnt. Er stirbt am 8. Februar 1921 in Dmitrow bei Moskau im Alter von 78 Jahren.

Im Jahr 1892 erscheint „Die Eroberung des Brotes“, in dem er die Abschaffung des Staates und der Lohnarbeit fordert. Darin versucht er, die anarchistische Theorie nicht wirtschaftlich, sondern naturwissenschaftlich zu begründen. Die Grundlagen liefern ihm seine Beobachtungen unter den Einheimischen Sibiriens und deren Selbstorganisation. Seine zentrale Forderung lautet: „Wohlstand für alle!“

“Durch erhebliche Vorurteile, durch falsche Erziehung und Belehrung gewöhnt, überall nur die Regierung, die Gesetzgebung und die Magistratur zu sehen, sind wir zu dem Glauben gekommen, dass die Menschen sich wie wilde Tiere zerreißen würden, wo der Polizist nicht mehr sein Auge auf uns gerichtet hält, (…).Und doch stehen wir (…) tausend und abertausend menschlichen Gruppierungen gegenüber, die sich in freier Weise gebildet haben und bilden- OHNE die Intervention eines Gesetzes, und die unendlich viel Höheres vollbringen, als solche, die unter gouvernementale Oberherrschaft zu Stande kommen. (…)”

Aus: Die freie Vereinbarung (Aufsatz von 1892)

Im Jahr 1902 vollendet er sein wohl bedeutendstes Buch: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, seine Antwort auf den Sozialdarwinismus. Den damals weit verbreiteten Glauben an einen natürlich bedingten „Kampf ums Dasein“ sieht er als eine Drohung gegen Schwächere an. „Für die fortschrittliche Entwicklung der Art“, schreibt Kropotkin, sei die „gegenseitige Hilfe“ hingegen „weit wichtiger“.

„Die gegenseitige Hilfe ist ebensogut ein Naturgesetz wie der gegenseitige Kampf, für die progressive Entwicklung der Species (Art) ist er aber von viel größerer Wichtigkeit als der Kampf.“ Im Oktober 1902 erschien das Buch in London und wurde kurz nach der Publikation in verschiedene Sprachen übersetzt. 1904 wurde das Werk erstmals von Gustav Landauer ins Deutsche übersetzt. Ich selber habe es in meinem Bestand und lese immer wieder einmal darin. „Gegenseitige Hilfe“ als Motor der Evolution, was für ein freundlicher Gedanke. Obwohl das Buch nach seiner Publikation nur auf mäßiges Interesse in wissenschaftlichen Kreisen stieß, wurde es später bei der Reinterpretation von Darwins Thesen wiederentdeckt und beeinflusste moderne Naturwissenschaftler wie Imanishi Kinii, Ashley Montagu und Adolf Portmann. Nicht zuletzt in dem Bestseller „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“ von Rutger Bregman (die deutsche Übersetzung erschien 2020 bei Rowohlt) taucht er wieder auf.



Dienstag, 4. Februar 2025

Traumspur - Dritter Teil: Die drei Nächte der Kalindi

 

Die drei Nächte der Kalindi

Als er in der Dämmerung des Morgens die Sichel des beginnenden Mondes wieder sah, schmal und zäh wie ein scharfes Laubblatt der Seggen auf den struppigen Wiesen, da wusste er um das Ende der drei Nächte der Kalindi, welche ihn an den Scheitelpunkt des Sommers führten. Groß stand die Sichel der Göttin über den in Dunst gekleideten Silhouetten der Höhen.

So schlug er zurück jene Decke aus wärmender Wolle, gefärbt in den Farben der Erde, und er richtete sich auf von der rauhen Schlafstätte. So stand er im taufeuchten Morgen und gedachte des ersten Tages, gedachte der ersten Nacht. Der erste Tag auf dem Lager, des Sommers drückende Schwüle ringsum, so fremd ihm die Welt. Vielleicht war es ein Krankenlager, denn Schmerzen begleiteten ihn, Schmerzen in allem, was sein Inneres war. Kaum zu regen wagte er eines seiner Glieder, denn Schmerz war alles in ihm, und Lähmung. So tauchte er ein in die beginnende Nacht.

Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab. Es waren die Träume vom grausamen Krieg, es waren die Träume von grausamer Folter, die dunklen Kommandos, deren Krieger Totenköpfe am Revers führen, die dunklen Kommandos, sie zogen durch seine Träume, und bleich die verkrümmten Körper im aschfahlen Licht eines anderen Mondes, bleich all der Tod, welche die dunklen Kommandos hinter sich ließen. Und einjede Folter traf den eigenen Körper, denn dieser war schutzlos in der dräuenden Nacht. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.

