In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2017 starb die Künstlerin Andrea Rausch in ihrer Wohnung in Fredelsloh. Dieses Jahr wurde ich wieder an sie erinnert, ich bekam eine CD von ihr ausgehändigt, es hieß, darauf wären Bilder von ihr gespeichert. Das erwies sich jedoch als nicht ganz richtig. Sicher, es waren auch Bilder von ihr darauf, jedoch eingebettet in von der Künstlerin geschriebenen Geschichten.
Diesen Geschichten war ein Brief angefügt mit folgendem Inhalt: „Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit übersende ich Ihnen einige Buchmanuskripte, Textauszüge und mehrere bebilderte Kurzgeschichten zur Ansicht. Einen ersten umfassenden Eindruck bekommen Sie, wenn Sie die Geschichte „Phantastische Atomgeschichten“ lesen.
Gerne sende ich auf Anfrage weitere Manuskripte und bebildere diese.
Wenn Sie an der Veröffentlichung meiner Arbeiten, weiteren Texten Interesse haben, wenden Sie sich bitte an mich.“ Datiert war der Brief nicht.
Dazu gab es als PDF verschiedene Manuskripte, zwei davon umfänglicher und bebildert: „Plutonium zum Frühstück - Oder: Wo Fliegen die Spinnen um die Ecke treten“ (73 Seiten) und „Plutonium in allen Farben und Geschmacksrichtungen“ (109 Seiten).
Zu einer Veröffentlichung kam es nicht, doch ich möchte die eine oder andere Geschichte, mit dazugehörigen Bildern der Künstlerin hier auf meinem Blog einstellen. Ich habe die Texte nicht verändert, außer wo sichtlich Flüchtigkeitsfehler waren, und ich habe ihre doch sehr eigenwillige Interpunktion etwas gemäßigt, zugunsten der Lesbarkeit der Texte. Der Nachlass der Künstlerin wird verwaltet von der Hedi Kupfer Stiftung Fredelsloh.
Hier nun der erste Teil des Manuskriptes "Plutonium in allen Farben und Geschmacksrichtungen":
Guten Appetit!
Dies hier ist der Einblick in eine andere Welt. Mit Dingen, scheinbar so vertraut wie unsere eigenen, und mit Dingen und Begebenheiten, die so ganz anders sind! Wo also eine Vogelspinne auch grün oder blau sein kann, mit nur vier, aber auch zehn Beinen! Und der Pfirsichbaum mag dort dunkelrote Blätter haben mit hellgrünen Blüten, und seine Pfirsiche schmecken nach Vanilleeis. Natürlich haben dort die Dinge ihren eigenen Namen. Ich habe allen den entsprechenden deutschen Namen gegeben. Des Einheimischen Babboshluck ist so nichts anderes als unser Plutonium. Mit dem Unterschied, dass es dort als Nahrungsmittel fungiert, und auf jener anderen Welt die unglaublichsten Realitäten ermöglicht! Oder: Wie wo anders im All der All -Tag so aussieht!
Die Personen:
Wacko Blatscho – Familienoberhaupt und Leiter des Terraform-Projektes.
„Plutschiko“ Bukschella – seine Frau.
Bukscho – älterer Sohn, zehn Jahre alt, 6. Klasse, ein Jahr vor dem Plutoniumdiplom. In Mathe und Kernphysik Klassenbester. Hat eine große Zukunft vor sich.
Yaa – kleine Schwester, Anfang fünf, wird demnächst eingeschult. Ist ebenfalls gut in der Schule.
Frau Lange – Bukscho’s Klassenlehrerin.
Herr Pitnomulu – Yaa’s Klassenlehrer.
Kullo Kackscha – Schüler mit Vogelspinne in Yaa’s Klasse. Leider sitzen geblieben.
Plippo Ruckscha – Bukscho’s Fachlehrer in Mathematik, Physik und Kernphysik. Von heiterem Gemüt, hilfreich, kann aber auch streng durchgreifen, wenn es sein muss.
Zwillu Fromspeck – schüchterne Schülerin eine Klasse tiefer als Bukscho.
Krocklo Tschack – Mitschüler von Zwillu Frommspeck. Frech, sehr schlechtes Benehmen.
Backo Blacklack – Mitschüler aus Bukscho’s Klasse. Mittelmäßig in der Leistung, eher schlecht im Betragen.
Luschel Schrompf – Boss des Suchteams für Schulschwänzer, aber auch echte Notfälle.
