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Sonntag, 29. Juni 2025

Hugo Sonnenschein: Noch einmal rufe ich dich an. . .

 


Noch einmal rufe ich dich an weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, dir Kamerad, dir Freund, die Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch!

Erkennst du mich? Ja, ich bin der, welcher von Osten kommt, mit dem Stern im Haar, immer wieder von Osten kommt wie ein Bettler, aber geschmückt mit Löwenzahn durch die Straßen der Stadt wie ein Narr. Sonka. Weißt du nicht mehr, ich ruhte sehr müde am Neptunsbrunnen in Florenz und Kinder brachten mir Fische und Brot, weil ich hungrig war, und alle Bettler der Gegend aßen von meinem Hunger und wurden satt ohne u betteln.

Kennst du mich nicht? Verblaßte das Wunder in deinem Herzen, das geschah, als du deinen wütenden Hund auf mich hetztes: der sprang mich an mit gefletschten Zähnen und ward zum Lämmlein, als er mich erreichte, und leckte meine Hände.

Erinnere dich: daß du gestorben wärst an jenem Tag, da du verlassen warst von Gott und Menschen. Ich schwieg und sah dich an. Aus meinem Schweigen wurde dir das Leben. Ich habe mich an dich verschenkt, Verbrecher im Gefängnis, an dich Totkranker im Spital, an dich Obdachloser im Asyl, an dich du Mädchen von der Straße, an dich und dich und dich und dich, ich habe mich verschenkt mit Blick und Gegenblick und meiner Hand in deiner Hand, die dich umfaßte.

Du kennst mich ja. Ich bin von Osten. Und deine Maske aus dem Dreck des Westens wird nicht auslöschen mein Gesicht, das sich verschenkt, verschenkt, verschenkt, sieh mich nur an! Und du hast schon ein Herz und ein Gesicht.

Noch einmal rufe ich dich an, weil ich dir schon so oft begegnet bin auf der großen Landstraße meines Lebens, die Kamerad, dir Freund, dir Bruder, dir Genosse, dir Bürger, dir Mitmensch, noch einmal rufe ich dir zu, nicht Kamerad, nicht Freund, nicht Bruder, nicht Genosse, nicht Bürger, nicht Mitmensch, noch einmal halte ich dich an: Mensch!

Hugo Sonnenschein, aus: Der neue Daimon, 1919, Heft 3 - 4, April, Genossenschaftsverlag Alfred Adler, Albert Ehrenstein, Fritz Lampl, Jakob Moreno Levy, Hugo Sonnenschein, Franz Werfel, Wien Prag Leipzig

Hugo Sonnenschein, geboren am 25. Mai 1889 in Gaya, Österreich-Ungarn, gestorben am 20. Juli 1953 in Mirov, Tschechoslowakei, er schuf expressive Gedichte mit volksliedhaften Zügen. In seinen Gedichten stilisierte er sich selbst zum „Bruder Sonka“. Von 1911 bis 1914 zog er als Vagabund durch Europa. 1934 wurde er aus Österreich ausgewiesen. 1940 wurde er von den Nazis im Gefängnis Pankrác inhaftiert und 1943 in das KZ Auschwitz deportiert und 1945 befreit. Seine Frau wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.


Mittwoch, 25. Juni 2025

Ich aber reineclaude mich

 



                                                                                     zweierlei handzeichen

                                                                                     ich bekreuzige mich
                                                                                     vor jeder kirche
                                                                                     ich bezwetschkige mich
                                                                                     vor jedem obstgarten

                                                                                     wie ich ersteres tue
                                                                                     weiß jeder katholik,
                                                                                     wie ich letzteres tue
                                                                                     ich allein

                                                                                     Ernst Jandl (1925 - 2000)



"Einjedes Geheimnis der Welt darfst du verraten, nur nicht, wo im Sommer die großen grünen Reineclauden reifen!"