„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der schwarz gefiederte Morgenvogel sein Lied:

„Nun beginnt deine Zeit.
Sei Bewahrer des Lachens,
bewahre des Lebens Heiterkeit.

Und bedenke auch dies:
Es hat seine Gründe,
dass die Stadt dich verstieß.“

Und er gedachte des zweiten Tages auf dem Lager, des Sommers drückende Schwüle ringsum, so fremd ihm die Welt. So ferne gerückt in den Schleiern des strömenden Regens. Drückender Dunst legte sich über sein Krankenlager, und die Schmerzen begleiteten ihn. Schwer lastete aller Schmerz auf ihm, regungslos sein Körper auf der Lagerstatt - „Schmerz, das macht, dir rückt die Welt ferne“, klangen die Worte der Jugend in ihm. So tauchte er ein in die beginnende Nacht. Und es war seine zweite Nacht.

Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab. Es waren die Träume vom grausamen Krieg, in dessen Bomben die Körper von Kindern zerbarsten unter blutrotem Himmel der kreischenden Raketen, der donnernden Sprengungen, in denen die heimeligen Häuser zerfielen, in denen alle Heimstatt und Heimat verging. Währendessen erstanden sie neu, die dunklen Kommandos, deren Krieger Totenköpfe am Revers führten, und die dunklen Kommandos, sie zogen durch seine Träume. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.

„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der grau gefiederte Morgenvogel sein Lied:

„Nun beginnt deine Zeit.
Sei Bewahrer des Herdes,
bewahre des Lebens Heiterkeit.

Und bedenke auch dies:
Es hat seine Gründe,
dass die Stadt dich verstieß.“

Und so begann ein weiterer Tag auf dem Lager, und es war der dritte Tag, der begann. Und er wollte lesen in den Seiten der uralten Bücher, doch verschwommen die Zeilen vor seinen Augen, und die Buchstaben begannen zu tanzen, und sie tanzten in die Nebel. Und sie tanzten in die Nacht, und es war seine dritte Nacht.

Es war Kalindi, die Nachtweberin, welche ihm die dunklen Träume eingab, und so kreiste im Dunkel der dunkelste Stern aller, paradiesisch einst, nun Behausung der gefallenen Engel, und es wuchsen die düsteren Himmel, und es wuchsen die grauen Wüsten, der Staub des Zerfalles legte sich über all das pochende Grün. Und auch in ihm wuchsen sie, die düsteren Himmel, die grauen Wüsten, die Lagen des Staubs des Zerfalles, denn seine Seele war eins mit diesem Stern. Und es wuchsen die düsteren Ahnungen in seinen Träumen. Es gab keinen Ausweg, denn den Tod.

„Wer an Stelle der Todesmacht tötet, wird töten die eigene Seele“, so flüsterte Kalindi, die Nachtweberin, in sein lauschendes Ohr. Und so endete auch diese Nacht, und so sang der weiß gefiederte Morgenvogel sein Lied:

„Nun beginnt deine Zeit.
Sei Bewahrer der Gärten,
bewahre des Lebens Heiterkeit.

Und bedenke auch dies:
Es hat seine Gründe,
dass die Stadt dich verstieß.“

Im Lichte der aufgehenden Sonne sah er: Die Brombeeren reiften heran.


Veröffentlicht in der Anthologie "TrümmerSeele" hrsg. von St. Mattner & Michael Pilath, illustriert von Peter Starcke, Sternenblick e. V. Berlin, Dezember 2015


Im Frieden der wilden Dinge

In manchen Nächten wächst eine große Trauer in mir,
mich lässt der kleinste Laut vor den Fenstern aufschrecken,
und die Sorge um unser aller Leben in dieser Welt nimmt überhand.
Dann stehe ich auf von meiner Bettstatt und folge den Wegen
in die nahegelegenen Wälder, wo die wilden Enten und die
schweigsamen Reiher wohnen an den stillen Waldweihern.
Wesen, die ihr Sein nicht in vorauseilender Trauer leben.
Über mir das sanfte Blinzeln der Sterne in ruhender Nacht,
besänftigend mit ihrem Licht. So ruhe ich eine Zeit
in der Gnade einer älteren Erde, und befreit von der
eben noch so übermächtigen Furcht lenke ich meine
Wege wieder heimwärts.