Eusebius Schmaldach – Kullo’s neuer Klassenlehrer.
Kocko Zluckkluck – spleeniger, verrückter Typ. Obstbaumexperte. Leider auch Experte von Alkohol und Haschisch. Paradebeispiel dafür, was Alkohol und Drogen so anrichten können!
Rufina Weitpfiff – energische Dame im Terraform-Team, unter anderem Expertin für Blumen und Insekten.
Klopus Kahlhaus – Tierexperte in der Terraform-Gruppe.
Agatha Großraumer – Beste Cargo-Lifterin. Rettet ganze Stadt vorm Abriss.
Slapzock Unterdurch – Entdecker einer riesigen Uranmine.
Schlopplop Wuffo – Fertigt Stahlcontainer für den Getreidetransport an.
Dopellina Wuffo – Seine Frau. Stellt Plutoniumzigaretten her.
Babette Wuffo – Tochter der Beiden, etwa in Yaa’s Alter. Mit Yaa dick befreundet.
Rüsseldraußen – Anführerin von Yaa’s Fliegengang.
Bissgurke – Mitglied von Yaa’s Fliegengang. Später Anführerin einer eigenen Gang.
Stutzflügler – Großes, stahlblaues Fliegenmännchen. Boss von Babettes Fliegengang. Hatte ein erfolgreiches Schäferstündchen mit Rüsseldraußen.
Es war ein Tag wie die meisten anderen Tage hier auch. Es dämmerte, und der Horizont im Osten verfärbte sich grünlich. Die große gelbe Sonne tauchte zuerst über den Horizont. Zehn Minuten später die zwei kleinen, leicht bläulichen Sonnen, die ein Paar waren. Eine leichte Brise versetzte das hohe, rosarote Gras in leichte, wellenförmige Bewegungen, jenseits der Wiese rauschten die rotviolettfarbenen Bäume ganz leise. Der Tag begann ganz sanft und ruhig – ja, bis auf einmal lautes Geschrei aus dem kleinen runden Haus zwischen den großen, alten Bäumen ertönte: “Heh, dieser verdammte Wecker ist stehen geblieben! Los! – Ruf’ sofort die Zeitansage an! – Hast gestern vergessen, den Wecker aufzuziehen, mal wieder klar! Heute ist doch Einschulungsfest für Yaa! Und Bukscho muss doch dringend fürs Plutoniumdiplom büffeln, das er in einem Jahr ablegen muss!“ Bukschella schimpfte laut.
Wacko Blatscho seufzte. Als Familienoberhaupt machte man was mit! Wenigstens war er gestern Abend – nach der Sitzung des Terraform – Ausschusses für den äußeren Nachbarplaneten Plutschiko – noch im Supermarkt einkaufen gewesen: Zwei Liter angereicherte Milch, ein Laib angereichertes Brot, Äpfel und Tomaten, angereicherte Wurst, Käse und Butter für die Kinder, die ja das ``Plutonium – Diplom´´ noch nicht hatten – und ein Kilo Plutonium für sich und seine Frau Bukschella.
Laut Zeitansage war es schon kurz nach neun. Wacko seufzte, zog mit einem Gedankengang den Wecker auf. Die Zeiger verstellten sich wie von Geisteshand in die richtige Position. Bukscho hätte schon seit acht Uhr in der Schule sein müssen, Yaa’s Einschulungstermin war erst um elf. Und da Bukscho heute keine Kernphysik und keine Mathematik auf dem Stundenplan hatte – sondern nur Sprachlehre, Geschichte und Megaturnen, war das Ganze nicht so schlimm. Wacko dachte sich ein Entschuldigungsschreiben für Bukscho aus, das darauf einfach auf einem leeren Blatt Papier entstand. Das bekäme dann Frau Lange, seine Klassenlehrerin, wenn sie dann alle zusammen kurz nach zehn Uhr los fliegen würden zu Yaa’s Einschulungstermin.