Tu was du willst, oder auch nicht,
Schreibe in schwarz, in rot oder grün.
Lösche die Dunkelheit, den Durst, oder lösche das Licht,
Fahre nach Rom, nach Stuttgart oder nach Wien,
Gehe koppheister oder geh auf den Strich,
ich aber reineclaude mich

Sei wer du willst, oder sei es nicht,
Folge oder führe, geh vor oder lass ziehn,
Sei Dieb, oder halte Gericht,
Es ist mir egal mit welchem Schlich
Sich wer wie was erschlich,
Ich aber reineclaude mich

Bleib wo du willst, oder bleibe dort nicht,
Laufe, rolle, oder wage zu fliehn,
Tu was, oder tu es auch nicht,
Bleibe redlich, bleib arm, oder verdien
Tausend Millionen und mehr sicherlich,
Ich aber reineclaude mich


Illustration aus: 
Müller-Diemitz, Bissmann-Gotha u.a.: Deutschlands Obstsorten, Stuttgart 1905 - 1930



Dienstag, 24. Juni 2025

Leftherte

 



Leftherte

Dass ihr den Sommer mir nicht verderbet,
mich findet ihr nicht

Rausche im Laub der Linden
im Dufte ihrer Blüten

Gebe dich hin in den Kelch
der hundertjährigen Rose

Lege eine Kirsche in deinen Mund
und spüre meinen Kuss

Bette dein Haupt in die Winde
spüre meinen Lindenatem

Ich wandle in deinem geheimen Garten
wispere aus deinem Quellmund

Habe die Geheimnisse der Jugend bewahrt,
von den Gefährdungen gelöst

Nehme zurück, was zu mir gehört
einjedes Blühen hat seine Zeit

einjedes Reifen einjedes in sich Ruhen.
Ihr verderbet mir den Sommer nicht



Das Bild ist von Juan Brull (1863 - 1912)

Montag, 23. Juni 2025

Wollte heut ein Lied mir schreiben. . .

 



Wollte heut ein Lied mir schreiben. . .


Wollte selber schreiben, um zu lesen:
„Heut bin ich des Lebens froh!“
Ach, das wär so schön gewesen,
Doch die Zeiten sind nicht so

„Make love not war“,
Auch dieser Satz erlebt gerad sein Waterloo,
Eigentlich wär das wunderbar,
Doch die Zeiten sind nicht so

Die Wahrheit, ebenso die Empathie
Ging in der ersten Runde schon k o,
Dabei wären sie so wertvoll wie noch nie, 
Doch die Zeiten sind nicht so

Der Griff nach goldnen Sternen
War letzlich nur ein Griff ins Klo,
Ach, sie sollten sich zum Mars entfernen,
Doch die Zeiten sind nicht so


Das Bild ist von Edwin Austin Abbey (1852 - 1911)

Sonntag, 22. Juni 2025

Es beginnt zu der Zeit. . .

 



Es beginnt zu der Zeit,
wo die Erdbeeren reifen,
und zu keiner anderen Zeit auch
hätte es dieses Beginnen gegeben

Es beginnt zu der Zeit
wo das Johanniskraut glüht,
und ein Namenlos
nach der geschundenen Erde greift

Über den Staub der Wege,
dem kargen struppigen Grün
der Weiden eine gleißende Sonne
sich spiegelnd in segnender Blüte

Zwischen den Buchen das Schweigen
des Mittags, nicht das Ruhen zu stören,
Schafgarbe, Baldrian und Mädesüß
weiten sich in das Blühen

Danke an das Leben
so zäh so einfach so still
lausche dem Wesen der Stille
lausche den Wesen