Eine Nachdichtung eines Gedichtes von Wendell Barry. Ich schreibe mit Absicht Nachdichtung und nicht Übersetzung, denn ich bin der Meinung, dass sich der gesamte lyrische Gehalt eines Gedichtes nicht eins zu eins übersetzen lässt, allenfalls nachempfinden.

The Peace of Wild Things

When despair for the world grows in me
and I wake in the night at the least sound
in fear of what my life and my children´s lives may be,
I go and lie down where the wood drake
rests in his beauty on the water, and the great heron feeds.
I come into the peace of wild things
who do not tax their lives with forethought
of grief. I come into the presence of still water.
And I feel above me the day-blind stars
waiting with their light. For a time
I rest in the grace of the world, and I am free.

Aus: Wendell Berry - The Peace of Wild Things and other poems, Penguin 2018 Copyright by Wendell Berry 2012

Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa so: 

Im Frieden der wilden Dinge
Wenn die Verzweiflung um die Welt in mir wächst,
und ich wache in der Nacht beim geringsten Laut auf,
in Furcht davor, was aus meinem Leben und dem meiner Kinder werden mag,
dann gehe ich, lasse mich dort nieder, wo die Brautente
ruht in ihrer Schönheit auf dem Wasser, wo der Große Reiher sich labt.
Ich komme in den Frieden der wilden Dinge,
die ihr Sein nicht in vorauseilender Trauer leben.
Ich komme in die Gegenwart von stillem Wasser
und ich spüre über mir die tagblinden Sterne,
wartend mit ihrem Licht. Eine Zeit lang
ruhe ich in der Gnade der Welt, und ich bin frei.

Wendell Berry, geboren am 5. August 1934 in Henry County, Kentucky ist ein US-amerikanischer Essayist, Dichter, Romancier, Umweltaktivist und Landwirt. Ihn verbindet eine langjährige Brieffreundschaft mit dem Lyriker und Essayisten Gary Snyder. Wendell Berry engagiert sich für ökologischen Landbau und dafür, den Beitrag, den eine landwirtschaftliche Kultur mit kleinbäuerlichen Strukturen zur Kultur als Ganzer leisten kann, ins Bewusstsein zu rufen. Er ist ein dezidierter Gegner von agrarindustrieller Bodenbewirtschaftung, monokulturellem Anbau, Massentierhaltung und Atomindustrie.


Musik: Dingefinder, Rhythmusgitarre, Querflöte; Verlah Wo. Klavier


Donnerstag, 30. Januar 2025

Klarinetta Klaball: Ick bin in Tempelhof jeboren und andere

 



Ick bin in Tempelhof jeboren

Ick bin in Tempelhof jeboren
Der Flieder wächst mich aus die Ohren.
In meinem Maule grast die Kuh.

Ick geh zuweilen sehr und schwanger
Auf einem Blumen-i-o-anger
Mein Vater, was sagst Du dazu?

Wir gleichen sehr den Baletteusen,
Pleureusen – Dösen – Schnösen – lösen.
Gewollt zu haben – selig sein.

Verehrte Herrn, verehrte Damen,
Die um mich hören herzu kamen
Dies widmet der Gesangverein.

Und Jungfraun kamen wunderbar
Geschmeide scheidegelb im Haar
Mit schlankgestielten Lilien.

Der Kakagei und Papadu
Die sahen auch dabei dazu
Und kamen aus Brasilien.

Klarinetta Klaball (Hugo Ball) 

Unter dem Pseudonym Klarinetta Klaball erschienen 1914 gemeinsame Gedichte von Hugo Ball (1886 - 1927), Klabund (Alfred Henschke 1890 - 1928) und Marietta di Monaco (Maria Kirndörfer 1893 - 1981), der Freundin von Walter Serner. Die drei trugen auch im Münchner Simpl ein Gemeinschaftsgedicht vor, mit ähnlichem Text:

Ich bin in Tempelhof geboren
Der Flieder wächst mich aus die Ohren
In meinem Munde grast die Kuh. . .
O Edmund steck den Degen ein.
Was denkst du dir denn dadabei´n
Des Morgens um halb finfe?
Er sagte nichts mehr dadarauf.
Er stützt sich auf dem Degenknauf
Und macht sich auf die Strümpfe.

