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Sonntag, 19. Januar 2025

Maria Leitner: Candy-Girl im Schlaraffenland

 




Candy-Girl im Schlaraffenland

Dort, wo die Ananas-, Mandel- und Rosinenberge stehen, Schokoladenflüsse unversiegbar quellen, Honig und Sirup sich in Riesenfässern türmen, dort, sollte man meinen, müßte es schön sein, zu leben, vielleicht sogar zu arbeiten.

Da sich das Schlaraffenland heutzutage nur in einer Schokoladenfabrik befinden kann, scheint die Sache auch gar nicht aussichtslos. Man geht durch das Tor eines Wolkenkratzers, fragt den Portier nach der Arbeiterannahmestelle, steht bescheiden vor dem Personalverwalter und bekommt nach einigem Warten einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem der künftige Arbeitsplatz verzeichnet ist. Kein Wort wird gefragt, man kann gleich anfangen zu arbeiten. Fein, daß man ins Schlaraffenland gelangen kann.

Ich bekomme von der »nurse«, halb Aufseherin, halb Pflegerin, die Uniform und einen Schrank zugewiesen. Sie sagt mir, es sei besser, die Uniform über die Kleider anzuziehen, dann friere man weniger.

Aber heute ist doch ein furchtbar heißer Tag, denke ich, doch man ist eben im Schlaraffenland, man soll sich über nichts wundern. Ich gehe die Treppe hinauf zu meinem Arbeitsplatz.

Ich betrete einen riesigen Arbeitssaal. Sofort bekomme ich kalte Füße. Eine ältere Dame, wie sich später herausstellte, die »forelady«, die Vorarbeiterin, flattert mir entgegen, in einem weißen Kleid mit einem Spitzenhäubchen angetan. Sie hat eine rote, erfrorene Nase und fragt mich nach meinen Personalien. Auch teilt sie mir die Arbeitsbedingungen mit, 24 Cent die Stunde. In der Saison kann man Überstunden machen.

Die Arbeiterinnen blicken gar nicht auf. Sie sind in Wolltücher, Wintermäntel, Sweaters gehüllt. Die Luft ist trotz der Kälte schlecht, die Fenster fest verschlossen.

Das kokette Spitzenhäubchen: »Wenn Sie eine Minute zu spät kommen, wird eine halbe Stunde abgezogen. Die Kontrollkarte muß viermal, immer im Arbeitssaal, abgestempelt werden. Morgens, bei Beginn und Ende der Mittagspause und abends, wenn man nach Hause geht.«

Ich glaube, ich habe auch schon eine rote Nase. Freilich, es muß kalt sein, damit die Bonbons nicht zerschmelzen. Daran hätte ich gleich denken müssen.

Ich werde an einen Tisch gesetzt. Plötzlich bin ich umgeben von Kartons, Seidenpapier, Stanniol. Immer neue Platten voll Bonbons werden vor mich hingeschoben. Ich muß packen. Das Spitzenhäubchen erklärt: »Jedes Stück umdrehen und genau prüfen. Die schlecht gelungenen müssen beiseite gelegt werden mit der Nummer, die auf jede Platte aufgeklebt ist. Die soll man nicht essen. Die Arbeit der Hersteller muß geprüft werden.«

Ich fange an, gehorsam zu drehen, zu prüfen, zu packen. »Nur mit den Fingerspitzen, nur mit den Fingerspitzen«, sagt noch das Spitzenhäubchen und entschwindet.

Hier mache ich die Bekanntschaft mit Nummer 68, die nicht etwa ich bin. Ich repräsentiere eine bedeutend höhere Nummer, bin Viervierzwodrei.

Bald stellte sich heraus, daß die Plattennummern immer besondere Individualitäten enthüllten. Da war z. B. die tadellose Nummer 23, die korrekte 25, es war ein Vergnügen, sie zu packen; da war die etwas zerfahrene Nummer 35 und dann also auch die Nummer 68.

