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Mittwoch, 17. August 2016

Lunatic - Morgenhimmel




Lunatic: Morgenhimmel

Neuzugang in der Bibliothek der Alten Schule Fredelsloh: Das Buch „Chinesische Märchen  - gesammelt und aus dem Chinesischen übertragen von Richard Wilhelm“. Richard Wilhelm (1873 – 1930) ist mir bekannt als einer der Übersetzer des Tao Te King von Laotse. Seine Fassung dieses Weisheitsbüchleins bekam ich als erste zu fassen, und sie ist seither die für mich persönlich maßgebliche. Hermann Hesser schrieb zu der Übersetzung der Chinesischen Märchen: „Diese Geschichten erzählt sich das Volk, sie gehören nicht jener geheimnisvollen, hinter zehn Mauern verzauberten Literatur an, die niemand lesen kann, sondern sind lebendig und gehen noch heute von Hand zu Hand.

Während unsere Märchen oft mit den Worten enden: „Dann lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr Ende“, finden sich in Chinesischen Märchen oft solche Schlusstücke: „Damit verließ er sein Haus und wanderte in Muße. Er erlangte die Unsterblichkeit und verschwand.“ Das liegt daran, dass viele der von Richard Wilhelm gesammelten Märchen einen taoistischen Hintergrund haben. Darunter sind einige Wundergeschichten, deren Bildwelten wahrhaftig in andere Welten weisen, ähnlich der Bilder der Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch, mit denen ich diesen Blogartikel garniert habe.

Ich habe einige Auszüge aus dem Märchen „Morgenhimmel“ gewählt, eine Geschichte von einem Knaben, dessen Lebensschicksal seltsam begann: „Es war einmal ein Mann, der war schon zweihundert Jahre alt; aber er war noch immer frisch und stark wie ein Jüngling. Da gebar ihm seine Frau ein Kind, und als das Kind drei Tage alt war, starb sie. Der Vater gab das Kind der Nachbarin und sagte, sie solle dafür sorgen. Dann ging er fort vom Hause und verschwand.“

Gelesen hatte ich dieses Märchen in der letzten Vorvollmondnacht, so recht „lunatic“, wie die Engländer sagen würden, und der Fastvollmond schien wahrlich helle durch die Fenster.



Aus: Morgenhimmel

„Wo bist du das ganze Jahr gewesen?“

Der Knabe sprach: „Ich war nur geschwind am Purpurmeer. Dort wurden meine Kleider vom Wasser rot. Deshalb ging ich an die Quelle, wo die Sonne einkehrt, und wusch die Kleider mir. Am Morgen ging ich fort. Zu Mittag kam ich wieder. Was sprichst du denn von einem Jahr?“

Die Frau fragte weiter: „Und wo kamst du denn vorüber?“

Der Knabe sprach: „Als ich meine Kleider gewaschen hatte, da ruhte ich ein wenig in der Totenstadt und schlief ein. Der Königvater des Ostens gab mir rote Kastanien und Morgenrotsaft zu essen. Nun war ich satt. Dann ging ich zum dunklen Himmel und trank vom gelben Tau. So war auch mein Durst gestillt.“  . . .


„Woher weißt du das?“ fragte der Kaiser.

„Als Knabe bin ich einmal in einen tiefen Brunnen gefallen, aus dem ich viele Jahrzehnte lang nicht mehr heraus konnte. Da war ein Unsterblicher, der führte mich zu diesem Kraut. Man muss aber durch rotes Wasser, das ist so schwach, dass keine Feder darauf schwimmen kann. Alles, was darauf kommt, sinkt in die Tiefe. Der Mann zog einen Schuh aus und gab ihn mir. Auf dem Schuh fuhr ich über das Wasser, pflückte das Kraut und aß es. Die Leute an jenem Ort weben Matten aus Perlen und Edelsteinen. Sie führten mich in einen Raum, davor war ein Vorhang aus einer bunten, dünnen Haut. Sie gaben mir ein Kissen aus schwarzem Nephrit geschnitzt, darauf war Sonne und Mond, Wolken und Donner eingeschnitten. Sie deckten mich zu mit einer feinen Decke, die war aus den Haaren von hundert Mücken gesponnen. Diese Decke ist ganz kühl und im Sommer sehr erfrischend. Ich befühlte sie mit der Hand, da schien sie mir aus Wasser zu sein; als ich näher zusah, da war es lauter Licht.“


Einst berief der Kaiser alle seine Magier, um mit ihnen über die Gefilde der Seligen zu reden. Auch Morgenhimmel war dabei und erzählte: „Ich wanderte einmal am Nordpol und kam zum Feuerspiegelberg. Dort scheint weder Sonne noch Mond. Es ist aber ein Drache da, der hält einen feurigen Spiegel im Maul, das Dunkel zu erleuchten. Auf dem Berge ist ein Park; darinnen ist ein See. Dort wächst das Schimmerstengelgras, das leuchtet wie eine goldene Lampe. Bricht man es ab und braucht es als Kerze, so kann man alle sichtbaren Dinge sehen und dazu die Gestalt der Geister. Auch das Innere der Menschen kann man damit durchleuchten.“


Der Kaiser fragte, was denn das Glückswolkenland sei. Morgenhimmel erwiderte: „Dort ist ein großer Sumpf. Die Leute weissagen aus Luft und Wolken Glück und Unglück. Steht in einem Haus Glück bevor, so bilden sich in den Zimmern fünffarbene Wolken, die lassen sich auf Gras und Bäumen nieder und werden zu farbigen Tau. Der Tau schmeckt süß wie Most.“




Als Morgenhimmel gestorben war, berief der Kaiser den Sterndeuter und fragte: „Kanntest du Morgenhimmel?“

Der sagte: „Nein.“

Der Kaiser fragte: „Was verstehst du denn?“

Der Sterndeuter sagte: „Ich kann nach den Sternen sehen.“

„Sind alle Sterne an ihrem Platz?“ fragte der Kaiser.

Ja. Nur den Stern des großen Jahres habe ich achtzehn Jahre nicht gesehen. Jetzt aber ist er wieder sichtbar.“

Da blickte der Kaiser zum Himmel auf und seufzte: „Achtzehn Jahre lang war Morgenhimmel mir zur Seite, und ich wusste nicht, dass er der Stern des großen Jahres war.“


Die Fredelsloher Künstlerin Andrea Rausch auf FaceBook: 

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