Dieser Text wird von einigen als Vorgriff auf den Dada gewertet, Marietta von Monaco beteiligte sich 1916 auch an den Veranstaltungen im legendären Cabaret Voltaire in Zürich. Nach dieser Lesart wären „dadabei`n“ und „dadarauf“ die ersten Erwähnungen von Dada. Doch vielleicht war das doch nur einfach ein Ulk, was Dada in Zürich keineswegs sein wollte.

Das Bild ist von John Lavery-Hazel (1856 - 1941)

Hätte da noch eine Version von letzterem, gefunden im Projekt Gutenberg:

O, Großpapa, o Graspopo
Wir sind bald wie, wir sind bald wo?
Wir sind warum? Weswegen?
Der Eduard zieht den Degen.
O Eduard steck den Degen ein.
Was denkst Du dir denn dadabei'n
Des morgens um halb fünfe?
Er sagte nichts mehr dadarauf.
Er stützt sich auf den Degenknauf
Und macht sich auf die Strümpfe.

Klarinetta Klaball


Marietta von Monaco über sich selber:

Eine Autobiographie

Manchmal weine ich keine Tränen.
Ich berausche mich täglich.
Gerne mache ich sündige Spiele.
Ich bin ein Knäuel von Sinnlichkeit.
Mein Kopf wird herumgeworfen.
Meine guten Gefühle werden von brutalen Händen erdrückt.
Ich schiele.
Ich rezitiere lyrische Anthologie.
Nachts tanze und schreie ich durch die Straßen.
Mein Mund ist ein Strich.
Meine Augen sind manchmal groß und leuchtend.
Mein Nacken ist ausrasiert.
Ich habe schlanke Beine.
Jeder Briefträger ist mein Vater.
In meinen Haaren beseitigt man den Schweiß der Hände –
Aber in der Sonne sind sie fließendes Gold.
Ich bin Marietta.

München, Frühling 1913


Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!
Und halt ihn fest mit deinem ganzen Herzen,
Denn wer ihn nicht mehr halten kann,
Der kann ihn auch verschmerzen.
Verschmerzen kann er ihn jedoch
Bei Pommern und in Pasing.
Man fing ihn ein bei Biberoch
Bei Velhagen und Klasing.

Klarinetta Klaball 


O Marietta-Kripistika

O Marietta-Kripistika!
Thronkanapee im Serail von Sevilla!
Du bist wertvoller als die juchzende
Säubande von Hosenträgern,
Deren Rüssel
An deinem Bauch
Zu schnuppern
Gewohnt sein pflegt.

Hugo Ball

Freitag, 24. Januar 2025

Zum Andenken an Maria Luiko

 



Am 25. Januar 1904 wurde in München die Malerin Marie Luise Cohn, bekannt unter ihrem Künstlernamen Maria Luiko geboren.

Marie Luise Kohn studierte ab 1923 acht Semester an der Akademie der Bildenden Künste München und parallel dazu an der Münchner Kunstgewerbeschule, wo sie eine Zeitlang auch ihr Atelier hatte. 1924 hatte sie ihre erste Ausstellungsbeteiligung im Münchener Glaspalast, es folgten regelmäßig Beteiligungen bis zum Jahr 1931 und nach dem Brand des Glaspalastes 1931 bei den Münchener Juryfreien.

Marie Luise Kohn nahm den Künstlernamen Maria Luiko an und war vielfältig bildnerisch tätig. Sie war mit Zeichnungen, Aquarellen und Ölbildern und auch Scherenschnitten, Lithographien, Holzschnitten und Linoldrucken auf lokalen Ausstellungen vertreten. Außerdem schuf sie Buchillustrationen, so 1923 zu Ernst Tollers Hinkemann und zu Shalom Ben-Chorins 1934 gedrucktem Gedichtband Die Lieder des ewigen Brunnens.

Sie gehörte zum Künstlerkreis um den Theaterwissenschaftler Arthur Kutscher und war Mitglied mehrerer Künstlervereinigungen.

Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurden die Juden aus dem öffentlichen Kunstleben verdrängt und mit einem Ausstellungsverbot belegt. So wurde Maria Luiko aus dem Reichsverband bildender Künstler Deutschlands ausgeschlossen. Sie wirkte im Rahmen der eingeschränkten Möglichkeiten im Kulturprogramm des Jüdischen Kulturbundes, Ortsgruppe München, mit und stellte ihr Atelier für Ausstellungen und Theaterproben zur Verfügung. Mit eigenen Werken nahm sie an verschiedenen Ausstellungen teil, so an einer „Grafischen Ausstellung bayerischer jüdischer Künstler“ 1934 in München. 1935/36 entwarf sie das Bühnenbild für das Schauspiel „Sonkin und der Haupttreffer“ von Semen Juschkewitsch. Im April 1936 nahm sie an der „Reichsausstellung Jüdischer Künstler“ im Berliner Jüdischen Museum teil.