Yaa hatte schon seit Tagen ihre Schulmappe fix und fertig gehabt, anbei ein kleines Notfallhandy und ein winziges Fliegenhaus, das an einer kurzen Schnur an der Schulmappe herunterbaumelte. Das kleine Handy hing um Yaa’s Hals, es wurde mit einer Atombatterie betrieben, klein wie ein Streichholzkopf und zehn Jahre haltbar – mindestens. Das kleine Mobiltelefon enthielt neben zwei von den Eltern eingegebenen Rufnummern, die der Eltern und des Schulsuchdienstes für vermisste Kinder noch die rote Taste der fest installierten Nummer für den so genannten Plutoniumnotruf. Er hatte die 94 und diente auch bei Feuer, Überfall, Unfall oder anderen gefahrvollen Notfällen. Aber hauptsächlich, wenn einem mitten im Fluge das Plutonium ausging, weil man nicht rechtzeitig vorgesorgt hatte, und weit und breit nur die Wildnis war. Drei Satelliten in Zusammenarbeit stellten dann die Koordinaten des betreffenden Handys fest und übermittelten diese automatisch an die nächste Notrufzentrale, die dann sofort jemanden losschickten mit genug Plutonium dabei – und einer Ermahnung, in Zukunft besser aufzupassen!
Das kleine Fliegenhaus war nicht größer als Yaa’s geballte vierfingrige Faust, und ein kleines, kunstvolles Gebilde aus Glas und Metall. Halb wie ein winziger Vogelkäfig, halb wie ein winziges Haus, und wie viele der Häuser hier in der Gegend auch nach oben hin kuppelförmig rund.
Es diente den Hausfliegen, wenn sie Yaa mal dereinst mit zur Schule begleiten würden, als Unterschlupf, falls sie mal keine Lust zum Umherfliegen hätten, oder schlechtes Wetter käme, und Yaa in ihren jungen Jahren mit ihren Gedanken mal woanders wäre – und einen Schutzschirm gegen Regen um sich herum vergessen würde!
Jedenfalls hatte die ganze Familie, inklusive der dort anwesenden zahmen Stubenfliegen, nun genug Zeit für ein ausgiebiges Frühstück: Angereichertes Brot nebst angereicherter Butter, angereichertem Käse, Wurst oder Marmelade. Und natürlich: Angereichertes Fliegenfutter für die Hausfliegen, pardon! – Was „angereicherte Nahrung“ ist? – Ja, wie angereichertes Uran, sozusagen, - und sogar wortwörtlich zu nehmen! Extra für all die Schüler hergestellt, die noch nicht das Plutoniumdiplom hatten – aber doch so weit bis zu ihrer Schule fliegen mussten! Gewöhnliches Brot tat’s da nicht. Man reicherte es also schon fabrikmäßig mit ein paar Milligramm reinem Uran oder Plutonium an – was auch für Kleinkinder erlaubt war. Trempokolo – ihre Heimatwelt – war an vielen Stellen nur dünn besiedelt, und ein Flugweg zur Schule von 500 Kilometer oder mehr (!) waren da keineswegs selten! Internate andererseits aber unüblich, die Kinder, zumal die kleinen, sollten daheim in ihrer Familie weilen. So wurde also eben geflogen. Pro hundert Kilometer etwa zwei Minuten. Natürlich nur mit gehaltvoller, sprich, angereicherter Nahrung möglich!
Für die Erwachsenen und alle, die erfolgreich das Plutoniumdiplom bestanden hatten, nach durchschnittlich vier Semester Kernphysik in der Schule, war dies eh kein Thema. Plutonium und gutes Uran gab’s ja überall. Wo es halt so Lebensmittel zu kaufen gab: In Supermärkten und in Kaufhäusern, in Gaststätten sowieso, auch in Apotheken und Drogerien, und sogar in Reisebüros. Selbstverständlich auch in den großen, Strom erzeugenden Kernkraftwerken des Planeten – und in sämtlichen Plutonium- und Atomfabriken sowieso. Die nächste war aber mehr als 1300 Kilometer Luftlinie weit weg! Der Supermarkt aber nur 504 Kilometer – an der anderen Seite jenes kleinen Ortes gelegen, zu dem auch die Schule gehörte – vom Haus der Blatschos aus gesehen.