Ich weiß nicht, ob ich deshalb Sympathien für sie empfand, weil ich fühlte, daß ich genau so schiefe, zerquollene Bonbons mit so fleckigem Guß herstellen würde, wenn mich das Schicksal noch ausersehen sollte, Pralinen zu machen. Jedenfalls versuchte ich, soweit es in meiner Macht stand, Nummer 68 zu retten. Ich aß die verdorbenen Stücke, sie waren schlecht, dafür aber verboten, ich verlor die Zettelchen mit der Nummer, ich schmuggelte sogar einige Stücke der tadellosen Nummer 23 und der korrekten Nummer 25 zu, denen das doch nichts schaden kann.

Am nächsten Tag, welches Wunder, übertrifft Nummer 68 an Korrektheit sogar die Nummern 23 und 25. Ich ahnte gleich Böses. Und wirklich, als ich mich nach Nummer 68 erkundigte, mußte ich mich von der Zwecklosigkeit jeder individuellen Hilfsaktion überzeugen. Denn man sagte mir: »Meinen Sie die alte oder die neue. Denn seit heute ist eine andere da. Die alte ist gestern Knall und Fall entlassen worden.«

Neben mir sitzt ein Mädchen, dem man auch anmerkt, daß es ein Neuling ist. In der ganzen Umgebung sind wir die einzigen, die sich für die Erzeugnisse Schlaraffenlands interessieren. Wir kosten alles, kritisieren, haben Vorlieben. Wenn das Spitzenhäubchen entschwindet, machen wir Rundgänge in unserem Arbeitssaal. Wir gehen an den Frauen vorbei, die Datteln entkernen, Nüsse öffnen, Ananas zerschneiden. Jedesmal, wenn wir vorbeigehen, langen wir in die Körbe und essen. Erschrocken sehen wir uns um, aber nichts geschieht. Es ist erlaubt. Die Frauen sehen uns augenzwinkernd nach. Sie scheinen sich über uns zu amüsieren.

Während ich packte, flog mir ein Stück saure Gurke zu. Eine Arbeiterin aus der alten Garde frühstückte. Ich lachte.

Aber am dritten Tag brachte ich mir Essigzwiebeln zum Frühstück mit. Meine Nachbarin schien sich zu freuen, als ich ihr auch welche anbot.

Am dritten Tag mußte ich meinen bequemen Platz, der mir allerdings erst später so bequem erschien, verlassen und wurde vom Spitzenhäubchen zu den Maschinenpackern kommandiert. Das Arbeitssystem ist hier ganz ähnlich wie das berühmte laufende Band. Quer durch den Saal laufen die Maschinen, vor denen die Arbeiterinnen packen. Eine Glaswand, mit je einer Öffnung vor jeder Maschine, trennt uns von den Pralinenherstellern. Hier gibt es kein gemütliches Schlendern mehr, die Maschinen schreiben die Bewegungen der Packerinnen wie der Bonbonhersteller vor.

Man steht hier in der eisigen Kälte acht oder manchmal auch neun Stunden lang, ohne einen Augenblick sich auszuruhen oder sitzen zu können. Das Spitzenhäubchen erscheint immerfort, umkreist uns und schreit uns ständig wie ein Phonograph in die Ohren: »Mädels, eure Hände müssen flinker werden, Mädels, eure Hände müssen flinker werden«, immer ohne Unterlaß. So sieht es aus im Schlaraffenland.

Und trotzdem geht es vor unserer Maschine sehr lebhaft, ja lustig zu. Da ist zum Beispiel Giulietta, die schöne Italienerin. Sie kann nicht nur schnell packen, sondern gleichzeitig auch Charleston tanzen und singen: »Yes Sir, she is my baby.«

Dann sind die beiden Freundinnen da, die sich ständig zanken und sich gegenseitig, zur allgemeinen Freude, alte Sünden vorwerfen. Und dann haben wir Boccaccio hier, freilich einen weiblichen Boccaccio, und schon das allein muß die Arbeit unter den Maschinenpackern erträglicher machen.

Denn Boccaccio ist eine Nummer ganz für sich. Von ungewöhnlicher Reizlosigkeit. Trägt eine Brille auf einer spitzen Nase, und hinter dieser Brille schielen farblose Augen. Die Haut ist fleckig, die Haare strähnig. Doch welche üppige, strotzende Phantasie verbirgt dieses trockene Äußere.