Zum 1. Januar 1936 wurde allen jüdischen Künstlern untersagt, einen Künstlernamen zu führen.

Luko versuchte ins Ausland zu reisen, um eine Emigration vorzubereiten, sie erhielt aber von den Behörden keinen Reisepass. Informationen über den weiteren Lebensweg fehlen. Luiko wurde am 20. November 1941 in einem NS-Deportationszug mit 998 weiteren als Juden verfolgten und gefangenen Personen von München aus, zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, „in den Osten“ deportiert. Der ursprünglich für Riga bestimmte Personenzug wurde von der SS nach Kowno (Kaunas) umgeleitet. Am 25. November 1941 wurden alle Insassen im Fort IX von Kaunas durch die dortige Einsatzgruppe ermordet. (Wiki)

Weihnachtsmarkt 1929



Menschengruppe vor der Deportation, Holzschnitt um 1938



Gedenkalbum: Die jüdische Künstlerin Maria Luiko (1904–1941)




Sonntag, 19. Januar 2025

Maria Leitner: Candy-Girl im Schlaraffenland

 




Candy-Girl im Schlaraffenland

Dort, wo die Ananas-, Mandel- und Rosinenberge stehen, Schokoladenflüsse unversiegbar quellen, Honig und Sirup sich in Riesenfässern türmen, dort, sollte man meinen, müßte es schön sein, zu leben, vielleicht sogar zu arbeiten.

Da sich das Schlaraffenland heutzutage nur in einer Schokoladenfabrik befinden kann, scheint die Sache auch gar nicht aussichtslos. Man geht durch das Tor eines Wolkenkratzers, fragt den Portier nach der Arbeiterannahmestelle, steht bescheiden vor dem Personalverwalter und bekommt nach einigem Warten einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem der künftige Arbeitsplatz verzeichnet ist. Kein Wort wird gefragt, man kann gleich anfangen zu arbeiten. Fein, daß man ins Schlaraffenland gelangen kann.

Ich bekomme von der »nurse«, halb Aufseherin, halb Pflegerin, die Uniform und einen Schrank zugewiesen. Sie sagt mir, es sei besser, die Uniform über die Kleider anzuziehen, dann friere man weniger.

Aber heute ist doch ein furchtbar heißer Tag, denke ich, doch man ist eben im Schlaraffenland, man soll sich über nichts wundern. Ich gehe die Treppe hinauf zu meinem Arbeitsplatz.

Ich betrete einen riesigen Arbeitssaal. Sofort bekomme ich kalte Füße. Eine ältere Dame, wie sich später herausstellte, die »forelady«, die Vorarbeiterin, flattert mir entgegen, in einem weißen Kleid mit einem Spitzenhäubchen angetan. Sie hat eine rote, erfrorene Nase und fragt mich nach meinen Personalien. Auch teilt sie mir die Arbeitsbedingungen mit, 24 Cent die Stunde. In der Saison kann man Überstunden machen.

Die Arbeiterinnen blicken gar nicht auf. Sie sind in Wolltücher, Wintermäntel, Sweaters gehüllt. Die Luft ist trotz der Kälte schlecht, die Fenster fest verschlossen.

Das kokette Spitzenhäubchen: »Wenn Sie eine Minute zu spät kommen, wird eine halbe Stunde abgezogen. Die Kontrollkarte muß viermal, immer im Arbeitssaal, abgestempelt werden. Morgens, bei Beginn und Ende der Mittagspause und abends, wenn man nach Hause geht.«

Ich glaube, ich habe auch schon eine rote Nase. Freilich, es muß kalt sein, damit die Bonbons nicht zerschmelzen. Daran hätte ich gleich denken müssen.

Ich werde an einen Tisch gesetzt. Plötzlich bin ich umgeben von Kartons, Seidenpapier, Stanniol. Immer neue Platten voll Bonbons werden vor mich hingeschoben. Ich muß packen. Das Spitzenhäubchen erklärt: »Jedes Stück umdrehen und genau prüfen. Die schlecht gelungenen müssen beiseite gelegt werden mit der Nummer, die auf jede Platte aufgeklebt ist. Die soll man nicht essen. Die Arbeit der Hersteller muß geprüft werden.«

Ich fange an, gehorsam zu drehen, zu prüfen, zu packen. »Nur mit den Fingerspitzen, nur mit den Fingerspitzen«, sagt noch das Spitzenhäubchen und entschwindet.