Als alle fertig gegessen hatten, hob die ganze Familie ab: Ein Gedanke genügte dazu schon. Weitere Hilfsmittel dazu, wie Teppiche, Reisigbesen, große geflügelte Reittiere oder gar Flugzeuge waren dafür unnötig. Ein Energiefeld, das man während des Fluges produzierte, reichte völlig. Mit dem gleichen Energiefeld konnten die Trempokolonen auch berührungslos Dinge bewegen oder verändern. Diese psychokinetische Fähigkeit war ihnen angeboren. Ob der Einzelne aber lediglich einen kleinen Kiesel, oder einen gewaltigen Berg auf diese Weise zu bewegen vermochte, hing nicht von seinem Können ab, und war auch keine Frage der Anspannung oder der Konzentration – sondern nur der Energie geschuldet, die der Betreffende vor diesem Akt zu sich genommen hatte, um damit sein Energiefeld aufzubauen. Es ging mit allem, was Energie enthielt: Sahnetorte oder Stroh, Kartoffeln oder Kohle, sowohl mit Karpfen als auch mit Kerosin, mit Döner wie mit Diesel, mit Heringen wie mit Holz – oder mit Pizza und mit Plutonium! Aber dies war, außer dem Letzteren, nur bescheiden, und zum Teil nicht besonders schmackhaft. Uran und Plutonium, in der üblichen metallischen Kugelform, roch und schmeckte wie eine Stahlkugel oder Glasmurmel: Nach nichts. Vom schönen Kitzeln seiner intensiven Strahlung mal abgesehen. Doch als Energieträger mehr als eine Millionen Mal so stark wie jedes andere Nahrungsmittel auf Trempokolo!
Die Familie hatte genügend Zeit, so flogen sie ganz gemütlich und ohne jegliche Hektik zu besagter Schule am Rande des kleinen Städtchens namens Plinotumu. Auf ihrer langen Strecke überflogen sie das hohe, schroffe Zackenfelsgebirge, das vom Teufelsfluss durchzogen wurde, ein wild brausendes Gewässer. Wehe dem, der hier hinein fiel, weil ihm jegliche Energie ausgegangen war, vor allem in Höhe der berüchtigten Teufelsschlucht, über die die vier – nebst 25 Hausfliegen im Schlepptau – hinweg flogen. Sanft bewaldete Hügel folgten nun, und in der Ferne, im Tal, lag der verträumte Ort Plinotumu. Und vorn war auch schon die Schule sichtbar!
Die Schüler hatten wohl gerade Pause. Es sah aus, als würde ein Schwarm sehr, sehr seltsamer grüner Vögel über der Schule kreisen – obgleich beim näheren Hinsehen davon nicht viel Ähnlichkeit blieb: Der Trempokolone mochte einem Erdenmenschen im Durchschnitt nur bis zur Schulter reichen und war meist mager, jedenfalls bis vor der Atomära. Seine Haut war hellgrün mit dunkelgrünen kleineren und größeren Flecken. Er hatte zwei Beine und zwei Arme wie ein Mensch, die Füße aber nur zwei Zehen und nur je vier Finger an einer Hand: Drei Finger und der Daumen.
Am Kopf waren die großen, oben zweigeteilten Ohren weit oben angebracht, und die extrem lange Nase in der Gesichtsmitte lief in zwei separate Enden aus, je ein Loch in jedem Ende, und einzeln voll beweglich, fast so wie die Finger. Fürwahr ein skurriler Anblick, wenn auch nicht vogelähnlich. Flügel hatten sie keine, dafür in der Steißbeingegend einen Stummelschwanz. Haare besaßen sie nicht, selbst ihre Augenbrauen über den großen, ausdrucksstarken gelbgrünen Augen waren nur dicke, bewegliche Hautwülste. Dafür gab es einen dunkelgrünen Zackenkamm um den Hals.
Genitalien und Brüste gab es ebenfalls nicht. Wurde Sex gewünscht, konnten sich die betreffenden Personen mal so auf die Schnelle Genitalien wachsen lassen, eine Minutensache, die hernach wieder verschwanden. Wobei die Art des Genitales auch nicht geschlechtsspezifisch war. Oft schliefen die Trempokolonen auch nicht miteinander, sondern lieber mit einem speziellen, dafür extra konstruierten Atomreaktor, der dafür ein passendes Loch in der Mitte hatte. Da alle Trempokolonen Radioaktivität wahrnehmen konnten in Form eines sehr lustvollen Kitzelns und Prickelns quer durch den ganzen Körper hindurch, war dies natürlich eine gute Alternative, und auch für die Privatsphäre des Betreffenden, wenn der sonst keinen Wunsch hatte, eine Partnerschaft einzugehen.
Die Familie setzte vor dem großen Tor des Hauptgebäudes zur Landung an. In dem Schulbüro zur Rechten wurden die Anmeldeformalitäten für Yaa erledigt. Die Einschulungsfeier würde in knapp einer halben Stunde in der großen Aula geradeaus stattfinden.