Die Tontafeln verwittert
die Bibliotheken abgebrannt
die Dateien gelöscht

überdauernd ist das
gesprochene Wort
von Zunge zu Ohr

Das Bild ist von Arthur Segal, geboren am 13. Juli 1875 in Jassy, Rumänien; gestorben am 23. Juni 1944 in London im Exil. Nach Beginn des ersten  Weltkriegs flüchtete sich der Pazifist Segal von Berlin nach Ascona, zu den Aussteigern vom Monte Verità. Er leitete dort eine Malschule. Sein Haus auf dem Berg wurde ein Treffpunkt exilierter Künstler wie Hans Arp, Marianne von Werefkin, Alexej Jawlensky, Lou Albert-Lasard. Mit seinem Nachbarn und Landsmann, dem Dichterpropheten Gusto Gräser, unterhielt er ein freundschaftliches Verhältnis. Zusammen mit den nach Ascona gekommenen Dadaisten beteiligte er sich an den Ausstellungen des Cabaret Voltaire in Zürich.[ Von 1920 bis 1933 unterhielt er in Berlin-Charlottenburg eine eigene Malschule, die ein beliebter Treffpunkt für Avantgarde-Künstler wurde. 1933 musste Segal aus Deutschland fliehen. Es ging über Mallorca, das er dann wegen des Bürgerkriegs verlassen musste, nach London. 



Mittwoch, 11. Juni 2025

Strawberry Fields Forever

 


Strawberry Fields Forever

So hat es mich noch einmal „in die Walderdbeeren“ getrieben. Sie ist doch einfach zu lecker, diese Marmelade aus den kleinen Dingern. Beim Pflücken ist jede/r für sich und bei sich, und die Gedanken dürfen mäandern. Heute bin ich mit dem Fluss meiner Gedanken wieder einmal bei der Utopie gelandet, beziehungsweise, beim Fehlen der Utopien. Ein Freund sagte das letztens, dass die Utopien ausgestorben sind, „man“ ist jetzt „Realist“. Doch ich finde es wichtig, von der Utopie aus zu denken, sie als Richtschnur zu nehmen für das tägliche Handeln. „Ideale sind wie Sterne, man kann sie nicht erreichen, doch sie weisen einem den Weg“, das ist ein spanisches Sprichwort.

Um die Menschenwelt ist es nicht zum Besten bestellt, das ist offensichtlich. Ich schreibe hier von „Menschenwelt“, denn ich meine, nicht „die Welt“ ist schlecht. Unsere Welt ist eher schön und liebenswert. Wenn ich mir Sammeleimer und den Wanderstock nehme, und die Wege außerhalb von Fredelsloh gehe, um zu meinen „strawberry fields“ zu gelangen, darf ich mich immer wieder an der Landschaft und ihrer Vielgestaltigkeit erfreuen, werde auf dem Weg von den Ziegen begrüßt, die auf der Weper zusammen mit Schafen gehalten werden, um auf den Kalkmagerrasen für die selteneren Pflanzen das Buschwerk nieder zu halten; ich darf mich an den Blüten von Wildorchideen, Skabiosen, Hauhechel und vielen anderen erfreuen, dazwischen gaukeln die Falter, welche die Blüten besuchen; über mir, in den Büschen und Bäumen, welche den Wanderweg säumen, reifen die Früchte heran, wilde Kirschen, Mirabellen, Schlehen, und noch weiter über mir, im blauen Himmel, zieht der Milan seine Kreise.


Das alles sind Zeichen einer Welt, an deren Schönheit ich mich erfreuen kann, und wenn ich das alles erleben darf, bekomme ich ein Gefühl dafür, wie die Welt „gedacht“ ist. Nein, die „Welt“ ist nicht zu verbessern. Allenthalben das Verhalten von uns Menschen bräuchte wohl dringend eine „Verbesserung“. Wir sind gerade dabei, das, was diese Welt ausmacht, ihre Schönheit in ihrer Vielfalt um des menschlichen Eigennutzes willen zu zerstören.

Es ist nicht die „Welt“, die uns mit Kriegen gegen uns und alles überzieht, wir überziehen die Erde mit Krieg, Zerstörung, Gewalt. Und da gibt es nicht den „Zweiten Weltkrieg“ und den „Ersten“, als zeitlich begrenzte Ereignisse, die letzten paar hundert, ja, tausend Jahre, hält dieser Krieg der Menschen gegen die Welt an. Da waren die Völkerwanderungskriege und die Römerkriege, die Kämpfe, mit denen die Christianisierung einherging, da waren der dreißigjährige Krieg, der Mitteleuropa massiv entvölkerte, da waren der siebenjährige Krieg, unter dem auch meine Wahlheimat hier litt, und so weiter, und dazwischen Bauernkriege, Scharmützel, kleine und große Feldzüge, und dazwischen Ausbeutung und Kahlschlag der Natur ringsum, Grobheit und Gewalt den einfachen Menschen gegenüber und der einfachen Menschen untereinander, Hexenverbrennungen, schwarze Pädagogik, unglaublich niederdrückende Arbeitsverhältnisse der Tagelöhner auf dem Land und in den Fabriken.