Hier mache ich die Bekanntschaft mit Nummer 68, die nicht etwa ich bin. Ich repräsentiere eine bedeutend höhere Nummer, bin Viervierzwodrei.

Bald stellte sich heraus, daß die Plattennummern immer besondere Individualitäten enthüllten. Da war z. B. die tadellose Nummer 23, die korrekte 25, es war ein Vergnügen, sie zu packen; da war die etwas zerfahrene Nummer 35 und dann also auch die Nummer 68.

Ich weiß nicht, ob ich deshalb Sympathien für sie empfand, weil ich fühlte, daß ich genau so schiefe, zerquollene Bonbons mit so fleckigem Guß herstellen würde, wenn mich das Schicksal noch ausersehen sollte, Pralinen zu machen. Jedenfalls versuchte ich, soweit es in meiner Macht stand, Nummer 68 zu retten. Ich aß die verdorbenen Stücke, sie waren schlecht, dafür aber verboten, ich verlor die Zettelchen mit der Nummer, ich schmuggelte sogar einige Stücke der tadellosen Nummer 23 und der korrekten Nummer 25 zu, denen das doch nichts schaden kann.

Am nächsten Tag, welches Wunder, übertrifft Nummer 68 an Korrektheit sogar die Nummern 23 und 25. Ich ahnte gleich Böses. Und wirklich, als ich mich nach Nummer 68 erkundigte, mußte ich mich von der Zwecklosigkeit jeder individuellen Hilfsaktion überzeugen. Denn man sagte mir: »Meinen Sie die alte oder die neue. Denn seit heute ist eine andere da. Die alte ist gestern Knall und Fall entlassen worden.«

Neben mir sitzt ein Mädchen, dem man auch anmerkt, daß es ein Neuling ist. In der ganzen Umgebung sind wir die einzigen, die sich für die Erzeugnisse Schlaraffenlands interessieren. Wir kosten alles, kritisieren, haben Vorlieben. Wenn das Spitzenhäubchen entschwindet, machen wir Rundgänge in unserem Arbeitssaal. Wir gehen an den Frauen vorbei, die Datteln entkernen, Nüsse öffnen, Ananas zerschneiden. Jedesmal, wenn wir vorbeigehen, langen wir in die Körbe und essen. Erschrocken sehen wir uns um, aber nichts geschieht. Es ist erlaubt. Die Frauen sehen uns augenzwinkernd nach. Sie scheinen sich über uns zu amüsieren.

Während ich packte, flog mir ein Stück saure Gurke zu. Eine Arbeiterin aus der alten Garde frühstückte. Ich lachte.

Aber am dritten Tag brachte ich mir Essigzwiebeln zum Frühstück mit. Meine Nachbarin schien sich zu freuen, als ich ihr auch welche anbot.

Am dritten Tag mußte ich meinen bequemen Platz, der mir allerdings erst später so bequem erschien, verlassen und wurde vom Spitzenhäubchen zu den Maschinenpackern kommandiert. Das Arbeitssystem ist hier ganz ähnlich wie das berühmte laufende Band. Quer durch den Saal laufen die Maschinen, vor denen die Arbeiterinnen packen. Eine Glaswand, mit je einer Öffnung vor jeder Maschine, trennt uns von den Pralinenherstellern. Hier gibt es kein gemütliches Schlendern mehr, die Maschinen schreiben die Bewegungen der Packerinnen wie der Bonbonhersteller vor.

Man steht hier in der eisigen Kälte acht oder manchmal auch neun Stunden lang, ohne einen Augenblick sich auszuruhen oder sitzen zu können. Das Spitzenhäubchen erscheint immerfort, umkreist uns und schreit uns ständig wie ein Phonograph in die Ohren: »Mädels, eure Hände müssen flinker werden, Mädels, eure Hände müssen flinker werden«, immer ohne Unterlaß. So sieht es aus im Schlaraffenland.

Und trotzdem geht es vor unserer Maschine sehr lebhaft, ja lustig zu. Da ist zum Beispiel Giulietta, die schöne Italienerin. Sie kann nicht nur schnell packen, sondern gleichzeitig auch Charleston tanzen und singen: »Yes Sir, she is my baby.«

Dann sind die beiden Freundinnen da, die sich ständig zanken und sich gegenseitig, zur allgemeinen Freude, alte Sünden vorwerfen. Und dann haben wir Boccaccio hier, freilich einen weiblichen Boccaccio, und schon das allein muß die Arbeit unter den Maschinenpackern erträglicher machen.