Herr Blatscho fragte noch nach Frau Lange, Bukschos Klassenlehrerin. Ob sie im Lehrerzimmer sei? – Nein, Pausenaufsicht. Werd’ sie mal rufen lassen.
Der Rektor, der vorn über dem erhöhten Podest schwebte, bat alle Leute, sich zu setzen und begrüßte sie anschließend. Aber kaum war ein bisschen Ruhe eingekehrt, und alles saß – sogar auf richtigen Stühlen, und nicht bloß so in der Luft – ging der Tumult erst richtig los! Der Rektor hatte gerade das erste Blatt für seine Rede genommen und das Mikrofon etwas nachjustiert, da gab es weiter hinten in der großen Aula ein lautes Geschrei! Ein Getümmel von mehreren Schülern und einer großen Fliegentraube bahnte sich da an. „Ja, um Plutoniums Willen, was ist denn da hinten los?!“ rief er laut in sein Mikro. Keine Wirkung. Er aktivierte den an der Vorderseite seines Katheders angebrachten Gammastrahler: Drei derbe, harte Strahlenstöße quer durch die große Halle, auf den Tumult gerichtet. Endlich! Dashalf! Laut schimpfend flog der Rektor – mit ungefähr dem Tempo eines Düsenjets! – nach hinten, um nach dem Rechten zu sehen.
Kullo Kackscha schrie aus Leibeskräften und wedelte wild mit beiden Händen in der Luft herum. Ein ganzer, wütender Fliegenschwarm griff ihn an, wieder und wieder! Nein – nicht ihn! – Sondern seine zahme Vogelspinne in ihrem kleinen Käfig, der schon ganz demoliert war! Die Spinne, mehr als zehnmal so groß als selbst die größte anwesende Fliege, versuchte sich in einer Ecke ihres verbeulten Käfigs zu verkriechen und zitterte vor Angst.
„Heh, ruft mal Eure Fliegen zur Ordnung!“ schimpfte da der Rektor. „Die Spinne hat niemandem was getan, und wir sind doch hier nicht beim Raubüberfall in einem gruseligen Krimi!“
Nun, wie bändigte man wild gewordene Fliegen, wenn diese gerade beim Anblick ihres natürlichen Feindes einen Tobsuchtsanfall bekommen hatten? – Nun, Yaa hatte immer für ihre Lieblinge ein Döschen Erdbeermarmelade dabei, andere Schüler und deren Eltern auch Schokoladencreme oder neues, schmackhaftes Fliegenfutter mit Fischaroma! Dafür ließen die Fliegen – zumindest für den Moment – jede Spinne links liegen.
So kehrte erst einmal wieder Ordnung ein. Den Fliegen wurden von den jeweiligen Schülern oder deren Eltern die Leviten gelesen. Auch Yaa schimpfte per Fingersprache mit ihren Fliegen, vor allem der Anführerin des ihrigen Fliegenclans, eine große, grün schillernde Fliege mit ziegelroten Augen, ein stattlicher Brummer von über zwei Zentimeter Größe. Sie war die intelligenteste Fliege der ganzen Clique und konnte am besten sprechen. Sie hörte auf den Namen ``Rüsseldraußen´´. Rüsseldraußen hatte Yaa sie deshalb genannt, weil sie besonders verfressen war und einen großen, sehr langen Saugrüssel hatte, der bei ihr immer draußen war, um flugs in der Erdbeermarmelade oder in anderem Naschwerk zu verschwinden. Sie war die einzige in ihrem Fliegenclan, die ihn sogar als „Waffe“ benutzte: Wenn Rüsseldraußen sich besonders stark fühlte, vollgefressen mit plutoniumhaltigen Fliegenfutter, ja – dann haute sie ihren langen Rüssel ihren ehemaligen Fressfeinden, wie Spinnen zum Beispiel, schon mal rechts und links um die Ohren! Was Yaa bezeugen kann – dabei haben doch Spinnen keine Ohren! Zumindest im menschlichen Sinne nicht, auch wenn diese „Menschen“ grün gefleckt waren. . .
Die Hausfliegen waren auf Trempokolo so etwas wie kleine, geflügelte Familienmitglieder, und rangierten hier weit vor Hunden, Katzen, Meerschweinchen oder auch Pferden. (Von Spinnen mal ganz zu schweigen!) Anders als auf der Erde waren die hier Einheimischen weit davon entfernt, in den Hausfliegen bloß lästiges Ungeziefer zu sehen, das man aus Leibeskräften mit allen möglichen Gemeinheiten bekämpfen musste wie Fliegenspray, Giftköder oder Leimfallen mit süßem Honigduft. . .