Wir Menschen haben der Welt weder Schönheit noch Frieden gebracht, sondern sind immer und überall als Eroberer gekommen. Sicher, es gab (und gibt) immer auch Menschenoasen, in denen Menschen mit der Welt in Eintracht und Frieden lebten, doch dann kamen andere, wie zum Beispiel in historischer Zeit die Weißen nach Nordamerika, und die Idylle war dahin. Nein, wir Menschen sollten uns nicht in den Gedanken versteigen, die „Welt zu verbessern“. Diese gute und bessere Welt zerstören wir gerade.

Doch die Welt ist alt genug, hat seit ihrer Entstehung einiges an Katastrophen, Klimawandel und Eiszeiten überlebt, und ist immer wieder in alter Schönheit erblüht, sie wird auch uns Menschen überstehen. Denn Schönheit ist ihr inneres Wesen. Wir Menschen dürfen uns entscheiden, ob wir dazu gehören wollen, ob wir eins damit sind, oder ob wir als Eroberer kommen, und uns „die Erde untertan“ machen, um ihr unseren gewalttätigen Stempel aufzudrücken. Mit diesem Versuch, der zusehends am Scheitern ist und absehbar scheitert, stellen nur wir uns außerhalb „der Welt“.



Wenn ich nun versuche, meine Utopie in Worte zu kleiden, dann komme ich immer wieder dahin: Ich bin als menschliches Wesen eines mit der Erde und ihren Wesen, im Grunde untrennbar verbunden, als ein Teil, das aus ihr kommt und in sie geht. Ich möchte im Konsens mit allen Wesen leben, mit ihrem Werden, Sein und Vergehen, ebenso wie alle Wesen auch werden, sein, vergehen, und, wenn es denn so ist, nach Staub und Asche wieder in die Schönheit der Welt zurückkehren. Im Konsens mit allen Wesen, also auch mit uns, den Menschenwesen.

Daher kann ich keine „konkrete Utopie“ anbieten. Ich kann mich als einzelnes Wesen in meiner Eigenart, die mein Beitrag zu der unglaublichen Vielfalt der Welt ist, einbringen. Ich vermag meine Gedanken zu sagen und aufzuschreiben. Ich vermag auch einige Wünsche anzubringen, hinsichtlich des Lebens von uns Menschen untereinander, ich verabscheue psychische und physische Gewalt zum Durchsetzen von Zielen, ich vermag nicht zu verstehen, wie einem Menschen dieses Land, dieser Wald, diese Wiese „gehören“ kann. Alles gehört sich selbst, und anderes ist eine Illusion, eine Illusion, die letztlich mit Gewalt durchgesetzt wurde.

Ich wünsche mir eine gemeinschaftliche Lebensweise von uns Menschen, in der sich jede/r nach seiner, ihrer Art entwickeln darf, und nicht durch die Egoismen anderer, vermeintlich stärkerer, doch im Grunde nur grausamer und gewalttätigerer, zu Dingen gezwungen zu werden, die wesensfremd sind. Ich weiß, dass sich solcherart Leben, gemeinschaftlich, im Konsens mit allen und allem zu handeln, eine Möglichkeit ist, die wir als Menschen ergreifen können.