Denn Boccaccio ist eine Nummer ganz für sich. Von ungewöhnlicher Reizlosigkeit. Trägt eine Brille auf einer spitzen Nase, und hinter dieser Brille schielen farblose Augen. Die Haut ist fleckig, die Haare strähnig. Doch welche üppige, strotzende Phantasie verbirgt dieses trockene Äußere.

Boccaccio ist natürlich italienischer Abstammung, wohnhaft und aufgewachsen in der Mulberry Street, dem schmutzigsten, dichtestbewohnten Teil des italienischen Viertels. Dort, wo die Nachbarn keine Geheimnisse voreinander haben können, wo die Wände überhaupt nur aus Ohren bestehen, wo mehrere Familien in einem Zimmer wohnen.

Und Boccaccio hat immer alles gesehen und gehört. Und Boccaccio erzählt, fast ohne Unterlaß, ohne daß man darum bitten muß. In einem trockenen, dozierenden Ton berichtet sie von unwahrscheinlichsten Familienschicksalen, haarsträubenden Liebesgeschichten, Großmütter und Kinder, Chinesen und Neger kommen da vor, oft ist auch Boccaccio selbst die Heldin. Die Mädchen biegen sich vor Lachen.

Nur eine lacht nie, spricht wenig. Die Bleiche. Sie stöhnt ständig: »Ach, wie meine Hände frieren«, »Oh, mein Rücken.«

Die Schokolade strömt aus der Maschine ohne Unterlaß. Immer die gleichen Bewegungen. Wenn eine neue Art Schokolade aus der Maschine kommt, seufzt die Bleiche: »Ach, schrecklich, diese ewige Abwechslung.«

»Will jemand ›dipper‹ werden?«

»Wollen Sie, girl«, fragt mich das Spitzenhäubchen, und ich nicke freudig ja. Die »dipper« arbeiten sitzend. Sie überziehen Pralinen mit Schokolade.

»Sie werden jetzt ein ›trade‹ (Handwerk) lernen«, sagt mir die Dicke, die mich unterweisen soll.

»Yes, m'am«, flüstere ich ehrfürchtig, denn ich weiß, daß ein »trade« Karriere bedeutet.

Meine Nachbarin teilt mir mit, daß diese Woche achtundzwanzig Dollar in ihrem Lohnumschlag waren. »Das ist was anderes als die zehn Dollar der Packer.«

Als die Dicke weggeht, frage ich meine Nachbarin, seit wann sie »dipper« ist.

»Seit acht Jahren. Ja, in der ersten Zeit kann man das auch nicht verdienen.«

Ich sitze nun vor einem großen Kessel voll Schokolade, halte eine Holzkelle in der Hand und rühre fleißig. Wenn die Dicke nicht wäre, könnte ich mich jetzt Kindheitserinnerungen hingeben und denken: Schlaraffenland.

Aber die Dicke erinnert mich mit allem Nachdruck an den Ernst des Lebens. »Immer aufpassen, daß die Schokolade schön flüssig bleibt, wenn sich kleine, harte Stücke bilden, müssen sie sofort herausgenommen werden.«

Aber wieso gefriert nicht die Schokolade sofort in dem kalten Raum? Wie wird sie überhaupt flüssig erhalten?

Auf eine sehr einfache und sinnreiche Art. Unter jedem Schokoladenkessel ist eine stark isolierte elektrische Leitung, die nach Bedarf eingeschaltet werden kann. Sobald die Schokolade ihren gleichmäßigen Glanz zu verlieren beginnt, wird die elektrische Heizung unter dem Kessel angeknipst, muß aber dann immer wieder ausgeschaltet werden, denn die Schokolade darf nicht heiß werden.

Die »dipper« sitzen mit aufgestülpten Ärmeln vor den Kesseln, die Arme mit einem Schokoladenguß überzogen, und tauchen Cremefüllungen, Datteln, Ananas in die Schokolade. Jede Sorte muß auf eine besondere Art gedreht werden, muß eine besondere Größe und Form haben.