Boccaccio ist natürlich italienischer Abstammung, wohnhaft und aufgewachsen in der Mulberry Street, dem schmutzigsten, dichtestbewohnten Teil des italienischen Viertels. Dort, wo die Nachbarn keine Geheimnisse voreinander haben können, wo die Wände überhaupt nur aus Ohren bestehen, wo mehrere Familien in einem Zimmer wohnen.

Und Boccaccio hat immer alles gesehen und gehört. Und Boccaccio erzählt, fast ohne Unterlaß, ohne daß man darum bitten muß. In einem trockenen, dozierenden Ton berichtet sie von unwahrscheinlichsten Familienschicksalen, haarsträubenden Liebesgeschichten, Großmütter und Kinder, Chinesen und Neger kommen da vor, oft ist auch Boccaccio selbst die Heldin. Die Mädchen biegen sich vor Lachen.

Nur eine lacht nie, spricht wenig. Die Bleiche. Sie stöhnt ständig: »Ach, wie meine Hände frieren«, »Oh, mein Rücken.«

Die Schokolade strömt aus der Maschine ohne Unterlaß. Immer die gleichen Bewegungen. Wenn eine neue Art Schokolade aus der Maschine kommt, seufzt die Bleiche: »Ach, schrecklich, diese ewige Abwechslung.«

»Will jemand ›dipper‹ werden?«

»Wollen Sie, girl«, fragt mich das Spitzenhäubchen, und ich nicke freudig ja. Die »dipper« arbeiten sitzend. Sie überziehen Pralinen mit Schokolade.

»Sie werden jetzt ein ›trade‹ (Handwerk) lernen«, sagt mir die Dicke, die mich unterweisen soll.

»Yes, m'am«, flüstere ich ehrfürchtig, denn ich weiß, daß ein »trade« Karriere bedeutet.

Meine Nachbarin teilt mir mit, daß diese Woche achtundzwanzig Dollar in ihrem Lohnumschlag waren. »Das ist was anderes als die zehn Dollar der Packer.«

Als die Dicke weggeht, frage ich meine Nachbarin, seit wann sie »dipper« ist.

»Seit acht Jahren. Ja, in der ersten Zeit kann man das auch nicht verdienen.«

Ich sitze nun vor einem großen Kessel voll Schokolade, halte eine Holzkelle in der Hand und rühre fleißig. Wenn die Dicke nicht wäre, könnte ich mich jetzt Kindheitserinnerungen hingeben und denken: Schlaraffenland.

Aber die Dicke erinnert mich mit allem Nachdruck an den Ernst des Lebens. »Immer aufpassen, daß die Schokolade schön flüssig bleibt, wenn sich kleine, harte Stücke bilden, müssen sie sofort herausgenommen werden.«

Aber wieso gefriert nicht die Schokolade sofort in dem kalten Raum? Wie wird sie überhaupt flüssig erhalten?

Auf eine sehr einfache und sinnreiche Art. Unter jedem Schokoladenkessel ist eine stark isolierte elektrische Leitung, die nach Bedarf eingeschaltet werden kann. Sobald die Schokolade ihren gleichmäßigen Glanz zu verlieren beginnt, wird die elektrische Heizung unter dem Kessel angeknipst, muß aber dann immer wieder ausgeschaltet werden, denn die Schokolade darf nicht heiß werden.

Die »dipper« sitzen mit aufgestülpten Ärmeln vor den Kesseln, die Arme mit einem Schokoladenguß überzogen, und tauchen Cremefüllungen, Datteln, Ananas in die Schokolade. Jede Sorte muß auf eine besondere Art gedreht werden, muß eine besondere Größe und Form haben.

Gerade um die Zeit, wenn wir die Fabrik verlassen, paradiert vor uns der Autobus einer anderen großen Schokoladenfabrik, mit den verlockendsten Aufschriften: »Wir machen die beste Schokolade der Welt«, »Wir stellen Arbeiterinnen unter den besten Bedingungen ein«, »Wir befördern unsere Arbeiterinnen frei im Auto zur Arbeitsstelle« (merkwürdig nur, daß nie jemand in diesem Autobus sitzt).