Von dieser Utopie lasse ich nicht ab, sie ist die Quelle in mir, aus der mein Lebensmut sprudelt. Auch ich bin nicht unbeschadet durch die Schule dieser Gesellschaft gegangen, in der jahrhundertelang die Verletzungen und Traumata von Generation zu Generation gereicht wurden, und in jeder Generation neue hinzu kamen. Auch ich bin verletzt, ungerecht, fühle, dass die Gewalt in mir wohnt, auch wenn ich ihr kein zu hause bieten möchte. Ich kann nur durch Wissen damit umgehen. Durch das Wissen, dass das Menschsein, welches zu den heutigen schlimmen Zuständen geführt hat, auch in mir ist. Wenn ich den Ungeist benennen kann, dann vermag ich mit ihm umz gehen. Dann vermag ich ihn in mir zu bannen. Mehr ist mir nicht gegeben.

Doch eine „konkrete Utopie“ kann ich nicht anbieten. Wenn ich eine „schöne neue Welt“ zeichnen wollte, um von dieser Blaupause aus die „Welt“ zu „verändern“, dann käme ich wieder als Eroberer. Ich kann durch Äußerung meiner selbst einen Teil dazu beitragen, dass sich etwas ändert, doch den Konsens zum gemeinsamen friedlichen Miteinander können wir eben nur - friedlich miteinander entwickeln. Eben darum vermag ich nicht zu sagen, wie Weg und Ziel für uns alle auszusehen hat. Meine Utopie ist eine sehr persönliche Utopie.

Während in dieser Art meine Gedanken mäandern, knie ich im rotbetupften Grün meines „strawberry fields“, atme den heranwehenden Duft von Lindenblüten ein und das Aroma der Walderdbeeren, lausche dem Ruf eines vorbeiziehenden Turmfalken, fühle die Sonnenstrahlen auf dem Rücken, welche mich durch das Blätterwerk der schützenden Haselzweige erreichen; meine Fingerkuppen nehmen mehr und mehr die Farbe der Beeren an, die ich pflücke. Manchmal schlecke ich sie ab, und schmecke süß.

Sonntag, 8. Juni 2025

Schwertlilien

 


Schwertlilien

Das sind die Blumen, die wie Kirchen sind.
Ein Blick in sie hinein zwingt uns zu schweigen.
Wie Weihrauch fromm berauschend strömt ihr Duft,
Wenn wir uns zu der schönen Blüte neigen.

Sie sind wie Schmetterlinge dünn und zart.
Und wissen ihr Geheimnis doch zu hüten.
Es hellen goldne Kerzen sanft den Pfad
Ins Allerheiligste der Wunderblüten.

Franzisca Stoecklin (1894 - 1931) , aus: Gedichte (Bern 1921)

„Eine Blume unter den Blumen der Mutter hieß Schwertlilie, die war ihm besonders lieb. Er hielt seine Wange an ihre hohen hellgrünen Blätter, drückte tastend seine Finger an ihre scharfen Spitzen, roch atmend an der großen wunderbaren Blüte und sah lange hinein. Da standen lange Reihen von gelben Fingern aus dem bleichbläulichen Blumenboden empor, zwischen ihnen lief ein lichter Weg hinweg und hinabwärts in den Kelch und das ferne, blaue Geheimnis der Blüte hinein. Die liebte er sehr und blickte lange hin und sah die gelben feinen Glieder bald wie einen goldenen Zaun am Königsgarten stehen, bald als doppelten Gang von schönen Traumbäumen, die kein Wind bewegt, und zwischen ihnen lief hell und von glaszarten lebendigen Adern durchzogen der geheimnisvolle Weg ins Innere. Ungeheuer dehnte die Wölbung sich auf, nach rückwärts verlor der Pfad zwischen den goldenen Bäumen sich unendlich tief in unausdenkliche Schlünde, über ihm bog sich die violette Wölbung königlich und legte zauberische dünne Schatten über das stille wartende Wunder. Anselm wußte, daß dies der Mund der Blume war, daß hinter den gelben Prachtgewächsen im blauen Schlunde ihr Herz und ihre Gedanken wohnten und daß über diesen holden, lichten, glasig geäderten Weg ihr Atem und ihre Träume aus und ein gingen.“

Hermann Hesse, aus: Iris (Märchen, S. Fischer Verlag Berlin 1919)

Das Bild ist von Robert Lewis Reid (1862 - 1929)