Gerade um die Zeit, wenn wir die Fabrik verlassen, paradiert vor uns der Autobus einer anderen großen Schokoladenfabrik, mit den verlockendsten Aufschriften: »Wir machen die beste Schokolade der Welt«, »Wir stellen Arbeiterinnen unter den besten Bedingungen ein«, »Wir befördern unsere Arbeiterinnen frei im Auto zur Arbeitsstelle« (merkwürdig nur, daß nie jemand in diesem Autobus sitzt).

Aber Giulietta weiß etwas Besseres. »Habt ihr denn nicht das Auto der Würfelzucker-Gesellschaft gesehen, mit dem Jazz-Orchester. Das scheint ein lustiges Haus zu sein.«

Und schon tanzt sie wieder Charleston und singt: »No Sir, don't say may be.«

Die Bleiche aber sagt: »Ich hasse jede Abwechslung. Dann sieht man erst, wie schrecklich gleich alles ist.«

Aus: Eine Frau reist durch die Welt. Erstauflage. Agis, Berlin / Wien 1932 


Maria Leitner, geboren am 19. Januar 1892 in Varaždin, Österreich-Ungarn; gestorben am 14. März 1942 in Marseille, deutschsprachige ungarische Journalistin und Schriftstellerin.

Sie studierte danach in Wien und Berlin Kunstgeschichte und absolvierte ein Praktikum in der Berliner Galerie von Paul Cassirer, Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges berichtete sie unter anderem als Korrespondentin für Budapester Zeitungen aus Stockholm.

Während des Krieges schlossen sich große Teile der revolutionär gesinnten ungarischen Jugend der antimilitaristischen Bewegung an. Maria Leitner und ihre Brüder Johann (auch: János Lékai / John Lassen. 1895–1925) und Max / Maximilian (auch: Miksa 1892–1942?), beteiligten sich aktiv beim sozialistisch-pazifistisch ausgerichteten Galilei-Zirkel.

1925 reiste sie im Auftrag des Ullstein Verlages in die USA. Drei Jahre lang durchquerte sie den amerikanischen Kontinent von New York über Massachusetts, Pennsylvania, Virginia, Georgia, Alabama, Florida, bis hin zu Venezuela, Britisch- und Französisch-Guayana und den karibischen Inseln Haïti, Curaçao, sowie Aruba. Sie nahm 80 verschiedene Stellen an, um aus eigener Erfahrung über die Arbeitsbedingungen der Menschen zu berichten. Sie arbeitete als Dienstmädchen und Zigarrendreherin, besuchte Zuchthäuser und südamerikanische Diamantenminen. Im Mittelpunkt ihrer sozialkritischen Reportagen stand das Amerika der kleinen Leute auf der Kehrseite des American Dream.

1930 erschien ihr erster sozialkritischer Roman Hotel Amerika im Neuen Deutschen Verlag. Eingebettet in eine Kriminalhandlung, wird die Geschichte des irischen Wäschemädchens Shirley O’Brien thematisiert, parallel zu den sozialen Missständen, unter denen die Arbeiterinnen und Arbeiter in einem New Yorker Luxushotel litten.

Im Rahmen antifaschistischer Aktionen ging Maria Leitner 1932 auf Entdeckungsfahrt durch Deutschland und berichtete für die Welt am Abend und die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung über die soziale und politische Situation in kleinen Städten und Dörfern, in denen bereits die Nationalsozialisten die Politik bestimmten.

Im Mai 1940 wurde Maria Leitner von den französischen Behörden zusammen mit anderen deutschen Exilanten im Lager Camp de Gurs in den französischen Pyrenäen interniert. Ihr gelang die Flucht über Toulouse nach Marseille, wo sie in extrem ärmlichen Verhältnissen im Untergrund lebte. Sie versuchte vergeblich, durch Vermittlung der Hilfsorganisationen „American Guild for German Cultural Freedom“, des Emergency Rescue Committees (ERC) von Varian Fry sowie des amerikanischen Schriftstellers Theodore Dreiser ein Visum für die Vereinigten Staaten zu erlangen. Am 4. März 1941 schrieb sie ihren vermutlich letzten Hilferuf. Im Frühjahr 1941 wurde sie noch einmal von Luise Kraushaar in Toulouse sowie von Anna Seghers und Alexander Abusch in Marseille gesehen. Jetzt ist belegbar, dass die Mitarbeiter des Emergency Rescue Committee und der American Guild for Cultural Freedom bis zuletzt bemüht waren, ein Visum für sie zu beschaffen. Sie starb am 14. März 1942 in Marseille in der Psychiatrie am Hungertod. (Wiki)