Aber Giulietta weiß etwas Besseres. »Habt ihr denn nicht das Auto der Würfelzucker-Gesellschaft gesehen, mit dem Jazz-Orchester. Das scheint ein lustiges Haus zu sein.«

Und schon tanzt sie wieder Charleston und singt: »No Sir, don't say may be.«

Die Bleiche aber sagt: »Ich hasse jede Abwechslung. Dann sieht man erst, wie schrecklich gleich alles ist.«

Aus: Eine Frau reist durch die Welt. Erstauflage. Agis, Berlin / Wien 1932 


Maria Leitner, geboren am 19. Januar 1892 in Varaždin, Österreich-Ungarn; gestorben am 14. März 1942 in Marseille, deutschsprachige ungarische Journalistin und Schriftstellerin.

Sie studierte danach in Wien und Berlin Kunstgeschichte und absolvierte ein Praktikum in der Berliner Galerie von Paul Cassirer, Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges berichtete sie unter anderem als Korrespondentin für Budapester Zeitungen aus Stockholm.

Während des Krieges schlossen sich große Teile der revolutionär gesinnten ungarischen Jugend der antimilitaristischen Bewegung an. Maria Leitner und ihre Brüder Johann (auch: János Lékai / John Lassen. 1895–1925) und Max / Maximilian (auch: Miksa 1892–1942?), beteiligten sich aktiv beim sozialistisch-pazifistisch ausgerichteten Galilei-Zirkel.

1925 reiste sie im Auftrag des Ullstein Verlages in die USA. Drei Jahre lang durchquerte sie den amerikanischen Kontinent von New York über Massachusetts, Pennsylvania, Virginia, Georgia, Alabama, Florida, bis hin zu Venezuela, Britisch- und Französisch-Guayana und den karibischen Inseln Haïti, Curaçao, sowie Aruba. Sie nahm 80 verschiedene Stellen an, um aus eigener Erfahrung über die Arbeitsbedingungen der Menschen zu berichten. Sie arbeitete als Dienstmädchen und Zigarrendreherin, besuchte Zuchthäuser und südamerikanische Diamantenminen. Im Mittelpunkt ihrer sozialkritischen Reportagen stand das Amerika der kleinen Leute auf der Kehrseite des American Dream.

1930 erschien ihr erster sozialkritischer Roman Hotel Amerika im Neuen Deutschen Verlag. Eingebettet in eine Kriminalhandlung, wird die Geschichte des irischen Wäschemädchens Shirley O’Brien thematisiert, parallel zu den sozialen Missständen, unter denen die Arbeiterinnen und Arbeiter in einem New Yorker Luxushotel litten.

Im Rahmen antifaschistischer Aktionen ging Maria Leitner 1932 auf Entdeckungsfahrt durch Deutschland und berichtete für die Welt am Abend und die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung über die soziale und politische Situation in kleinen Städten und Dörfern, in denen bereits die Nationalsozialisten die Politik bestimmten.

Im Mai 1940 wurde Maria Leitner von den französischen Behörden zusammen mit anderen deutschen Exilanten im Lager Camp de Gurs in den französischen Pyrenäen interniert. Ihr gelang die Flucht über Toulouse nach Marseille, wo sie in extrem ärmlichen Verhältnissen im Untergrund lebte. Sie versuchte vergeblich, durch Vermittlung der Hilfsorganisationen „American Guild for German Cultural Freedom“, des Emergency Rescue Committees (ERC) von Varian Fry sowie des amerikanischen Schriftstellers Theodore Dreiser ein Visum für die Vereinigten Staaten zu erlangen. Am 4. März 1941 schrieb sie ihren vermutlich letzten Hilferuf. Im Frühjahr 1941 wurde sie noch einmal von Luise Kraushaar in Toulouse sowie von Anna Seghers und Alexander Abusch in Marseille gesehen. Jetzt ist belegbar, dass die Mitarbeiter des Emergency Rescue Committee und der American Guild for Cultural Freedom bis zuletzt bemüht waren, ein Visum für sie zu beschaffen. Sie starb am 14. März 1942 in Marseille in der Psychiatrie am Hungertod. (Wiki)

Samstag, 4. Januar 2025

Vom Traum zum Tag, Gedichte von Walter Rheiner, Emmy Hennings, Richard Perls, Else Lasker-Schüler

 

Das fünfte Abendlied

In des Abends samtnen Hafen
lenken hin die Häuser-Schiffe.
Siehe! Mond und Sterne trafen

sich in unsrer Stirnen Spiegel!
Wiese breitete die Schwingen,
Wald hob auf den dunklen Flügel.