Hier, auf Trempokolo, wurden die Fliegen gehegt und gepflegt und von den Hausbewohnern verwöhnt. Sie bekamen sogar extra Fliegenfutter, und die raffinierteren von den Fliegen versorgten sich auch schon mal gern in der nächsten Plutoniumfabrik selbstständig mit Atomfliegenfutter. In den Atomfabriken wusste man das. Dort gab es stets ein kleines Fliegenfenster in der Wand, wo die Fliegen nach Herzenslust ein- und ausfliegen durften, um sich selbst mit der leckeren Plutoniumzutat zu versorgen. Dienst am Kunden halt, und die Fliegen machten davon auch reichlich Gebrauch. . .
Anschließend streiften sie oft in der Gegend herum und machten die umliegenden Parks, Wälder und Wiesen unsicher, ehe sie zu ihren Häusern zurückflogen. Es gab dort regelrechte Fliegengangs, in jedem Haus, in dem Fliegen gehalten wurden, bildete normalerweise eine solche. Und jede Gang hatte eine Anführerfliege, das war die größte, stärkste und klügste Fliege. Das Geschlecht war dabei egal. Die Fliegengang des Hauses Blatscho, besser Yaa’s Gang, weil die Fliegen öfter mit ihr als den anderen zusammen waren und sie nun auch oft zur Schule begleiten würden, bestand derzeit aus 25 Fliegen.
Neben der Anführerfliege ´´Rüsseldraußen`` waren die anderen Fliegen, nur halb so groß, schon direkt klein zu nennen. Da gab es die golden schillernde Pullipulli, Eulalia war stahlblau, und Plutonia glänzte wie poliertes Silber. ´´Bissgurke`` hieß nicht umsonst so. Sie war schwarzgrau und ging besonders gern an Verletzungen, was unangenehm zwickte. Und sie war auch die Unbelehrbarste von allen, musste am meisten von Yaa – wie auch von Rüsseldraußen – ermahnt und zurechtgewiesen werden, etwas störrisch halt, was bei Fliegen aber durchaus des Öfteren vorkam. „Schlabberliesel“ war eine reinweiße Albinofliege mit Augen, so schön wie Rubine. Sie trug ihren Namen zu Recht, weil sie so verfressen war. Kein Erdbeermarmeladentopf war vor ihr sicher, keine Honigstulle, keine Sahnetorte. Auf Plutonium stand sie aber – seltsamerweise – nicht so sehr, was für eine Fliege ja nicht ungefährlich war: Wie sollte sie sich – so nackt und ohne – ihrer übermächtigen Fressfeinde im Notfalle erwehren?
Die schnellste Fliege war braun gefleckt und hieß „Wiesel“. Schnell wie ein Wiesel halt. So gab es noch verschiedene andere Fliegen, bis herunter zur Kleinsten, die den zärtlichen Kosenamen „Tierchen“ oder auch bloß „Tierle“ von Yaa erhalten hatte.
Jede einzelne Fliege hörte auf ihren Namen. Alle miteinander waren intelligent genug, die Fingerfliegensprache der Zweibeiner zu sprechen, also zu verstehen und zu erwidern. Rüsseldraußen, der Boss des Clans, obgleich ein Weibchen, war darin natürlich am gewitztesten. Sie konnte mit den anderen Fliegen – und auch den Grüngefleckten natürlich – Witze austauschen und sogar flunkern, was aber bei Fliegen auch nicht so sehr selten vorkam. . . . Die Fingersprache erwiderten die Fliegen mit ihren Beinchen, manche Ausdrücke auch mit Haltung und Stellung ihrer Flügel. Sie konnten auch die Lippenbewegungen der Trempokolonen ablesen, wenn diese deutlich genug erfolgten. Über den Schall war dies unmöglich, da die Fliegen nur Ultraschall wahrnehmen konnten. Den aber konnten unsere Alienfreunde mit normalem, untrainiertem Gehör nur teilweise hören. Mit einer intensiven Gehörschulung ging das zwar ganz gut, Fliegen konnten dennoch nicht sprechen, da sie keine Stimmbänder besaßen. Bei Gefahr stießen sie lediglich leise Warnpfiffe aus.
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