Leise Wege um uns singen.
Unser Herz in nahen Gärten
leuchtete. Der Nacht Syringen

schlingen sich um uns, die warten -
warten, daß sich uns die Räume
füllen mit verwehten, zarten

Farben unsrer wachen Träume,
die sich magisch offenbarten.


Das sechste Abendlied

Wie wir in die Wiesen sinken,
segelt Mond, das ferne Schiff,
leise um des Waldes dunkles Riff.

Von der Stirn dir will ich trinken
Abendschein, der dich betaut,
und den nahen Himmel, der
unermeßlich tief erblaut.

Leise regt sich das Geflüster
naher Sterne. Milde wandern
Wolken, die im Osten landen.

Schwinden wir? . . . Schon düster
schwingt sich Weg den Bergen zu.
Bist du hier? . . . Am Horizont
stehst in Firmamenten du!

Walter Rheiner, aus: Insel der Seligen - Ein Abendlied 1918


Traum

Ich bin so vielfach in den Nächten.
Ich steige aus den dunklen Schächten.
Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein.

So selbstverloren in dem Grunde,
Nachtwache ich, bin Traumesrunde
und Wunder aus dem Heiligenschrein.

Und öffnen sich mir alle Pforten,
bin ich nicht da, bin ich nicht dorten?
Bin ich entstiegen einem Märchenbuch?

Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten.
Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten,
ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch.

Emmy Hennings, aus: Deutsche Gedichte. Von Hildegard von Bingen bis Ingeborg Bachmann, hrsg. v. Elisabeth Borchers, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1987


In Villa Blanca

Ich will die stillen Stunden nicht entbehren
Die träume fliehen wie gepeitscht vom winde.
Ich soll die brüder lieder singen lehren
und reigen tanzen unter fahler linde.

Die Seele weint in ängstlichen gefühlen.
Ich kann die worte nicht zu klängen finden,
kann die gedanken nicht zu kränzen winden
Um roter wunde heißen brand zu kühlen.

Ich fliehe licht und schließe meine lider.
Ich sehne lippen und begehre wonne.
Mit kühlem gift durchdringet müde glieder
Ein traum, gewebt aus traurigkeit und sonne.

Ich jauchze auf in tönendem frohlocken.
Das heilige steht zu freiem eingang offen -
Die königin hat mich ins herz getroffen
Ich höre harfenton und kirchenglocken.

Richard Perls, aus: Blätter für die Kunst 1899


Syrinxliedchen

Die Palmenblätter schnellen wie Viperzungen 
In die Kelche der roten Gladiolen, 
Und die Mondsichel lacht 
Wie ein Faunsaug’ verstohlen. 

Die Welt hält das Leben umschlungen 
Im Strahl des Saturn 
Und durch das Träumen der Nacht 
Sprüht es purpurn. 

Jüx! Wollen uns im Schilfrohr 
Mit Binsen aneinander binden 
Und mit der Morgenröte Frühlicht 
Den Süden unserer Liebe ergründen! 

Else Lasker-Schüler, aus: Styx. Gedichte, 1902


Walter Rheiner: Als er 1914 zum Kriegsdienst berufen wurde, nahm Walter Rheiner erstmals Rauschmittel – er gab damit vor, drogensüchtig zu sein, um der Wehrpflicht zu entgehen. Trotz dieses Umstands wurde er eingezogen und mit Beginn des Ersten Weltkrieges an die russische Front beordert. Eine Entziehungskur scheiterte, sein Täuschungsversuch kam 1917 ans Licht, worauf er vom Dienst suspendiert wurde und nach Berlin übersiedelte. Aus seinem anfänglich gemäßigten Drogenkonsum entwickelte sich jedoch mehr und mehr eine Sucht nach Kokain und Morphinen, die ihm letztendlich zum Verhängnis wurde. In einer armseligen Unterkunft in der Charlottenburger Kantstraße setzte er seinem Leben am 12. Juni 1925 im Alter von 30 Jahren mit einer Überdosis Morphin selbst ein Ende.

Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, Dichterin, Heilige und Hure, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich. „Ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zu viele Leute entzückt davon.“

„Niemals hat die Dichterin auf der Sonnenseite gelebt und es leicht gehabt, vielleicht hat sie es auch niemals ernstlich sich gewünscht. Sie lebt lieber unter den Kämpfenden, Armen, Bedrückten, sie liebt die Leidenden, sie fühlt für die Verfolgten und Rechtlosen. Sie bejaht das Leben auch in seiner Härte und Grausamkeit und liebt die Menschen bis in alle Verirrung und Not hinein.“

Hermann Hesse über Emmy Hennings

Richard Perls (1873 – 1898), der früh verstorbene Dichter gehörte zum George-Kreis.

Else Lasker-Schüler, geboren am 11. Februar 1869, gestorben am 22. Januar 1945 in Jerusalem. Eine der mittlerweile bekanntesten deutschen Dichterinnen.

Sprecher und Gitarre: Dingefinder
Klavier: Verlah Voh
Geige: Ute C.
Perkussion: Erd Ling Judith
Keltische Harfe: Antje McInerney
Panflöte: Klaus der Geiger

Und die Glocken der Klosterkirche Fredelsloh

Donnerstag, 2. Januar 2025

Max Herrmann-Neiße: Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen


Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen

Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
die Heimat klang in meiner Melodie,
ihr Leben war in meinem Lied zu lesen,
das mit ihr welkte und mit ihr gedieh.

Die Heimat hat mir Treue nicht gehalten,
sie gab sich ganz den bösen Trieben hin,
so kann ich nur ihr Traumbild noch gestalten,
der ich ihr trotzdem treu geblieben bin.

In fremder Ferne mal ich ihre Züge
zärtlich gedenkend mir mit Worten nah,
die Abendgiebel und die Schwalbenflüge
und alles Glück, das einst mir dort geschah.

Doch hier wird niemand meine Verse lesen,
ist nichts, was meiner Seele Sprache spricht;
ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen,
jetzt ist mein Leben Spuk wie mein Gedicht.

Max Herrmann-Neiße, (* 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; † 8. April 1941 in London), Deutscher Dichter, von den Nazis ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.

Das Portrait des Dichters malte 1921 Erich Büttner (1889 - 1926) 

Sprecher und Gitarre: Dingefinder

13 Nächte - Die dreizehnte Nacht

 

13 Nächte - Die 13. Nacht

Abschied und Neubeginn

Ich möcht in Häusern ein- und ausgehen können,
begleitet von warmen Worten beim Empfang.
Ich möcht die Freuden jeden Tages dann benennen,
und sie erklingen lassen als Gesang.

Dann im Staunen jedes Herz erreichen,
welches mir entgegenschlägt.
Jedes Wort mit einem Lachen anzureichern,
so, dass es jedes Herz bewegt.

Selbst das Weiterziehen wird begleitet
von einem Lied, gesungen klar in Dur,
dass es mir den Weg froh vorbereitet,
Weg in mein eignes Herz, zu meiner eigenen Natur.

(Dingefinder)

Musik: Verlah Wo, Keyboard

Mittwoch, 1. Januar 2025

13 Nächte - Die zwölfte Nacht

 

13 Nächte: 12. Nacht

Ach, da war keine Vorsicht im Schlafenden; schlafend,
aber träumend, aber in Fiebern: wie er sich ein-ließ.
Er, der Neue, Scheuende, wie er verstrickt war,
mit des innern Geschehns weiterschlagenden Ranken
schon zu Mustern verschlungen, zu würgendem Wachstum, zu tierhaft
jagenden Formen. Wie er sich hingab -. Liebte.
Liebte sein Inneres, seines Inneren Wildnis,
diesen Urwald in ihm, auf dessen stummem Gestürztsein
lichtgrün sein Herz stand. Liebte. Verließ es, ging die
eigenen Wurzeln hinaus in gewaltigen Ursprung,
wo seine kleine Geburt schon überlebt war. Liebend
stieg er hinab in das ältere Blut, in die Schluchten,
wo das Furchtbare lag, noch satt von den Vätern. Und jedes
Schreckliche kannte ihn, blinzelte, war wie verständigt.
Ja, das Entsetzliche lächelte . . .

Aus der Dritten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke

Musik: "Rilke" vom Dingefinder, Querflöte, Loopprogramm, Samples

Montag, 30. Dezember 2024

13 Nächte - Die elfte Nacht

 

13 Nächte: 11. Nacht

Später Mond
Ich sah den Mond
Silbernetze flechten
aus Spinnenweben, taubeträuft -
die Tropfen hingen Perlen gleich
im Ried -
Aus jedem Tropfen schien
der Mond im Kleinen,
ein jeder wurde vom Monde
zum Leuchten gebracht,
und so gab es tausend Monde
in der Nacht.

(Dingefinder)

Musik: Verlah Wo, Klavier

Jakob Haringer: Gebet um Sünde - Ein Lied

 



Gebet um Sünde

O Gott! aus diesen lauen grauen Tagen
Glüh mich zur Sünde hin, weil mich so friert –
Eh daß mein Herz vereist in frommen Sagen,
Mach mich ein bißchen teuflisch und vertiert.

Ihr toten Tage ausgehöhlt entgöttert,
Wie ungewürzte Speise leer und schal,
Sauer wie Schweiß um blöd vertane Arbeit –
Ihr Toten – ach erstickt mich tausendmal;

Wie Wein, in den es jahrelang geregnet.
Auf euch ruht nimmer Gottes Mutterhand...
Behängt mit meinen nie geweinten Tränen,
Mit meiner letzten Wünsche Kindertand.

Wo ist der Engel, der da gut und weise
Euch wachsen ließ wie Veilchen aus dem Schnee?
Dies stille Frommsein ist ja gut für Greise –
Die Sünder tun einander nimmer weh.

O in der Sünde festlichem Gewimmel –
Ach, bloß die Laster machen gut und rein.
Ich bin so ungeeignet für den Himmel!
Laß lieber mich ein frommer Heide sein.

O laß mich lieber Dir mit Sünden danken...
Die Sünden weinen sich die Augen aus.
Die Heiligen mit ihren Löwenpranken
Zerschlagen ganz mein armes Blumenhaus.


„Lieber Gott! Du solltest wirklich deinen allerletzten Freund nicht so behandeln!... Weißt du, bloß Kleinigkeiten sind es nun einmal, die auf Erden uns armen Würmern die Wege erleichtern ... und selbst mit denen geizest du... Das Glück ist immer gegen die armen Leute. ... Weißt du, es ist schon hundsgemein, daß du nicht helfen magst! Du, schick sofort ein Wunder!! ... Ich habe nie gespart wie deine Braven, ich habe all deine schönen Dinge gekostet und genossen und verschenkt... Wenn deine andern endlich krepieren, liest man ja immer von ihrem edlen, großzügigen ‚Vermächtnis’ – allerdings habe ich noch nie gelesen und gehört, was sie zu Lebzeiten wahrhaft Gutes getan. Wie lieb ich all deine schönen Sachen: ein Amselruf im Morgenrot, ein Mädchenknie, eine Leberwurst, eine kleine süße Melodie, Frauenhüften, Gewürze, Duft der Parfüms, Zigarren, die liebe Einsamkeit, Stille, Hunger, mit einem guten Kameraden essen und trinken. Und wie schön hast du erst die Sünde, das gute Laster gemacht!“

Jakob Haringer (1898 - 1948)

„Die Größe Haringers ist sein urlyrisches Genie : zu sehen und Worte zu haben für das Gesehene. Eine Welt ging in ihn ein. Haringer, der Vagant, ein kranker, nicht mehr junger Mann, hungert in einem Asyl, einem Krankenhaus, in einer Höhle der Berge. Reißt ihn das Buch aus seiner Armut, dann werden seine Verse glätter, seine Gesichte aber blasser werden. Sein Buch ist wie ein Bergpfad, der in großer Höhe durch Kalkgestein führt : spitzes und abgebröckeltes Gestein — und dann wieder Ansiedlungen seltenster Pflanzen, wahre Fundgruben der Form. Es lohnt sich, in diesem Bande zu wühlen, um Oasen der Sprache aufzuwittern. Du findest dann am Wegrand eine Zeile wie diese:

In den Stunden des Glückes hast du Genossen und Frauen.
In den Gewittern des Narrens weinst du verzweifelt allein.


Otto Zarek (1898 – 1958)

René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker Vom Schweigen befreit:

Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“


Gitarre und Gesang: Dingefinder